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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 240

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

15. Januar 2018

HEUTE: 1. „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ – Kleines Theater am Südwestkorso / 2. „Heisenberg“ – Renaissance Theater / 3. Kulturvolk-Montagskultur Extra: „Ein Künstlerleben: Helmut Baumann“ / 4. Tipp: Gala der Artistenschule – Varieté Chamäleon Hackesche Höfe

1. Südwestkorso: - Liebe ist stärker als der Tod

 © Jörn Hartmann
© Jörn Hartmann

„Zugriff!!!“ gellt es im Saal, und Polizisten in Zivil stürmen durchs Parkett auf die Bühne, stürzen sich auf eine dort einsam vor sich hin träumende Frau. Ein Überfall der Staatsmacht mit gezückter Waffe am frühen Morgen in der Wohnung von Katharina Blum. Sie wird verdächtigt, wir schreiben das Jahr 1974, einem womöglich mörderischen Terroristen Unterschlupf gegeben und zur Flucht aus ihrer Wohnung verholfen zu haben. Am Ende wird sich herausstellen: Katharina ermöglichte ihrem Liebhaber Flucht und fernes Versteck, doch war der kein Terrorist, sondern ein Dieb. Ein gewöhnlicher Krimineller, in den die Blum sich zufälligerweise rettungslos verknallt hat.

 

Heinrich Böll, der große Moralist und Friedenskämpfer, der entschiedene Gerechtigkeitsfanatiker und Christ, der 1976 aus Protest gegen den Klerikalismus aus der katholischen Kirche austrat, Böll schrieb mit seiner Novelle „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ ohne Hass, Rührseligkeit oder geifernden Eifer eine unter die Haut gehende Anklage gegen die (sexistisch) diskriminierende, manipulative Praxis der Ermittlungsbehörden sowie die verleumderische, quasi kriminelle Praxis vieler bundesrepublikanischer Medien, die Katharina in einer gigantischen Kampagne vorverurteilend an den Pranger stellt. Die sie abstempelt als verlottertes „Liebchen“, als skrupellose Komplizin eines Schwerstverbrechers und sie so einer skandallüsternen Öffentlichkeit „zum Fraß“ vorwirft. Aus einer bizarren Lovestory (der Dieb und das Mädchen) wird, angefeuert durch die Zeitumstände (der RAF-Terror), ein wuchtiges Polit- und Gesellschaftsdrama.

 

„Katharina Blum“ wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt, allein in Deutschland sechs Millionen Mal verkauft und von Volker Schlöndorff mit Angela Winkler in der Titelrolle ruhmreich verfilmt. ‑ Auch aus Anlass des 100. Geburtstags des Nobelpreisträgers (war am 21. Dezember) brachte das Kleine Theater am Südwestkorso Bölls bekanntestes Werk in der Kompaktfassung von Alexander Kratzer als deutsche Erstaufführung (!) mit ganz aufs Schauspielerische konzentrierten Mitteln auf die Bühne. Regie führt die originell auf Novitäten setzende Chefin dieses traditionsrechen Schöneberger Kammerspiels: Karin Bares.

 

Seine überzeitlich starke Wirkung bezieht der Text aus der so raffinierten wie packenden Mischung aus Krimi, Psychostudie, Lovestory, Sittenbild und politisch-moralischer Aufklärung: „Soll man bei Unmenschen menschlich bleiben müssen“, fragt die Polizei und macht (ohne Beweise) aus dem vermeintlichen Terroristen ‑ so gesehen freilich bedingt nachvollziehbar ‑ einen Unmenschen. Dies ist die hoch problematische, nach wie vor aufregend nachhallende Kernfrage des Stücks.

 

Dessen besondere Wirkungsmacht beruht jedoch nicht allein auf der tragischen Zuspitzung des Plots, sondern zugleich auf der Kraft des Sprachlichen, des Dramatisch-Poetischen; auf der fein ironischen Grundierung des Textes, seiner Stringenz und Nüchternheit: Die Heldin der Liebe – „Er war es, der da kommen sollte…“ ‑ , die eben nur aufgrund dieser durch nichts und niemanden zu erschütternden Himmelsmacht Liebe („Stolz und Treue“) zum Opfer wird, diese Katharina Blum wird in keinem Moment verklärt. Sie ist unverstanden von aller Welt einfach da, behauptet sich bedingungslos und macht so diese Figur einer rückhaltlos Liebenden und Glaubenden groß.

