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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 206

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

13. März 2017
HEUTE: 1. Volksbühne – „Faust“ / 2. Reisetipp: Historischer „Parsifal“ – Mannheim

1. Volksbühne - Das Männliche ist das Vergängliche

 © Thomas Aurin
© Thomas Aurin

Mit deutscher Klassik hat er angefangen, mit deutscher Klassik macht er Schluss mit Volksbühne, Frank Castorf (65), ruhmreicher Boss dieses erfindungsreichen Welt-Theaters.

 

Schillers „Räuber“ damals vor einem Vierteljahrhundert war eine stürmisch drängende Abrechnung mit der DDR, voller Hohn, Wut, Sarkasmus und Enttäuschung. Und jetzt „Faust“ . Auf der Eintrittskarte stehen zwei Worte bloß: „FAUST. Castorf.“ Stimmt schon. Johann Wolfgang von Goethes zweiteilige Riesenreimerei mit 12 111 herrlichen Versen, diese von Skepsis, Zynismus, Lust und Liebe durchzogene Menschheitsdichtung passt prima zu diesem fürs analytische Auseinandernehmen und poetisch-politisch neuartige Zusammenfügen berühmten Regisseur. Goethe fasst wie Castorf auch alles Erdenkliche, alles Phantastische inkommensurabel in eins – zwei Extremsportler unter sich, jeder auf seine Art.

 

So nimmt sich denn der Regisseur die letztlich unfassbare Vorlage teils überraschend eins zu eins (und immer dann ist‘s besonders packend). Der zwangsläufig übergroße Rest der netto reichlich sechs Stunden Spieldauer (nach gut drei Stunden 40 Minuten Pause) wird jedoch gefüllt mit weiten, gern allzu weiten Paraphrasen auf Castorfs Generalthema: Die Lage der Verdammten dieser Erde.

 

Es geht also auch hier jetzt stets um Machtverhältnisse: Zwischen Arm und Reich, Nord und Süd, Weiß und Schwarz, Mann und Frau; speziell diesmal um Szenen der Kolonisierung des Zweiten Kaiserreichs der Franzosen in Nordafrika, des Algerienkriegs, des terroristischen Widerstands. Das hat durchaus mit dem Autor zu tun, etwa mit der Landnahme im „Faust II“ oder überhaupt mit der Goethezeit, als sich das faustisch-bürgerliche Abendland gewaltsam ins Räuberische stürzte. Und mit dem Geschlechtlichen hatte es Gothe auch immerzu. – Dieser Doktor Faust ist kein Guter; ist nicht viel besser als sein Kollege Teufel.

 

Eine grundsätzliche Innovation: Der Castorf-„Faust“ spielt vornehmlich im 19. Jahrhundert in der einstigen Welthauptstadt der Moderne, in Paris – und in Algerien oder auch sonstwo, nur nicht im Butzenscheiben-Deutschland. Europäisierung, Globalisierung! Faust, der gewaltsame Eroberer, wird kommentiert mit Worten vom schwarzen Polit-Visionär Franz Fanon (1925-1961): „Verlassen wir dieses Europa, das nicht aufhört, vom Menschen zu reden und ihn dabei niedermetzelt.“ Dann weiter dessen Texte über antikolonialen Widerstand (Castorfs nächste Produktion sollte vom Wandel der postkolonialen Regime in korrupte Diktaturen reden); insbesondere Fanons Feier der algerischen Frauen und deren wie auch immer geartete Emanzipation – gegen lauter männliche Fragwürdigkeiten, die, frei nach Goethe, das Motto liefern für Castorfs so gedankenschwere wie theatralisch spektakulär um Dominanz und Hingabe, Abwehr, Ohnmacht und immer wieder auch Sexualität kreisende Monumental-Show: „Das Männliche ist das Vergängliche, das ewig Weibliche aber zieht uns hinan.“

 

Margarete, die herzige Hure, geistert durch die lange Nacht wie die hohe Hure Helena und Emiles Nutte Nana aus Zolas Roman, der den Machtglanz, das Abgrundelend seiner Epoche grell ausleuchtet. Dann, Zeitsprung ins Jahrhundert danach, Schwarz-Weiß-Dokfilm-Sequenzen von jungen, selbstbewusst ihr Kopftuch weg werfenden Algerierinnen, die in schicken Handtaschen Sprengbomben schmuggeln ins Besatzerlokal der Franzosen.

 

Mit den Frauen allein ist dieser Regie-Erotomane, der alte Macho, schon immer bestens aufgestellt. Was er hingebungsvoll zur allzu intensiven Hingabe an detailverliebte Darstellungen vom Frauenknechten und Frauenaufstand im Geschlechterkampf und –krampf (also: das sexuelle Oben oder Unten) nutzt. Anderseits, die Riege der von Kostümbildnerin Adriana Braga super sexy ausstaffierten Schauspiel-Diven ist wahrlich königlich: Valery Tscheplanowa (Margarete, Helena), Lilith Stangenberg (Meerkatze), Hanna Hilsdorf (Homunculus) oder Thelma Buabeng (Phorkyade), Sophie Rois (Hexe). Aber auch die Herren agieren unermüdlich auf der beträchtlichen Höhe ihrer Kunst: Martin Wuttke (Faust), Marc Hosemann (Mephisto), Lars Rudolph (Wagner), Frank Büttner (Valentin), Daniel Zillmann (Varieté-Directeur).

