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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 297

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

6. Mai 2019

HEUTE: 1. Friedrich-Luft-Preis-Show – Volksbühne / Halle Ostkreuz / 2. Ulrich Matthes 60 – Und immer wieder Franz Kafka / 3. TV-Theatertalk

 

1. Theaterpreis für „P14“ und „Strahl“

"Drei Milliarden Schwestern", parodistisches Großkunstprojekt mit Orchester nach Tschechow in der Volksbühne © Thomas Aurin

1.1. Quasseln, singen und sonst nix tun: „Drei Milliarden Schwestern“

 

7500 Euro Preisgeld macht die Berliner Morgenpost alljährlich seit 1992 im Gedenken an ihren 1990 verstorbenen Großkritiker Friedrich Luft locker (im US-Sender Rias „Die Stimme der Kritik“, s. Blog 277). – Ein schöner Luxus, ein respektables Extra, das man sich trotz notorisch klammer Kasse leistet. Und eine Würdigung der Leistungsfähigkeit des Hauptstadt-Theaterbetriebs. Auch wenn einem da nicht alles gefällt, es gibt immer wieder Herausragendes.

 

Beispielsweise die fantastisch verspielte, dann wieder parodistisch bis ins Groteske oder ins höhere Blödeln getriebene Adaption der Tragikomödie von Anton Tschechow „Drei Schwestern“ durch den Autor Bonn Park, der auch Regie führt und den halb-neuen, gewitzt das Weltumspannende der berühmten Klassiker-Vorlage umschreibenden Titel erfand: „Drei Milliarden Schwestern“.

 

Es ist eine todernste Situation, die Bonn Park da sarkastisch erfand: Ein alles Leben bedrohender Komet rast auf die Erde zu. Doch die drei Milliarden Schwestern tun das, was die drei Geschwister bei Tschechow auch tun: gelangweilt Tee trinken, herum trällern, sich unglücklich verlieben und gegenseitig auf den Keks gehen. Die Sache mit dem außerirdischen Objekt ist eine verrückte Setzung, die auf Michael Bays Weltuntergangsfilm „Armageddon“ anspielt – und auch sonst gibt es jede Menge kunst- und kulturgeschichtliche Querverweise. Wer sie nicht erkennt, dem bleibt dennoch diese artifiziell hochgestochene Tschechow-Paraphrase (bildmächtige Ausstattung: Leonie Falke, Laura Kirst) aufs fatale menschliche Nichtstun angesichts lauernder Gefahren gut verständlich. Dazu die lustvoll eklektizistische, effektsicher zwischen Zwölfton und Pop mäandernde Livemusik des Jugend-Sinfonieorchesters Berlin am Georg-Friedrich-Händel-Gymnasium (Leitung: Knut Andreas; Kompositionen: Ben Roessler). Das genreübergreifende Ganze ist, so die Stimme der Jury, ein „experimentell verspieltes Gesamtkunstwerk“; man könnte auch sagen eine Art große Oper, raffinierte Show, ulkiges Musical.

 

Der inzwischen mehrfach ausgezeichnete Dramatiker und Regisseur Bonn Park ist quasi ein Eigengewächs der Volksbühne. Er stammt aus dem Theaterjugendclub P14 dieses Hauses, seit 1993 Spielwiese und Trainingslager im Wut-Herz-Schmerz-Geist der Castorf-Volkbühne. Und die großartigen jungen Leute von P14 sind es auch, die sich – neben Anne Tismer oder Popstar Dagobert („Ich bin zu jung“) ‑ als drei Milliarden aufwändig maskierte und kostümierte Schwestern auf der großen Bühne zwischen Video-Einspielern tummeln. ‑ Bis zum geschwisterlichen Schlusschor: „Das Ende der Welt, ich horch in mich hinein, was da passiert. Doch mir ist leider alles scheißegal. Ich hab Angst, Angst, Angst…“

(wieder am 12. Mai, Volksbühne)

 

 

