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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 306

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

9. September 2019

HEUTE: 1. Wieder zurück aus der Sommerpause mit Goethe & Friedenthal / 2. „Felix Krull. Stunde der Hochstapler“ – Berliner Ensemble / 3. Jubiläum: 25 Jahre Familie Flöz – Komödie am Kurfürstendamm im Schiller Theater

1. Der Geheimrat und sein Dilettantenstadel


Immerhin, er war schon Anfang 40 und hatte große Werke hinter sich: „Werther“, „Götz“, „Egmont“, „Iphigenie“, „Tasso“, die „Römischen Elegien“, die Anfänge vom „Faust“ sowie allerhand Farcen und Fastnachtspiele; sogar den Zwischenkieferknochen hatte er bereits entdeckt. Da erst berief der Weimarer Herzog seinen Geheimen Rat von Goethe auch noch zum Chef des Hoftheaters. Dort plante er Großes, freilich für kleines Publikum mit kleinen Schauspielern und wenig Wirkung. Spitze Zungen lästerten schnurstracks „Hofdilettantentheater“, das über monoton pathetische Deklamation nicht hinauskäme.

 

Bei Amtsantritt immerhin annoncierte Herr Goethe strenges Reglement. Von seinen Schauspielern verlangte er gutes Benehmen, auch privat; und im künstlerischen „idealen Anstand“. Der Spieler soll „bei leidenschaftlichen Szenen nicht kunstlos hin und wider stürmen, sondern das Schöne zum Bedeutenden gesellen. Die Finger müssen teils halb gebogen, teils gerade, aber nur nicht gezwungen gehalten werden. Die beiden mittleren Finger sollen immer zusammenbleiben, der Daumen, Zeige- und kleiner Finger etwas gebogen hängen…“ Auch müsse der Oberarm immer an den Leib anschließen; Dialekt sei zu meiden, Aussprache habe deutlich zu sein, „mit kleinen Pausen an jedem Versanfang“. Darüber hinaus gibt es genaue Anweisung über die Handhabung von Spazierstock oder Schnupftuch.

 

Klar, der Chef will Versdramen, will klassisches Theater, was den Schauspielern ungewohnt, ja verhasst ist. Allein schon das Einüben der Verse mit auf- und abgeschwenkten Armen oder mit dem Taktstock! Als Regisseur war er ziemlich brutal, unziemliches Verhalten im Publikum verbat er sich („Man lache nicht!“). Und das praktikable Zurechtrücken seiner überlangen Stücke überließ er dem Kollegen Schiller; dramaturgische Klein- und Fließarbeit war seine Sache gar nicht. Er war nicht wirklich ein Theatermann, ihm fehlte es an Hingabe, ja Besessenheit. Karl August, der aristokratische Finanzier, verlangte Possen, also gab man ungeniert reichlich Possen, um die Bude voll zu kriegen. Daneben ein bisschen Welttheater mit Shakespeare, Calderón, auch Schiller. Alsbald jedoch war Goethe der Sache überdrüssig. Nach fünf Jahren gab er auf.

 

Goethe als Theatermacher – keine Erfolgsgeschichte, und schon so gut wie vergessen. Erst jetzt wieder stieß ich auf des Staatsministers Dilettantenstadel, anlässlich von Goethes 270. Geburtstag just vor elf Tagen. Und zwar beim immer wieder so genuss- wie aufschlussreichen Schmökern (die liebe Spielzeitpause!) in Richard Friedenthals bedeutenden Goethe-Biografie von 1963 – ein epochales 700-Seiten-Werk bei Piper-Taschenbuch, ein „Höhepunkt abendländischer Geistesgeschichte“, so die damalige Kritik.

 

Bei dieser Gelegenheit noch ein Hinweis auf einen gewiss kaum beachteten Gedenktag: Richard Friedenthal, 1896 in München geboren und 1938 in die Emigration nach London vertrieben, starb vor vierzig Jahren am 19.Oktober 1979 in Kiel. Sein „Goethe“ steht neben Biografien über da Vinci, Luther, Jan Hus oder Karl Marx. Alle bringen bewundernswert das Persönliche mit der jeweiligen Epoche in eins. Meine Verehrung. Mein Tipp: Gelegentlich Friedenthal lesen!

