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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 317

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

25. November 2019

HEUTE: 1. „Hass-Triptychon. Wege aus der Krise“ – Gorki Theater / 2. „Im Labyrinth der Bücher“ – Friedrichstadt-Palast / 3. Tipp: „Erinnerungen an einen Staat“. Lesung mit Corinna Harfouch und Alexander Scheer – Deutsches Theater / 4. Neu im Kino: „Lara“ von Jan-Ole Gerster mit Corinna Harfouch

1. Maxim Gorki Theater: - Wann ist das Leben endlich um?

"Hass-Triptychon – Wege aus der Krise" © Judith Buss

Hoppla, da hocken im Parkett lässig verstreut ein paar Totengerippe auf den Sitzen. Huch, kleiner Schreck: klar, die sind aus Plastik. Trotzdem ein bisschen unheimlich und – ja schon!‑ ernst. Aber auch komisch. Lachhaft will man nicht sagen, schon gar nicht lustig. Doch irritierend ist der Gag allemal, den der fantastisch verspielte, dabei klar denkende Regisseur Ersan Mondtag seiner Inszenierung von Sibylle Bergs „Hass-Triptychon – Wege aus der Krise“ voranstellt.

 

Ein Scherz, der den für sieben Figuren monologisch strukturierten Dreiteiler gleich vorab auf den Punkt bringt: Es geht um nichts weniger als ums Leben. Also ums Überleben mit seinen tausend Ängsten vorm Abstürzen, vorm elend und unglücklich und von allem ‑ besonders von sich selbst ‑ entfremdet sein. Sowie keinen Sinn zu finden außer der einzigen Gewissheit: eben dem Tod. Davon ist, sämtliche Daseinsbereiche streifend, die Rede (Sex, Liebe, Arbeit, Familie, Freizeit, Wohnen etc.). Und zwar in gallig ätzendem Sarkasmus, gelegentlich auch mit verbitterter Melancholie. – „Für mich war das Leben wie der Sex nie war: hart und gefährlich. Manchmal denke ich, die Welt gibt es nur, um mich zu vergessen. Wann hört das auf, dass einem die Augen tränen vor Traurigkeit? Wann ist das Leben endlich um?“

 

Schon schlimm, alles. Voller Wehschmerz und Todernst. Doch die ob ihrer cool unkorrekten, also präzis und tief ins Schwarze treffenden Weltsicht verehrte Autorin, preisgekrönt und gefeiert als böse Hexe des alltäglichen Grauens mit hinterrücks gutem Hang zur mehr oder weniger fein versteckten Trotzallem-Menschenliebe, unsere Sibylle Berg glasiert ihr „Altarbild des Lebens“ raffiniert mit schlagendem Witz und sardonischem Gelächter; dazu reichlich Liedgesang auf entfernt Brechtsche Art; Kompositionen: Beni Brachtel.

 

Teil eins spielt sonntags. Da haben sie genug Zeit, die schwer aus ihrer Bahn an den Rand des Abgrunds geworfenen Leute unterschiedlichster Art, behaust in einer von Nina Peller gebauten allerwestweltlich ruinösen Pappkulissen-Stadt, über ihr dummes ödes Dasein zu referieren: Etwa ein schwuler Ex-Kindergärtner mit ausgestopftem Kater als Gefährten, eine Kunstwissenschaftlerin und Teilzeitalkoholikerin, ein Mann in den besten Jahren, der tagtäglich „Content für die Wasserwerke“ produziert, eine überforderte Mutter mit regelmäßig kotzendem Kind sowie diverse Jugendliche auf routinierter Gewalt-Tour…

 

Klingt nach Unterschichten-Bashing. Alsbald aber kapieren wir: Das einst bildungsbürgerliche Personal entspricht uns, dem Mittelwert des lust- und hilflos suchenden „homo europaeicus“. Wir, der weggebrochene Mittelstand, die stumme Mehrheit ist gemeint, die da im Gorki gemütlich grinsend sitzt zwischen den Gerippen und sich schwer tut mit dem Nachweis eines nützlichen Mitglieds der Gesellschaft.

 

Teil zwei erzählt aus der neoliberalen, schönen digitalen Arbeitswelt, in der nur noch Maschinen kommunizieren und viele von den alltäglichen Demütigungen und Evaluierungen Darmkrebs kriegen. „Klar, wir haben die Freiheit, mehr Geld zu fordern – eigentlich.“ Trotzdem: „Der Mensch soll beschäftigt werden, bevor er denkt, was er eigentlich soll auf Erden.“

 

Doch dazu ist es längst zu spät, erfahren wir im dritten Teil der apokalyptischen Farce. Deren „total uninteressantes“ Personal (was es wiederum so interessant macht) besteht nämlich nicht aus „echten“ Menschen. Sondern, gewiefter Schachzug und passend zum Grotesken: Es sind Trolle mit angeklebt spitzen Schweineohren ‑ super trollig: Johannes Meier, Bruno Cathomas, Jonas Grunder-Culemann, Abak Safaei-Rad, Aram Tafreshian, Cigdem Teke.

