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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 303

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

17. Juni 2019

HEUTE: 1. „Max und Moritz“ – Berliner Ensemble / 2. „Lulu“ – Volksbühne / 3. Fundstück: Was ist immersives Theater?

1. Berliner Ensemble: - Hampelmann-Zirkus mit Konfetti-Betrieb

Max und Moritz © JR Berliner Ensemble
Max und Moritz © JR Berliner Ensemble

Der Anfang: Ein Knall ‑ Kanone mit Konfetti, hinterher eine geschlagene Viertelstunde Slapstick mit Grimassen und Verbaldadaismus (= Kauderwelsch) der beiden Brutalo-Burschen Max und Moritz. ‑ Das Ende: Nach ihrem Sturz in Meister Bäckers Mehlkiste sowie anschließender Verarbeitung zu Knusperbroten verkrümeln sie sich ziemlich deppert von der Bühne.

 

Zwischen Ah und Oh dieser „Bösebubengeschichte für Erwachsene nach Wilhelm Busch“ ließ Regisseur Antu Romero Nunes, bekannt für seine ins Kraut schießende Fantasie, neunzig Minuten lang und länglich die Püppchen angestrengt puppenlustig tanzen: Witwe Bolte, Lehrer Lämpel, Onkel Fritz, Schneider Böck und zuletzt den Bäckermeister – alle erstklassig besetzt mit  Constanze Becker, Sascha Nathan, Tilo Nest. Und mittenmang die elastisch herum kaspernden M.M.-Bübchen Stefanie Reinsperger und Annika Meier, sekundiert von donnerndem Schlagwerk (Johannes Hofmann, Caroline Bigge). Auch Windmaschine, Wolkentücher und Lichtkegel (Bühne: Matthias Koch) haben effektvolle Einsätze. Wie das Publikum: „Jetzt alle Handys hoch und heftig geflimmert!“ Was Stimmung macht.

 

Klugerweise hat man im Programmheft die sieben Streiche der missratenen, von Victoria Behr historisch korrekt kostümierten Bengel im unschlagbar gereimten Original-Wortlaut abgedruckt ‑ lauter geflügelte Worte. Sollte man sich vorher zu Gemüte führen. Denn was da hopsasa auf der Bühne abgeht, ist nicht immer oder überhaupt nicht auf den berühmten Meister Busch zurückzuführen.

 

Der sich wohl für berühmter haltende Meister Nunes hat nämlich die überflüssige Wollust, die perfekte Vorlage unbedingt noch mit Mätzchenmacherei und Schnörkelschnickschnack theatralisch aufzudonnern. – Macht aber alles nur unverständlich.

 

Für Freunde chaotischen Tingeltangels, täppischer Clownerie, Blödelei und Trallala geht die Chose als ein tolles Fest durch. Weniger Anspruchsvolle, weniger Humorbegabte (wie ich) halten die Show für Quatsch.

 

Freilich, auch Wilhelm Busch zielte mit seinem abgründig sarkastischen, durchtrieben grotesken und nicht eben zimperlichen weil vor hemmungsloser Gewalt nur so strotzendem Splatter-Werk von 1815 nicht aufs Moralisieren oder aufs pädagogisch Wertvolle. Doch diesen frühen (ersten?!) Comic so ganz ohne auch nur irgendeinen scharfen Seitenblick aufs Heute zu inszenieren, ist dann doch bisschen wenig. Irgendeine Pointe? – Fehlanzeige! Also bloß Purzelbaum-Betrieb. Für die einen ist das begeisternd schon alles; für die anderen kaum mehr als nichts. – „Kurz, im ganzen Ort herum / Ging ein freudiges Gebrumm: / ‚Gott sei Dank! Nun ist‘s vorbei / Mit der Übeltäterei!‘“

 

***

 

2. Volksbühne: - Die Kerle mit Messer, die Mädels mit Knarre

Lulu © Julian Röder
Lulu © Julian Röder

Schon am Anfang gleich das Ende: Die Prostituierte Lulu wird ekstatisch erstochen vom Frauenmörder Jack The Ripper. So will es Regisseur Stefan Pucher mit seiner avanciert zeitgenössischen Umformung von Frank Wedekinds „Monstretragödie“ über Aufstieg und Fall der männerverschlingenden Lustmaschine Lulu.

 

Die nun ist eine bitter-böse Collage aus Melodram und Dreigroschenroman, aus Farce, Kitsch, Komik, Trash und Tragik; zusammengesetzt aus übel wuchernden Männerfantasien, aus weiblicher Selbstbestimmung, die in grauenvoller Selbstvernichtung gipfelt, sowie aus den beiden Wedekind-Dramen „Erdgeist“ und „Büchse der Pandora“. Es ist ein nun schon gut hundert Jahre altes, schauerlich zugespitzes Aufklärungsstück über sozial wie sexuell bestimmte Abhängigkeiten, über Macht- und Ohnmacht-Verhältnisse zwischen Mann und Frau sowie obendrein über bürgerliche Doppelmoral.

 

Freilich, das bizarr Provokante von 1913 ist heutzutage längst verflogen. Dennoch spiegelt die mit bürgerlichem Horror aufgeladene Geschichte allzeit Gültiges über das vertrackte Gegen- und Miteinander der Geschlechter.

 

Aber diese uralte, ewig neue Geschichte interessiert Pucher nicht. Deshalb zeigt er anfangs artig Wedekinds finale Messerstecherei, doch dann ist Schluss mit dem Alten. Jetzt folgt „Lulu“-neu von Stefan Pucher, bislang eher bekannt als Fachmann fürs Popkulturelle und Psychedelische als für Mann-Frau-Problematiken. Der will nun, segelnd auf modischer Welle, das vermeintlich vorgestrige Ding „aus der alten, von Männern für Männer gemachten Klapperkiste Theater“ (so steht‘s im Programmheft) zurechtstutzen im Geist von Me-Too und neuzeitlichem Feminismus. Er will eine Art Diskurs über nichts weniger als ein alternatives Bild von Mann und Frau.