 

***

 

2. Berliner Ensemble: - Allotria im Zitatenbrei

Sina Martens, Marc Oliver Schulze, Jonathan Kempf © © JR Berliner Ensemble
Sina Martens, Marc Oliver Schulze, Jonathan Kempf © © JR Berliner Ensemble

Achtung, wer da jetzt im BE einen humoristisch-philosophischen Exkurs durch Thomas Manns spätes Meisterwerk „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ erwartet, liegt völlig falsch. Erst recht, wenn er sich wehmütig an die beiden bravourösen Jungschauspieler Leonard Scheicher und Felix Strobel erinnert, die – vor drei Jahren war‘s ‑ unter Führung ihres Lehrers Veit Schubert von der „Busch“-Hochschule den literarischen Klassiker über das „in einer Glückshaut geborene Sonntagskind“ samt seinen „Einfällen und Einbildungen“ übers Brettl jagten. Hinreißend gelang es den beiden, in einer umwerfend vergnüglichen Stunde ihre Lieblingsszenen aus immerhin 400 Seiten „Krull“ Revue passieren zu lassen. Tolles Kunststück, diese rasende Two-Men-Show, in der die phantastischen Zwei von einem Moment zum nächsten präzise die Rollen (und Romanfiguren) wechseln. Ein verwegener, geistreicher Spaß im Studio. Eine Sternstunde des Komödiantentums! ‑ Damals war’s. Noch unter Peymann!

 

Diesmal unter Reese ist alles anders. Diesmal wird nichts erzählt, sondern wird fleißig verquirlt: Nämlich jede Menge Thomas-Mann-Zitate. Den kunterbunten Eintopf aus köstlichen Bandwurmsätzen des Nobelpreisträgers kochte der Regisseur Alexander Eisenach zum BE-Saisonstart auf großer Bühne; die Speisekarte annonciert „Felix Krull. Stunde der Hochstapler“. Oberschlau definiert Eisenach das so genannte Krull-Prinzip als „Arbeit von Authentizitäts-Performern, um auf dem Rummelplatz des Lebens zu reussieren.“ Meint nix Neues, klingt aber zeitgeistig.

 

Eigentlich ist in der ersten Viertelstunde schon alles mitgeteilt, als der wahnsinnig tolle Schauspieler Marc Oliver Schulze (Krull) mit Teufelsgeige und Paganini-Posen ein Playback-Violinkonzert von Vivaldi mimt, derweil der gleichfalls wahnsinnig tolle Martin Rentzsch als Impressario vor Begeisterung am Herzinfarkt vorbei schrammt.

 

In den restlichen 75 Minuten köchelt der Zitatenbrei vor sich hin. Damit es nicht übertrieben langweilig am Herd wird und wenigstens ein bisschen theatralisch, kommen drei von Lena Schmid albern kostümierte, dafür rednerisch wie artistisch prima dressierte Kräfte hinzu (Constanze Becker, Jonathan Kempf, Sina Martens). Und alle machen komische Kunststückchen: In der Badewanne, am Klo-Becken, auf der Luftschaukel am Bühnensternenhimmel und mit Farbtöpfen und Pinsel, Nebelmaschine, sexuellen Parodien, klassischen Gesangseinlagen, angestrengten Anspielungen auf Brecht, Goethe, Euripides oder Youtube-Posen oder mit ein bisschen Mitmachtheater als Muntermacher fürs Publikum. Alles auf dem Vorbühnen-Brettl mit einer riesengroßen, teuflisch grinsenden Kindskopflarve am Hintergrund; das pausbäckige Monster erfand Bühnenbildner Daniel Wollenzin. ‑ Der Zauberer Tommy, der Hochstapler Felix als Clowns? Das Theater als Zirkus? Als Jukebox? Ja, sicher. Aber …

 

Die bei Slapstick-Scherzen und Blödel-Sketchen im Schnellsprech abgespulten Textfetzen umkreisen zwar irgendwie Liebe, Leben, Schönheit, Kunst, Seele, Freiheit, Spiel, Demokratie, Konservatismus, Liberalität, Lüge, Wahrheit und wer weiß was noch. Aber alles eben nur irgendwie. Das klingt gelegentlich und irgendwie aktuell (Oho, was für ein Autor!), gelegentlich auch überzeitlich wie Evergreens (Aha, das feine Mannsche Suppengrün!). – Aber all das durch die Luft Gewirbelte sagt halt nichts wirklich; bleibt Dampfwolke (arme Starschauspieler!). Wir ahnen das höhnische Grinsen der vom quirlenden Jungregisseur angeschmachteten Altherren-Köche Castorf & Pollesch.

 

(wieder 19., 26. September; 2., 3. Oktober)

 

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3. Tipp: - Sensationsgastspiel Familie Flöz im Schiller Theater

Familie Flöz - Dr Nest © Valeria Tomasulo
Familie Flöz - Dr Nest © Valeria Tomasulo