 

Und dieser „Haufen Fleisch, der leben will“, kommt nach allem zu dem fatalen Schluss: Die Zumutungen des feindlichen Lebens machten wütend; nur im Hass, der „neuen Leidenschaft“, spüre sich der geschundene Wutbürger und finde zurück zum Profil. Und so beten sie zu Gott um Knarren für die ersehnte Befreiung durch Orgien der Gewalt. ‑ „In der Mittagspause mal schnell einen abknallen.“ Totsein aber macht auch nicht froh.

 

Dass es trotzdem allerhand Spaß gibt, verdankt die Show – und das ist ihr Clou! ‑ dem Entertainer Benny Claessens: Eine pralle Rampensau als aashafter Krisentherapeut und Gegenhasser, der erst engelsgleich ganz in weiß, dann bis aufs Höschen nackt mit Glitzercreme wie eine Discokugel den entnervten Schweineohren-Chor dirigiert. – Grelle Kapitalismuskritik zum Totlachen? Ja! Doch der ewige Ernst der Lage und des Lebens sitzt zwar stumm, doch beredt unter uns.

 

(wieder 1. Dezember 18 Uhr; 6., 17.  Dezember 19.30 Uhr)

 

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2. Friedrichstadt-Palast: - Moskitos, Maikäfer, Bücherwürmer

"Im Labyrinth der Bücher" © Nady El-Tounsy

Auf einem Schulhof, die Mauern der Lehranstalt kreativ verunziert mit bunten Schmierereien, schnattern ein paar aufgetakelte Turnschuh-Gören mit festgewachsenem Smartphone an den Händen und lästern voll ab über Brillenschlange Lea, die gern in Büchern schmökert. Die dauertwitternden Zicken finden das total uncool. Bücherlesen – bescheuert! Passt nicht zu uns! Soviel zum pädagogischen Vorspiel der neuen „größten, aufwändigsten, weltweit einmaligen“ so genannten „Young Show“ des Palastes „Im Labyrinth der Bücher“.

 

Es geht natürlich, nicht ganz ohne Zeigefinger, um eine freilich wahnsinnig fantastische Auseinandersetzung der digitalen Kids mit dem vermeintlich gänzlich unzeitgemäßen analogen Urzeit-Medium Buch.

 

Verpackt wird der freilich geschickt und tief im Hintergrund versteckte Diskurs in eine Fantasie-Tour, die vollgestopft ist mit so gut wie allem, was das zirzensisch-märchenhafte Überwältigungstheater hergibt – also die Monumentaltechnik des Palastes, seine unglaublich leistungsfähige Kostümwerkstatt sowie die immer wieder aufs neue frappierenden Einfälle der Regisseurin Andreana Clemenz, des Bühnenbildners Jan Wünsche, der Kostümdesigners José Luna und gleich einer Handvoll Choreographen. Die Idee vom Ganzen stammt von Palast-Chef Berndt Schmidt (Buch: Stefanie Froer).

 

Auf Tour geschickt durchs Märchen-Abenteuer-Bücher-Wunderland werden Lea mit der großen klugen Brille samt Freundinnen Jule, Mayla (aus Syrien stammend, ideal integriert), Appelina und Freund Ben. Dabei kämpfen sie sich auf natürlich höchst spektakuläre Art durch vier klassische Wälzer der einschlägigen Literatur und kontaktieren auf gleichfalls höchst unterschiedliche, nicht durchweg ungefährliche Weise deren Helden Robin Hood, Robinson Crusoe, die drei Musketiere sowie – nach lebenserhaltender Antigift-Aufklärung durch eine türkischstämmige Apfeltee-Fee – auf Heldin Schneewittchen.

 

Nun zum speziell Einzigartigen dieses so verdienstvollen Unternehmens: Kein einziger Erwachsener kommt da auf die Riesenbreitwandbühne (immerhin die größte der Welt). Sondern in zwei Besetzungen sage und schreibe 280 Darsteller, Kinder und Jugendliche aus 22 Ländern, alle viele Monate vorab in Berlin gecastet und fleißig trainiert (zum Stolz der Eltern – immerhin lernen da alle unglaublich viel fürs Leben). Und in jeder Vorstellung wirbeln nun 120 Gören (darunter auch Akrobaten der Staatlichen Ballettschule und Schule für Artistik) aus allen Ecken und sogar von hoch oben in der Luft in den Saal und über die High-Tech-Bühne. Allotria und innehaltende, ja stille Momente im Wechsel.