1.2. Familiensaga zwischen Teilung und Wiedervereinigung: „#BerlinBerlin“

Dass der diesjährige Friedrich-Luft-Preis zweigeteilt ist, hat mit einer besonderen, signifikanten Würdigung der Berliner Jugendtheaterszene zu tun. Der andere Preisträger ist das von Wolfgang Stüßel geleitete, von ihm 1987 in West-Berlin mit Kollegen gegründete Theater Strahl mit der Produktion „#BerlinBerlin“, einem – sagen wir – Berlinical, das vom Leben junger Menschen erzählt in der geteilten wie wiedervereinten Stadt. Dabei entsteht nichts weniger als das treffliche Bild einer vom Umbruch geprägten Epoche.

 

Dieses faszinierende Berlin-Berlin-Stück für Jugendliche (und neugierige Eltern/Großeltern) hat mit seiner fein dosierten Mischung aus Ernst, Komik und jeweils zeitbezüglichem Soundtrack sowie obendrein der besessenen, dabei präzisen Spiel-Lust der nur sechs hin- und mitreißenden Schauspieler in jeweils mehreren Rollen das Zeug zum absoluten Kult (das grandiose Ensemble: Beate Fischer, Josephine Lange, Oliver Moritz, Sarah Schulze-Tenberge, Jusus Verdenhalven, Raphael Zari). ‑ Diese tolle Truppe macht Berlin- und Deutschlandgeschichte überwältigend lebendig in einer spannenden, hochdramatischen Familienstory diesseits und jenseits der Mauer und darüber hinaus nach dem Fall des martialischen Polit-Bauwerks aus Beton, Stacheldraht, Todesstreifen. Sina Ahlers, Uta Bierbaum, Günter Jankowiak und Jörg Steinberg erzählen die wahrlich verrückte Geschichte mit Herz und Schmerz, Witz und Tempo – ein dramaturgisches Meisterstück. Immerhin gelingt es nicht oft, dass ein Autorenkollektiv – hier mit jeweils eigenen West- und Osterfahrungen – ein derart stringentes Script zusammenbringt, das Fiktives und Authentisches in spannungsgeladener Weise vereint (Dramaturgie: Holger Kuhla). Der besonders aufregende Trick: Die parallele, genaue, von ideologischen Vorurteilen freie Illumination der beiden ziemlich gegensätzlichen Lebenswelten (etwa Kindergarten – Kinderladen) in ihrem Alltag.

 

Freilich wird die Sache erst rund mit einer adäquaten, Drama, Historical und Show in eins verwebenden Regie. Jörg Steinberg inszeniert mit viel Fantasie und leichter Hand für präzise Personenführung durch die Fülle der Szenen, deren Schauplätze innerhalb dreier Jahrzehnte imaginiert werden allein durch den fantasiereichen, fliegenden Umbau von Mauersegmenten – ob Sitzgruppe, Grabstein oder Tribüne beim Springsteen-Konzert 1988 in Weißensee (Bühne: Fred Pommerehn; Kostüme: Stephanie Dorn). Und die Live-Musik von Wolfgang Böhmer kommentiert krachend, zärtlich oder traurig die jeweilige Stimmungslage.

 

Wie von selbst, ohne Zeigefingerei, ohne pädagogischen Eifer, drängen sich da gewisse Fragen auf: Woher kommen wir? Wer sind wir? Was wissen wir von denen drüben und hier? Wie greift „das System“ ein in existenzielle, auch immergrüne Familien- und Jugendprobleme? Aus welchem Material sind die Mauern, die uns heute noch trennen? Wirkt etwa der alte Beton jetzt noch nach?