 

Also lässt er die „Lulu“-Story beiseite (schon schlecht für Schauspieler) und füllt seine zwei Theaterstunden mit massenhaft Material aus der einschlägigen Bibliothek; beispielsweise ausführliche, von der Rampe herunter gebrüllte Zitate aus „King Kong Theorie“, einem radikal hedonistischen Manifest der französischen Punk-Feministin Virginie Despentes, aus dem Berliner Kunstszene-Porno „M“ von Anna Gien und Marlene Stark oder aus „Gespenster meines Lebens“ von Mark Fisher. Dazu effektvoll flimmernde Video-Stills, schrille, gleichfalls einschlägig konnotierte Popmusik – immerhin glamouröse Show-Acts zur Auflockerung des Vorlesungsbetriebs.

 

Zwischendurch immer mal wieder ein paar Sätze aus der Wedekind-Story, die natürlich so kaum noch nachvollziehbar wird. Ahnungslose gucken in die Röhre. Aber auch sonst. So sehr sich die Protagonisten sportiv auch abrackern, es langweilt, es nervt (Lilith Stangenberg in der Titelrolle oder Sandra Gerling als Geschwitz oder u.a. Waldemar Kobus, Andreas Leupold, Theo Trebs Jan Bluthardt in den verschiedenen Männerfiguren).

 

Da wird immerzu dozierend etwas ausgestellt, wobei man nicht immer genau weiß, wo man es im Kopf hinstellen soll. Kann man ja machen sogar in der alten Klapperkiste Theater. Doch wenn dort so gut wie überhaupt nichts mehr gespielt, sondern sich immer nur gegenseitig schrill monologisch angegangen wird (Krach als Ersatz für Intensität), kommt kein Theater zustande. Vielmehr gähnt der fette Puchersche Demonstrationsbetrieb. Der in seinem blinden Eifer – auch das noch! – das Durchexerzieren vom neuen Bild, vom neuen Beziehungsgeflecht zwischen Mann und Frau so ziemlich aus den Augen verliert. Doch warum dann der ganze Aufwand? Bleibt es doch beim althergebrachten Auge um Auge, Zahn um Zahn; modisch kostümiert, performativ aufgemischt. Nix Neues also.

 

Oder doch. Puchers innovatives Finale geht so: Lulu und Geschwitz zücken die Knarre, knallen die Männer ab und stürzen mit gezückter Waffe in der Hand als freie Radikale von der Bühne raus ins Freie zwischen die Autos auf der Rosa-Luxemburg-Straße. ‑ Erst murkst der Kerl das Weib ab, später umgekehrt. Ist das der Fortschritt? Oder Feminismus? Oder was?

 

***

 

3. Immersion: - Illusionsbildung und Subjektkonstitution – der hohe Ton der Wissenschaft

Antikes Theater (Milet, Türkei), das Publikum packen bloß mit Text, Stimme, Spiel – ist ziemlich lange her… © Renate007, CreativeCommons
Antikes Theater (Milet, Türkei), das Publikum packen bloß mit Text, Stimme, Spiel – ist ziemlich lange her… © Renate007, CreativeCommons

Immerzu wird geredet über immersives Theater. Was aber ist das eigentlich im Vergleich mit einem ansonsten ganz einfach packenden Theatererlebnis? Dieser schlichten Frage geht der Theaterwissenschaftler Nikolaus Müller-Schöll theoretisch nach, abgedruckt in der März-Ausgabe des führenden Fachmagazins „Theater heute“. ‑ Hier zur gefälligen Belehrung ein kleiner Auszug aus dem Essay, der auch irgendwie ganz gut passt zu einem Regisseur wie Stefan Pucher („Lulu“), der wie viele andere die aktuell angesagten Theaterformen gern heftig zum Einsatz bringt.

 

 

Den Puls fühlen

Von Nikolaus Müller-Schöll

 

Immersion, so könnte man sagen, ist in der Illusionsbildung wie in der Subjektkonstitution der Moment ihrer Ausbildung wie ihrer Aufhebung: Was eine Vorstellung bilden lässt, deren illusionären Charakter wir erkennen. Was die Illusion stört, ohne dass wir uns ihrer gleichwohl ganz entledigen können. Dieses Osszillieren verändert sich nicht prinzipiell, wenn wir statt des Einfühlungs- und Illusionstheaters in der Tradition des 18. Jahrhunderts das sogenannte ‚immersive theatre‘ betrachten. Hier wie da ist die Immersion eine Illusion – die sich auflöst, wenn wir körperlich leidend, die Maske abnehmen, gegen die Spielregeln verstoßen oder auch nur statt auf den vorgestellten Referenten auf die Art und Weise seiner Vorstellung sehen, wenn wir also so oder so den imaginären Pakt auflösen, der uns mit den Spielern und ihren Produzenten verbindet….

 

Die Immersion ist als Fantasma immer nur momentan denkbar, als reizvoller oder störender Widerstand gegen das Wissen, vorübergehende Regression in Infantilität oder Idiotie, und dies nicht, weil die technischen Hilfsmittel nicht hinreichend waren oder ein Fehler gemacht wurde, sonder vielmehr,  weil es gerade die Unmöglichkeit des totalen Eintauchens ist, die das Begehren immer wieder von Neuem begründet und weitertreibt.“ – Alles klar???

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