<p>Die vor einem Vierteljahrhundert gegründete, inzwischen geradezu legendäre Berliner Theatertruppe „Familie Flöz“ tourt längst durch alle Welt, war bisher in mehr als vierzig Ländern zu Gast. Das Kollektiv mit seinem unverwechselbaren Stil gilt als Wiederentdecker eines Theaters mit Masken; seit 2001 ist es in Berlin beheimatet, obgleich es hier eher selten auftritt. Umso verdienstvoller ist die Initiative des Chefs der Kudamm-Komödie, Martin Woelffer, die Kult-Company an seine Interimsspielstätte im Schiller Theater zu holen. Das durchaus sensationell zu nennende Gastspiel zum Jubiläum im nunmehr ganz großen Rahmen besteht aus den international gefeierten (und preisgekrönten) Erfolgsproduktionen <strong>„Hotel Paradiso“</strong> (die Herberge als Nussschale überm Abgrund ‑ am <strong>10., 11., 15. September</strong>) sowie <strong>„Dr. Nest“</strong> (am <strong>12., 13., 14. September</strong>).</p> <p> </p> <p><strong>„Dr. Nest“</strong> wurde vor einem Jahr in der Lichtenberger Halle Ostkreuz uraufgeführt. – Die Londoner „Times“ jubelte: „Ein Theatertriumph!“. Unser Kulturvolk-Blogger war nicht weniger begeistert. Hier die Berichterstattung von damals vor gut einem Jahr:</p> <p> </p> <p> </p> <p><strong>Ein Spiel vom Verrückten, das in uns allen steckt</strong></p> <p>Ist irgendwie irre: Da verhüllt ein Spieler sein Gesicht, seinen ganzen Kopf mit einer starren Form, sagen wir: einer Maske, nur, um damit eine besonders eindrucksvolle, lebendige Figur zu schaffen. Freilich, schon die Verhüllung muss ein prägnantes Bild von der Figur geben. Hinzu kommt das gestisch genaue Spiel des Spielers, der ja ohne Sprache auskommen muss. Er macht sein Theater mit Mitteln, die vor der Sprache liegen. Die Spieler arbeiten dabei nicht jeder für sich an ihren Figuren. Die Stücke der berühmten Truppe entstehen vielmehr kollektiv; anders kann es gar nicht sein (auch deshalb: „Familie“). In Improvisationen umkreist das Ensemble gemeinsam sein Thema, sammelt dramatisches Material, lange bevor die Masken ins Spiel kommen und schließlich Maske(n) und Spiel(er) auf einzigartig spannende Art zur großen Kunstform Maskenspiel verschmelzen. Zu einem Gesamtkunstwerk, basierend auf einer ungewöhnlichen Story, die einen spielerisch-stimmungsstarken Stilmix aus Poesie, Tragik, Komik, Groteske provoziert bei präziser Zeichnung der Figurencharaktere; gestützt durch Sound-, Licht- und Video-Effekte sowie das die vielen Spielortwechsel markant skizzierende Bühnenbild. Das alles zeigt in faszinierender Vollendung die Flöz-Produktion <strong>„Dr. Nest“</strong> (<strong>Regie/Masken: Hajo Schüler, Michael Vogel; Bühne: Rotes Pferd/Felix Nolze</strong>).</p> <p> </p> <p>Das Thema ist diesmal einigermaßen gewagt ‑ also passend für Flöz. Und zugleich ist es jeden (graduell) betreffend: Dr. Nest ist nämlich, populär gesagt, ein Irrenarzt. Er kommt als Mediziner/Therapeut in eine geschlossene Anstalt. Diverse Fallstudien werden da demonstriert (starkes Können im Spiel), ohne auch nur einen Moment lang die auf den ersten Blick so seltsam, so aberwitzig oder schrecklich leidenden Figuren vorzuführen. Dieser Doktor Nest kommt ihnen, den extrem gegensätzlichen, eigenartigen Insassen, auf einfühlsame Weise näher und näher. Ja, er entdeckt bei ihnen eine gewisse ‑ zugegeben wundersame und wunderliche ‑ Seelenverwandtschaft (wie wohl das Publikum auch).</p> <p> </p> <p>„Dr. Nest“ ist ein grandioses, schmerzliches und komisches, durchweg zartes und zärtliches Stück über Empathie ‑ selten zu sehen. Ein beglückendes Ereignis.</p> <p> </p> <p> </p> <p><strong>Wer es noch nicht weiß:</strong> Die Ursprünge von Familie Flöz liegen in der Folkwang-Hochschule Essen, der einzigen staatlichen Bildungsstätte für „Bewegungstheater“ in Deutschland. Dort fand anno 1994 die Premiere von „Über Tage“ statt. Das Stück handelte von Zechenstilllegungen, war eine Hommage an die Bergbau- und Arbeiterkultur des Ruhrgebiets – daher der Name „Flöz“ (gemeint: die Rohstoffe tragende Erdschicht). Es begann alsbald ein umfangreicher internationaler Gastspielbetrieb. 2001 ging Flöz nach Berlin; 2005 fand in Italien die erste Flöz-Akademie statt, in der bis jetzt 30 Theaterschaffende aus der ganzen Welt mit dem Flöz-Ensemble arbeiten. 2013 wurde in Weißensee das Studio Flöz eingeweiht als „Produktions- und Kreationsstätte für internationales physisches Theater“.</p>

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