(11. Mai 19.30 Uhr, 28. Mai 19.30 Uhr, 29. Mai 11 und 19.30 Uhr, 5., 6. Juni 19.30 Uhr, 7. Juni 11 und 19.30 Uhr, 8. Juni 20 Uhr, Halle Ostkreuz, Marktstraße 9-12)

 

***

2. Gratulation: - Ulrich Matthes 60. – Gruß mit Kafka

Ulrich Matthes als Alceste in der Molière-Komödie
Ulrich Matthes als Alceste in der Molière-Komödie "Der Menschenfeind" im Deutschen Theater © Arno Declair

„Vor ein paar Jahren habe ich ein paar verdatterte Reaktionen eingeheimst, als ich eingestand, dass ich manchmal mit großem Vergnügen das ‚Dschungelcamp‘ gucke. Das hängt mir bis heute nach, so, als könne sich jemand, der sich für Kleist begeistert, nicht auch mal eine halbe Stunde TV-Dschungel reinziehen...

 

Deshalb möchte ich die Schere zwischen E und U verkleinern, die es in allen Künsten gibt und die hierzulande ja leider besonders groß ist. Diesen vermeintlichen Gegensatz zwischen Pfui-Deibel-Unterhaltung und intellektueller Hochkultur will ich versuchen aufzulösen. Da gibt es auf beiden Seiten verhärtete Positionen.“

 

Ulrich Matthes

 

 

KAFKA-LESUNG

Offensichtlich seit jeher empfindet Ulrich Matthes das Theater ganz selbstverständlich als künstlerische Heimat und auch als dauerhaften Quell geistiger Inspiration sowie immerwährende Schule seines Handwerks. Ursprünglich fixiert auf Pädagogik, war es Martin Held, der ihn zum Schauspiel trieb. Es ging dann ziemlich schnell zum Aufstieg an große Bühnen. Nach München kam Berlin, erst Schaubühne, dann, seit 2004, das Deutsche Theater.

 

Hier avancierte er zum großen Theaterstar und gleichermaßen Ensemblespieler; denn nie schob er sich kokett in den Vordergrund, sondern blieb stets ein dem Stück Dienender – ob als mürbe in sich gekehrter Onkel Wanja (Tschechow) oder vehement grantelnder Hamm im „Endspiel“ (Beckett), als zwischen Irritation und Souveränität wankender Herr gespreizter Bürgerlichkeit in „Westend“ (Rinke; s. Blog 283) oder als hochmütiger, wehen Herzens am Weltekel leidender Menschenfeind (Moliere).

 

Seit kurzem ist er – auch auf Grund seiner vielen bedeutenden Filmrollen ‑ Präsident der Deutschen Filmakademie. Zur Gala der jüngsten „Lola“-Verleihung vergangenes Wochenende zeigte Matthes, dass er nicht nur das Präsidiale staatsmännisch beherrscht, sondern mit einem Sinatra-Hit im Kehlkopf auch eine ganze Halle rocken kann. ‑ Demnächst, am 9. Mai, feiert der Hochschullehrer („Ernst Busch“), Talkshow-Gast und beliebte Berliner seinen sechzigsten Geburtstag. Am Tag danach, am 10. Mai um 19.30 Uhr, liest er Franz Kafkas „Die Verwandlung“ in seiner Theater-Heimat, dem verehrten, altehrwürdigen Haus in der Schumannstraße.

 

 

KAFKA-HÖRBUCH

Der deutsche Jude aus Prag dürfte zu Matthes‘ Lieblingsautoren zählen; schon bei anderen Gelegenheiten gab es Lesungen seiner Texte. Und es existiert ein Hörbuch des Kafka-Romans „Das Schloss“, den Matthes, ein Jahrzehnt ist’s her, für den Sender rbb und die Deutsche Grammophon ungekürzt (!) einlas; zehn CD, reichlich 13 Stunden. Wir hören hinein…

 