 

Also alles in allem ein raffiniert und mit sehr viel Liebe, Witz und Charme, Fantasie und Poesie gefüllte Riesenkiste, dazu Video (Chris Moylan), jede Menge Musik und Gesang; sechs Komponisten listet der Programmzettel. Und alles natürlich ein gigantischer Augenschmaus. ‑ Wenn da in einer Szene ein reichlich Halbhundert entzückend ausstaffierte Moskitos (im Vorschulalter) losbrummen (in einer anderen Szene summen Marienkäfer), dann ist das überhaupt nicht kitschig. Hier nämlich ist gar nichts kitschig oder peinlich sentimental, sondern romantisch gefühlvoll und prachtvoll ausstaffiert. So jubelt denn der stets rappelvolle Saal. Und manch einer (von uns älteren) drückt gar eine Träne der Rührung beiseite. Wie schön. Wie herzbewegend.

 

(Bis zum 31. Januar. Für Kinder ab 9,80 Euro, Erwachsene ab 19, 80 Euro. Schulklassenpreise auf Anfrage: youngshow@palast.berlin . Prima für Adventskalender oder Weihnachtsteller.)

 

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3. Deutsches Theater-Tipp: - Dreibuchstabenland, was war das?

Corinna Harfouch ©  Martin Kraft (photo.martinkraft.com) License: CC BY-SA 3.0
Corinna Harfouch © Martin Kraft (photo.martinkraft.com) License: CC BY-SA 3.0

Höchst spannend für den deutsch-deutschen (oder Berlin-Berlin-)Dialog: Eine „musikalische Lesung“ einschlägiger Texte unter dem alles sagenden Motto „Erinnerungen an einen Staat“; gemeint ist selbstredend die DDR. Mit Corinna Harfouch und Alexander Scheer, der die so bewegende wie beklemmende Hauptrolle des von Idealen und Realitäten gemarterten DDR-Liedermachers in Andreas Dresens Film „Gundermann“ spielt. Also wird Scheer diesen wohl wehen und sarkastischen Abend mit der Gitarre und mit Gundermann-Gesängen poetisch kontrapunktieren. Ein absehbar groß- und einzigartiges Erlebnis; gedankenreich, bedenkenswert.

 

„Erinnerungen an einen Staat“. Musikalische Lesung mit Corinna Harfouch und Alexander Scheer. Zu sehen am 3. Dezember 2019 20.00 Uhr im Deutschen Theater.

 

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4. Kino-Tipp: - Oh Lara!

"Lara", Film von Jan-Ole Gerster © Studiocanal

Zu Harfouch live passt Harfouch auf der Leinewand. Nämlich im zweiten, nach „Oh Boy“ (mit Tom Schilling) seit langem erwarteten Kinofilm „Lara“ von Jan-Ole Gerster; Corinna Harfouch in der Titelrolle, daneben wieder: Tom Schilling.

 

Wir beobachten den Tag, an dem die ehemalige Berliner Verwaltungsangestellte Lara Jenkins (Harfouch) ihren 60. Geburtstag erlebt – um nicht das Wort „feiert“ zu verwenden. Die Pensionärin ist einsam, verbittert, empfindet ihr Leben als gescheitert, besonders hinsichtlich der Beziehung zu ihrem Sohn (Schilling), einem Pianisten, der just an diesem Tag sein großes Konzert und sein Debüt als Komponist hat. Lara selbst brach frühzeitig eine Karriere als Konzertpianistin ab aus Furcht, nicht genug Talent zu haben.

 

Der Film (insgeheim auch ein Berlin-Film) umspielt ein Familiendrama, ein Mutter-Sohn Drama, ein Lehrer-Schüler-Drama, ein Künstlerdrama. Und er zeichnet mit sparsamen Mitteln ein subtiles Porträt eines schwierigen, auch unsympathischen, zugleich faszinierenden Charakters. Die große Harfouch über ihre Lara Jenkins im Interview: „Unter all ihrem vermeintlich niederträchtigen, widersprüchlichen und manipulativen Handeln entblättert sich im Fortlauf der Geschichte ein großer Schmerz – das Drama eines falsch gelebten Lebens.“

 

Dieses unaufgeregte, geradezu nüchterne, lakonisch-sarkastisch intonierte Kammerspiel, getaucht in wehmütig herbstliche Farben, ist bravourös besetzt bis in kleinste Rollen – vor allem aus dem heutigen und einstigen DT-Ensemble wie Kathleen Morgeneyer, Alexander Khuon, Volkmar Kleinert, Gudrun Ritter (endlich einmal wieder: Gudrun Ritter!). Daneben ganz still und zerknittert und leider nicht am DT: André Jung.

 

Nebenbei bemerkt: Dieser stille, dabei so intensive, erregende Film zeigt auch, was für ein Fundus an wunderbaren älteren Schauspielern, alle lebensweise Könner ihres Fachs, hier hellwach lebt. Er bleibt viel zu oft ungenutzt von Kino- und TV-Produktionen; auch, weil die entsprechenden Drehbücher fehlen oder gar nicht erwünscht sind von den „auf Jugend“ fokussierten Produzenten.

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