 

Ob sportiv-performativ oder exzessiv einfühlend, ohne Konditionsschwächen schlüpft das Allstar-Ensemble treppauf, treppab im fliegenden Wechsel in unterschiedliche Rollen durch das kompliziert verwobene Szenengeflecht von Schauplatz zu Schauplatz im rotierenden, monumentalen Bühnenkonstrukt von Alexandar Denic: Ein märchenhaft illuminierter, verschachtelt gebauter Albtraum aus Kolonialherren-Station mit Wachturm, Knast, Grenzzaun, aus Pariser Boudoir, Grusel-Schloss, Gespenster-Puff „L‘Enfer“ und Metrostation „Rue Stalingrad“. Größtenteils verschwinden die Figuren für ihre Live-Auftritte hinter dem Sperrholz, wo sie im Interieur perfekt gefilmt werden und über geschickt eingebaute Video-Screens flimmern – überlebensgroß gezoomt, was suggestiv-dramatisch überwältigt. Hier macht die unentwegte Filmerei Sinn und Effekt.

 

Freilich gibt es auch Wahnsinns-Solo-Nummern direkt vorn an der Rampe. Sophie Rois als Hexe Ladylike mit der flüssigen Wunderdroge und mit Wuttke-Faust, der als uralter Lustgreis (unter der Gummimaske seine Klassik-Verse mümmelnd), den Zaubertrunk kippt. Der dann als geiler Lederkerl, scharfer Intellektuellen-Hund oder alberner Wirrkopf mit dem in echt lebenden schwarzen Pudel namens Bukowski an der Leine herumtobt.

 

Einer der unvergesslichen, innig trostlosen Momente: Die große, einzigartige Rois röhrt leise das Schubert-Lied vom „Leierkastenmann“, dazu mit dem Akkordeon Sir Henry. – Die Melodei vom Tod summt überhaupt stets mit als Generalbass im himmlisch-höllischen, immer wieder auch herzlich komischen Szenenmix. Schließlich grünt in Castorfs „Faust“-Refugium aber kein Hoffnungslück – auch wenn Alexander Scheer den Auferstehungs-seligen Osterspaziergang säuselt im flämischen Akzent, um den Castorf-Nachfolger Chris Dercon aus Belgien auf die Hochkultur-Schippe zu nehmen.

 

Castorfs fiebrig glänzende Tour de Force erzählt alles in allem vom Schmerzensgeschrei der ewig Entrechteten, der ewig unerfüllt Liebenden. Und beschwört darüber hinaus (voreilig?) nichts weniger als den Abgesang des Abendlandes. Faust Wuttke raunt es gelegentlich mit Goethe, redet aber Klartext mit Sartre: „Bisher waren wir die Subjekte der Geschichte, jetzt sind wir ihre Objekte.“

 

So cool wie im Rausch, so faszinierend in ihrem Überwältigungs-Furor diese politisch-poetisch-erotische Goethe-Transformation mit wuchtigen Musikeinlagen und edlem Singsang auch ist, ihre tsunamihaft hereinstürzenden Assoziationen, ihre überbordende Fülle didaktisch geprägter, aufklärerisch gemeinter Gedanken-Links überfordern selbst höher Gebildete. Geschenkt! So freakig Frankie sich gibt, er bleibt ein elitär-freches Gewächs. Man mag es lieben oder hassen.

 

Ach ja, das Finale. Es beginnt weit nach Mitternacht und will einfach nicht enden; der Meister ringt um die optimale Schlusspointe und spielt all seine Optionen durch; gelassen, wie er sonst seine Kaugummis kaut. Das dauert eine reichliche halbe Stunde bis 1.10 Uhr. Erst mal wird der göttliche Rockmusikhimmel weit aufgedreht: „It's all over now, Baby blue...“ von Bob Dylan. Dann kommt von Faust und Mephisto ein witziger Vortrag, wie die Literaturwissenschaft – numerisch dokumentiert den Ausgang der berühmten Wette interpretiert: Sie kann sich nämlich bis heute nicht einigen, wer der Gewinner ist. Toller Einfall! Dann die wunderbar klare, anbetungswürdige Margarete Tscheplanowa wie auch immer wiederauferstanden vom Schafott im geilen Glitzerkleid. Sie stellt die finale Frage nach Erlösung des immer strebend sich Bemühenden. Doch der verdächtig ziellos strebende Faust mit Mephisto im Bunde hört nicht recht hin, blafft aber plötzlich: „Von dir lass ich mir nicht auf die Stulle furzen!“. Det sitzt! Dann hockt er sich auf ein Kinder-Dreirad, eiert quietschend im Kreis herum auf der Vorbühne, während Hosemann ihm kichernd immerzu eins auf den Zylinder haut. Zwei Idioten, lächerlich. Zwei Kinder, lustig. Oder ist es das Kindliche, was uns hinan zieht? Egal. Die beiden Kerle ziehen ab in kumpelhafter Umarmung; unter sich, fern vom Weib. Ab in den Sandkasten. Oder in den nächsten Puff, zum nächsten blubbernden Schmacht-Herz. Oder aber in den nächsten Krieg für neuerliche Landnahme – wo auch immer. Schluss. Jubel. Sollte man gesehen haben. Oder auch nicht. Keine Erlösung, selbst von dieser Frage nicht. Da haben wir’s noch mal, das Faustische: Immerzu ist alles offen, wohin es treibt. Oder?

