Die Hauptfigur trägt den signifikanten Namen „Ich“. Dahinter steckt natürlich der Autor selbst: Peter Handke. Und dieses „Ich“, fantastisch gespalten in ein „Ich, der Erzähler“ sowie in ein „Ich, der Dramatiker“. Dieser Zwitter nistet in einem üblen Haufen Gerümpel an einer längst verlassenen Bushaltestelle in der weiten Kurve einer öden Straße. Dort, in diesem Irgendwo zwischen Anfang und Ende (was die Regie zu füllen hat), begegnen dem programmatisch gesplitteten Ich eine fremde Frau sowie eine Horde unschuldig streunender, am Handy hängender Passanten. Alles „Pack, Doppelpack, Tetrapack“, heißt es. So erklärt sich immerhin der ausladende Titel von Handkes neuem, seinem 21. Theaterstück „Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße“ . Claus Peymann brachte es in einer Koproduktion zwischen Burgtheater und BE erst in Wien und nun in Berlin heraus.
Die Sache ist vieles in einem: Kryptisch raunendes Traum- und Philosophier-Stück, elegisch-poetische Misanthropie, sarkastische Gesellschaftssatire. Die längst unbefahrbar gewordene „liebe Landstraße“ gibt das Bild für den unendlichen Leer-Raum, für das große Nichts, in dem alles oder halt gar nichts geschehen kann. Oder alles zunichte wird. Und gerade hier haust das einsame Menschenkind, dieses besagt hoheitsvolle, philosophisch gespaltene Ich. Und trifft auf die vorüberziehende niedere, geistlose (gemeint: unschuldige) Menge, die „tätowierten Schwimmlehrer, menschengewordene Fischgrätmuster, Gotteskrieger und Friedenssoldaten“; diese „ewig Heutigen, Unberührbaren, Unbeleckten und Unhiesigen“. Die blöde Menge eben.
In dieser Eremitage wird der bildungsbürgerliche Einsamkeitsapostel (der kundige Zuschauer mag fein versteckte Zitate von Horváth, Grillparzer, Faulkner, Shakespeare oder Goethe entdecken), hier in der Landstraßen-Ödnis wird unser elitär asoziale Ich-Sonderling, ein kruder Clown und erlösungssuchende Parsifal zugleich, hier wird er, der „noch nie jemandem entgegenging, schon gar nicht einer Mehrzahl“, hier wird er konfrontiert mit der ach so banalen Menge. – Ein Zusammenprall zwischen Elitärem und Massenhaftem, Entrücktem und Banalem. Davon handelt das hochtönende, seltsam komische, drastisch ins Reale und aberwitzig ins Absurde stechende, von herkömmlicher Handlung freie Handke-Stück.
Vor der Uraufführung in Wien sagte der Autor, er träume davon, dass seine Stücke „dieser oder jene junge Regisseur in die Hand nimmt, in die Luft wirft und schaut, was für Figuren im Raum entstehen“. – Immerhin, Handke (73) hielt Claus Peymann (78) für jung genug zum Werfen. Er weiß, was er an ihm hat. Schließlich hat der berühmte Claus zehn seiner berühmten Werke urinszeniert; vor genau einem Halbjahrhundert das erste, das damals ein Skandal war und heute ein Klassiker ist: Die „Publikumsbeschimpfung“.
Claus Peymann wusste, was bevorsteht: Die Uraufführung wurde angekündigt als Theaterereignis des Jahres. Und so verglich Peyman in Wien den Erwartungsdruck mit dem eines „Fußballers unmittelbar vor einem Elfmeter“. Auch wollte er wohl selbst zur Krönung seiner wahrlich sagenhaften Künstler-Karriere das ultimative finale Tor schießen. Der große Alte wollte es nochmal wissen. Nach Wien hatte er als längst legendärer Burg-Direktor zwar seine „Königsetappe“ schon hinter sich. Dennoch sucht er noch immer, wer wollte es ihm verdenken, in Berlin am Schiffbauerdamm sein königliches Wien. Aber ach, das schnöde Berlin sperrt sich dreist.
Dumm gelaufen. Der ultimative Elfmeter-Schuss mit Handke, seinem für Ruhm und Kräche sorgenden Partner seit Jugendzeiten, der ging nun nicht nach hinten los. Sagen wir so: Er verpuffte in entrückter Schönheit. Wohl auch, weil Nässe ist im Handke-Pulver – nämlich das Abgehobene, das Hagestolzige („Allein das Wort Mehrzahl – ein Reizwort.“). Und weil die Regie dieses ominöse Feuchtgebiet nicht einfach trocken legte, um wagehalsige Explosionen los zu treten.