Das Dorf, ein Schloss, der Schnee. Ländliches Leben im Winter, dann im Frühling, Sommer, Herbst, das kreatürliche Dasein zwischen Wirtshaus, Stall und Feld im Kreislauf der Natur. Im Schloss aber, wie unnatürlich und jenseits des Elementaren, ein um sich selbst in Akten-Bewegungen kreisendes, „von Dienst, Vorgesetzten, Arbeit, Lohnbedingungen wimmelndes“ und wucherndes Behördenmonster. In einer Menschenwelt zweierlei Existenz neben-, aber auch in- und übereinander: Für den im Schloss angestellten und zwischen dort und dem Dorf wandelnden Herrn K. eine Unheimlichkeit; grotesk, komisch, letztlich unbegreiflich. Und: Je fester sich Befremden und Undurchschaubarkeit einnisten in seiner Seele, desto einsamer und verlassener fühlt sich Herr K. Ihn übermannen Grauen, Angst und die Qual des Gefühls, ungeheuerlichen Mächten schutzlos ausgesetzt zu sein.

 

Von diesem Leid erzählt Franz Kafka (1883-1924) in seinem Text. Und Matthes, der faszinierende Einsamkeits- und Verlorenheitsschauspieler, liest ihn uns vor. Seine unverwechselbare, nicht einschmeichelnde, sondern eher streng, auch scharf und seltsam kehlig eindringliche Stimme allein ist schon ein Naturereignis. Zugleich aber ist sie, ob im Theater oder Aufnahmestudio, eine entlang der Textpartitur hellwach kopfgesteuerte Kalkulation. Das selbstverständlich technisch Virtuose verhindert, dass Ulrich Matthes die immer dunkler, schmerzvoller werdende Seelenwelt beispielsweise des Herrn K., dessen zunehmende Vereinsamung, dessen wachsendes Unglücklichsein weder sentimental noch pathetisch klingen lässt, sondern schlicht entsetzlich.

 

Freilich, es sind letztlich Herzensergießungen; von Kafka präzis beschrieben, von Matthes – wir greifen poetisch hoch mit Hölderlin – „heilignüchtern“ ausgesprochen. Die bitteren Daseins-Erfahrungen des Autors, die das Kunstvolle seiner Prosa so ingeniös beflügeln, die hat auf seine Art wohl auch der Vorleser gemacht – es ist unüberhörbar.

 

Also bleibt es nicht bei einer bloß gekonnten Lesung, einem rein rhetorischen Kunststück, sondern gerät zu einem den Hörer aufstörenden, ihn gar erweckenden Erlebnis. So dass der, bei all seiner Ferne zu jenem Herrn K., ihm sich dennoch nahe fühlt. Kafkas Herr K. wird zum Herrn K. in uns. Fremdes Befremden über Welt und Leben wird unversehens vertraut. Ein Stückchen warmer Trost in unserer Einsamkeit, unserer kalten Verlorenheit.

 

***

3. TV-Rederei über Theater

Christoff Bleidt, Leiter Theaterhaus Berlin Mitte © Irene Bry
Christoff Bleidt, Leiter Theaterhaus Berlin Mitte © Irene Bry

Heute, Montagabend, 20.15 Uhr, die 54. Sendung „Montagskultur unterwegs“ aus dem Studio in der Friedrichshainer Rudolfstraße 1-8 (nahe S- und U-Bahnhof Warschauer Straße). Mit Arno Lücker  sowie den Kritikern Albrecht Selge und Reinhard Wengierek. Der besondere Gast ist diesmal Christoff Bleidt, Leiter vom Theaterhaus Berlin Mitte, zentraler Produktionsstandort und Kommunikationsplattform für die freien darstellenden Künste. ‑ Kritisch betrachtet werden die Premieren „The Band – Das Musical“ von Gary Barlow (Take That) und Tim Firth, Theater des Westens (Stage Entertainment); „Unterleuten“ nach dem gleichnamigen Roman von Juli Zeh (eine Produktion des Hans-Otto-Theaters Potsdam), Kömödie am Kurfürstendamm im Schiller Theater; „9 Tage wach“ von John von Düffel nach dem Bestseller von Eric Stehfest und Michael J. Stephan, Neuköllner Oper. Später auch im Netz auf YouTube.

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