 

Mit ihr, dem Kraftzentrum des Stücks, steht und fällt dessen Erfolg. Deshalb ein Tusch für Sybille Weiser in der Titelrolle! Eine tief beeindruckende Schauspielerin! Mit überzeugender Empathie für diese Figur, ihre berückende Naivität, ihren so besonderen Zauber, ihre allen Einflüsterungen und Drohungen auch frech widerstehende Unbeirrbarkeit. Ein in seiner Hingabe, seiner Zärtlichkeit verführerisch starkes, herzensschönes Weib. Das Psychoterror und Demütigungen aushält. Eine Schmerzensfrau. Ein tapferes Wesen aus „Stolz und Treue“. Was für ein Glück, diese Sybille Weiser als trotzig-traurig ihre Ehre verteidigende Katharina Blum.

(wieder 17., 19., 20. Januar, 20 Uhr; 21. Januar, 18 Uhr)

2. Renaissance Theater: - Prima Sex trotz 30 Jahre Altersunterschieds

Eigentlich sagt schon der Titel alles: „Heisenberg. Eine Unschärferelation“. Werner Heisenberg (1901-1976) war Quantenphysiker. Seine Unschärferelation trifft eine der fundamentalen Aussagen der Quantenmechanik, nämlich, dass bestimmte Messgrößen eines Teilchens (Ort, Impuls, Energie) nicht gleichzeitig beliebig genau bestimmt sind. Heisenberg baute gegenseitig sich widersprechende Begriffe in dieselbe Theorie ein, deren Richtigkeit die physikalische Praxis bestätigte. –Das gilt auch für die menschliche Daseinspraxis. Künstler wussten das eigentlich immer schon bei ihrer Menschendarstellung. Unsere Seelen, unser Denken und Tun sind logisch und unlogisch zugleich, also komplex. Unscharf! Unsere Ratio sowie der Zusammenprall mit den Zufällen des Lebens machen unsere von Gegensätzen und Widersprüchen geprägte Existenz aufregend – im Schönen wie Schlimmen.

 

Der britische Dramatiker Simon Stephens, seit 2006 fünf Mal in der Kritikerumfrage des Fachmagazins „Theater heute“ zum besten ausländischen Dramatiker erwählt, bezieht sich schon im Titel seines Stücks auf die besagte Theorie des Nobelpreisträgers von 1932. Doch Stephens malte kein Heisenberg-Lebensbild, sondern schrieb ein Stück, das er aus der Wundertüte des Lebens griff.

 

Per Zufall prallen da auf irgendeinem Bahnhof zwei ganz unterschiedliche, ja gegensätzlich strukturierte Charaktere aufeinander: Die geschwätzige, kess kontaktgierige, originell schäumende, ziemlich flatterhafte, um die 40 Jahre alte Georgie Burns (Susanna Simon) und der mürrisch bodenständige, lakonisch abgeklärte Fleischermeister Alex Priest (Walter Kreye), Mitte 70.

 

Georgie umkreist Alex wie eine Motte das Licht, dabei weiß er gar nicht so recht, was sie wirklich von ihm will: Sex, Geld, Geborgenheit oder gar die späte große Liebe? Voller Skepsis währt Alex verunsichert ab. Und doch kommen sie schließlich zusammen. Haben, wie sie sagen, schönen Sex miteinander ‑ aber doch eigentlich keine gemeinsame Zukunft. Dennoch verbandelt diese beiden Einsamkeitsmenschen – sie ist sehr verführerisch, er ist es aber auch noch ‑ eine Sehnsucht nach Rückhalt, Vertraulichkeit und Innigkeit, obgleich sie sich nie wirklich reinen Wein einschenken. Das schön komische, ziemlich verrückte, irgendwie nie recht passende einander Umtänzeln dieser beiden Solitäre beschreibt Stephens in seinem anekdotischen Leporello mit wehem Charme, mit Sarkasmus und Ironie, mit zarter Bitterkeit und frech geistreicher Eloquenz (Deutsch von Barbara Christ). Nachdenklich machendes Amüsement vom Feinsten. Und saftiges Futter für zwei auratische Schauspieler: Simon und Kreye mäandern, dank der souverän steuernden Regie von Antoine Uidehaag, mit bewundernswerter Präzision und atemberaubender Präsenz durch die abrupt wechselnden, heftig kontrastierenden Situationen im Bühnenbild von Momme Röhrbein, bestehend aus einem beweglichen Konstrukt abstrakter laborweißer Versatzstücke, illuminiert durch facettenreiche Lichteinfälle. ‑ Simon und Kreye meistern mit Verve und Feinfühligkeit die jeweils so andersartigen, dabei (wie die Beleuchtung) fein abgestuften Tonlagen zwischen Sentimentalität und Ernüchterung. Großes Schauspielertheater im intimen Kammerspielformat. Chapeau!