Anders gesagt: Peymann warf die ihm viel zu schweren Figuren seines genial-zwielichtigen Autors nicht weit und hoch genug in die Luft. So fielen sie einigermaßen platt und plump wie sie letztlich sind wieder zurück. Sie verwandelten sich nicht in spektakulär Höheres oder Niederes oder gar in etwas ganz Neues, ureigen Peymannsches – etwa in ein sarkastisch-kritisches Gesellschaftspanorama. In die Kritik des massenhaft Blöden, Niederen, Gemeinen; des ekelhaft Tätowierten, des vom Smartphone Verblödeten. In die Kritik unserer wohlfeilen Massengesellschaft. Und in Kritik der von hoch oben kaltherzig-intellektuellen Menschenverachtung, die der Autor insgeheim (verständlicherweise?) pflegt. Damit hätten wir die Konflikte, hätten das große Drama der Gegenwart gehabt. Peymann wäre triumphierend über Wien, Berlin, Handke der King!
Dabei hat er mit dem wundersam zart-kraftvollen, nüchtern-zauberischen Schauspieler Christopher Nell sowohl das toll erzählerische (kommentierende) als auch toll dramatische (kämpferische) „Ich“ für den Clinch des erhaben Solitären mit der üblen saftigen, dummen oberschlauen Meute.
Auch in dieser Meute hat Peymann (komplett super Casting!) gewichtig geerdete Kämpen. Etwa Maria Happel als die plebejisch-spöttisch Saftige oder Martin Schwab als smarter Herr einer sogar praktikablen Vernunft mit freilich albern-eitlem Grauhaar-Zopf. Dann ist da noch die graziös wilde Meret Becker als hold rotziges, unerschütterlich allen (Männer-)Gewalten trotzendes Emanzen-Weiblein.
Der Autor sah den klassischen Zusammenprall seines überhohen Ichs mit der niederen Menschengewöhnlichkeit auf der Landstraße - hallo Goethe! als einen faustischen Welterkundungskick. Ein elitär sich dünkendes „Ich“ trifft auf das nieder „Geteufelte“. Was für ein wonniglicher Konflikt. Was für eine das menschheitliche Panorama durchleuchtende Vorlage. Was man alles mutig hätte anstellen können mit diesem Handke-Text.
Doch der Regisseur in der Rolle als entrückter Traum-Claus inszenierte nun aber – aus Angst allzu irdisch, allzu banal oder allzu Mythisch zu werden? einen handfest gesellschaftlich geerdeten Kampf höchstens am Rande und schon gar keine Menschheitskonfliktlage. Vielmehr betrieb er vor allem und hingebungsvoll wundersam luftige, hinreißende Spielchen eines vornehmen Einzelnen mit einem halbwegs aber auch ziemlich vornehm räudigen Haufen. Peymann als Entfesseler eines zart-zärtlich flirrenden Staune-Theaters. Das ist schön und ist viel. Ist aber hier, fatalerweise, viel zu wenig. Peymann arrangierte Schönheit, wofür man ihn wirklich lieben darf. Er lieferte mit souveräner Kusshand eine artifizielle Show. Eine wundersame Kindsköpfigkeit, die diese Handke-Fantasie ja auch ist auch. Trotzdem Dank dafür und Geneigtheit.
Doch darüber hinaus ist diese ausgepichte Handkerei eben sehr viel mehr. Oder besser: Sie kann sehr viel mehr sein, wenn man diese durchtriebene Verstiegenheit nur unverschämt handfest, ungeniert „geteufelt“ anpackt. War diesmal Claus Peymann zu altersvorsichtig? Zu entscheidungsschüchtern? Und blieb also hängen im Schwebenden, Ungefähren. Immerhin auch sehr, sehr schön. Und merkwürdig flau zugleich. Ach.
(wieder am 12., 13. Juni)
Heute, Montagabend, 20.15 Uhr, die „Montagskultur unterwegs“ aus dem Studio Voltastraße auf Alex-TV: Der Theater-Talk mit Alice Ströver, den beiden Kritikern Henry Arnold und Reinhard Wengierek sowie einem Gast; diesmal Tim Sandweg, Künstlerischer Leiter der Schaubude Berlin (Figurentheater). Kritisch betrachtet werden die Premieren „Berlin Alexanderplatz“ von Alfred Döblin (Deutsches Theater); „Geschichten aus dem Wiener Wald“, Oper von HK Gruber (Komische Oper); „Jewels“, Ballett von George Balanchine (Staatsballett Berlin). Später auch im Netz auf YouTube.
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