(wieder am 31. März, 1., 14, 15. April)

2. Mannheim - Seit 60 Jahren immer wieder gleiches Spiel: „Parsifal“ in der Original-Inszenierung von Hans Schüler. Ein Weltrekord!

 © Hans Jörg Michel
© Hans Jörg Michel

Es ist weltweit eine der ältesten noch im aktuellen Repertoire befindlichen Opernproduktionen, speziell in Sachen Wagner aber Weltrekord: Richard Wagners Bühnenweihfestspiel „Parsifal“ , das am Karfreitag anno 1957 im Nationaltheater Mannheim seine Premiere hatte in der nach Neubayreuther Vorbild abstrahierten Inszenierung vom 1963 verstorbenen Regisseur Hans Schüler.

 

Damals, an jenem 14. April anno 1957 im nach Kriegszerstörung am Mannheimer Goetheplatz gerade neu und super modern errichteten Nationaltheater (viel Glas, viel Beton), da war das hier traditionell wagnerianisierte Publikum derart ergriffen (in Mannheim gründete sich der erste Wagner-Verein Deutschlands), dass es nicht nur, wie vom Komponisten erwünscht, nach dem ersten Aufzug nicht klatschte, sondern auch (trotz der Erlösungs-Apotheose) am Schluss nach drei Stunden und 56 Minuten Musik nicht; der Dirigent damals war Herbert Albert.

 

Seither steht alljährlich in der Osterzeit wie sich’s ziemt für Mannheim, so die örtlich öffentliche Meinung, das schmerzensreiche Spiel von der Erlösung des christlichen Erlösers auf dem Plan; in diesem Jahr mit dem – er ist Mitte 30 jungen britischen Dirigenten Alexander Soddy.

 

Übrigens, an der Hamburgischen Staatsoper läuft (sehr gelegentlich) die Wiederaufnahme einer scheinbar im Weltall spielenden Ruth-Berghaus-Inszenierung, die bereits vor etwa drei Jahrzehnten herauskam und ein starkes Statement für ein lebendiges und spannendes zeitgenössisches Regietheater gibt – ziemlich vorbildlich und nachhaltig wirksam, also oft kopiert und weiter entwickelt. Große Sache!

 

Beim Mannheimer „Parsifal“, den ich vor einigen Jahren sah, griff der museale Effekt allerdings eher schwach. Nicht, dass das artige Rumsteh-Singen sonderlich störte bei der ohnehin extrem spannungsgeladenen Musik. Doch die in den 1950er Jahren noch spektakulär innovativen Projektionen, die illustrativen, dunkel dräuenden Licht- und Schattenspiele (Bühne Paul Walter, Licht Alfred Pape) auf gespannten Gazewänden verfehlen heutzutage doch einiges an ihrer einst sensationellen Faszination. Die Sehgewohnheiten haben sich halt sehr verändert.

 

Trotzdem lohnt die Reise in die schöne Kurpfalz. Gibt es doch einen höchst anrührenden, absolut seltenen und durchaus lehrreichen Blick in Uropas Bühnenkiste. Der verändert womöglich die Beurteilung eines selbst gewagt und verrückt über die Stränge schlagenden Regietheaters von heutzutage. Da merkt man doch, was man bestenfalls an unseren neuen jungen Wilden hat. Könnte sich aber auch einen diverse historische Aufführungspraktiken geistreich zitierenden neuen Mannheimer „Parsifal“ vorstellen.

 

Übrigens gibt es zur Vorstellung am 9. April im Unteren Foyer die aufschlussreiche Video-Installation „Parsifal 1957-2017“ von Sven Mundt. Wer rechtzeitig anreist und Lust auf Kontraste hat, mag sich am 8. April ein zeitgenössisches Opernprojekt anschauen. Da gastiert im benachbarten Schauspielhaus die (Osterlamm-ironische?) Produktion „Requiem for a piece of meat“ der 3artCompany&novantikprojekt. Und am 10. April gibt’s Tanz im Schauspielhaus: „New Steps – Bolero“.

(„Parsifal“ Mannheim: 9.4., 16 Uhr und 14.4., 17 Uhr)

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