(wieder 30.-31. Januar, 1.-2. Februar)

3. Helmut Baumann: - Stargast beim Kulturvolk in der Ruhrstraße

 © Archie Kent
© Archie Kent

Zuerst ein „Bravo!“ für unsere Alice Ströver. Sie ist nicht nur eine der wohl besten Kennerinnen des Berliner Kulturbetriebs einschließlich der komplizierten Verwinklungen und Verwicklungen im Politischen von einst bis jetzt, sie kennt auch (fast) alle, die dort agieren (agierten) persönlich – bis freundschaftlich.

 

Wie schön die Sensation, dass Frau Ströver eine glamouröse Ikone des hauptstädtischen Kulturlebens zu ihrer längst schon traditionellen Veranstaltungsreihe Montags-Kultur von Kulturvolk hat einladen können. Helmut Baumann kommt am 22. Januar abends zum Gespräch mit Alice über Leben und Werk in die Ruhrstraße. Bravo! Toll! Wahnsinn! Nicht verpassen!

 

Ganz Berlin kennt Helmut Baumann. Zugegeben: heutzutage wohl schon nicht mehr alle. ‑ Wer es nicht weiß: Baumann war Intendant vom Theater des Westens, das er als Musical- und Show-Palast innovativ aufmischte. Er war ein Regisseur, der das zuweilen Blöde der Branche ironisch-sarkastisch (und womöglich gar politisch) zu unterlaufen und zugleich mit dem herrlich Glamourösen zu verbinden wusste. Baumann war die Inkarnation eines Meisters, der seine prunkenden Shows beispielhaft intelligent und gleichermaßen sinnlich explodieren ließ. In den 1980er Jahren brachte er das Musical „La Cage aux Folles“ in der Kantstraße heraus; spielte selbst die Hauptrolle, die Zaza. Total Kult.

 

Heute steht der Kopf eines klugen Entertainments, der alles zuweilen Ballermannhafte des Genres cool graziös beiseite zu wischen verstand, heute steht er, der große, sagenhafte, einzigartige bewundernswürdige Helmut Baumann uns plaudernd zur Verfügung. Schöne Chance für alle seine Fans. ‑ Helmut, we love you! Toll, dass Sie kommen.

(Nicht verpassen: 22. Januar, 19.30 Uhr, Ruhrstraße 6.)

4. Chamäleon: - Bahn frei für den Ansturm der Neuen!

Großer Auflauf in den Hackeschen Höfen: Die gesammelte Schar der jungen aufstrebenden Zirkustalente der Hauptstadt – Schüler und Schülerinnen der 11. Klasse der Staatlichen Ballettschule und Schule für Artistik – präsentiert vor großem Publikum, was sie alles kann. In ihrer ersten großen Show; Motto: „TimeBar“. Ein Vieles sagender Titel – wir dürfen auf einen Mix der Techniken, Formen, Inhalten, Inszenierungsweisen gespannt sein. Auf Klassisches, auf neu Ausgetüfteltes, entstanden in Praktikumsprojekten. So bekommen wir einen exklusiven Einblick auch hinter die Kulissen der langjährigen Ausbildung, an deren Ende der Titel „Staatlich geprüfter Artist“ steht. Prima, dass der Profi-Betrieb „Chamäleon“ sich derart konstruktiv dem Nachwuchs öffnet. Allez hopp, er kommt; wir sollen staunen.

(nur am 15. Januar, 20 Uhr, im Varieté „Chamäleon“ in den Hackeschen Höfen)​

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