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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 168

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

11. April 2016
HEUTE: 1. „Wir sind keine Barbaren!“ – Vaganten-Bühne / 2. „Victor oder Die Kinder an die Macht“ – BE / 3. Film-Tipp: Volker Koepps „Landstück“

1.Vaganten-Bühne


Der Abend fängt lustig an mit Barbara und Mario. Ein junges Paar, bionademäßiger Lebensstil, beide berufstätig, genug Kohle, aber eben auch nicht übermäßig. Total nette Leute sozusagen. Ein bisschen schade nur, dass es mit der Liebe nicht mehr so frisch läuft wie anfangs – halt der Lauf der Welt; aber man versteht sich prima. Da ziehen in die Nachbarwohnung Linda und Paul, auch so ein Pärchen wie Barbara und Mario, vielleicht einen Zacken jünger und – das vor allem – deutlich aktiver auf dem Sofa, man hört es ordentlich krachen und stöhnen durch die Wand hindurch. Die Lust der einen irritiert die anderen. Trotzdem, man kommt sich näher, auch von Mann zu Mann und Frau zu Frau. Soweit das banal häusliche Setting von Philipp Löhles Komödie „Wir sind keine Barbaren“. Man lehnt sich entspannt zurück, soweit das überhaupt geht im engen Parkett bei den Vaganten. Und erwartet einen der üblichen Über-Kreuz-Vierer. Ein hoffentlich saftig unterhaltsames Beziehungskistchen im kabarettistisch grundierten, sozial wie psychologisch ordentlich ausgemalten Komödienstadel der jungen, modern-urbanen Kleinbürgerei. Also wohlfeiles sowie (das Casting spricht sehr dafür) prima gemachtes Unterhaltungstheater.

 

Weit gefehlt, es kommt ganz anders und bleibt dennoch unterhaltend und spannend, steigert sich dabei aber zunehmend ins Irritierende, schließlich sogar ins höchst Beklemmende. Und das fängt damit an, dass Barbara einen gewissen Klint oder Bobo trifft, von dem sie weder den genauen Namen noch dessen Herkunft kennt – aber er ist, das sieht sie schon – ein Farbiger. Sie weiß nur eins: Der braucht Hilfe, braucht ein Dach überm Kopf und braucht Versorgung. Er ist Flüchtling von woher auch immer. Und sie bringt ihn mit nach Hause. Gelebte Willkommenskultur! Die in solchem Fall anfangs übliche und verständliche Skepsis bei Mario und auch bei den Nachbarn Linda und Paul legt sich mit der Zeit, kollektive Willkommenskultur breitet sich aus. Bis eines Tages Entsetzliches geschieht: Barbara wird tot aufgefunden. Und Klint/Bobo ist verschwunden. Ein Mordfall? Kann sein, kann auch nicht sein. Die grauenvolle Sache, die da wie der Blitz einschlägt ins Welcome-Idyll, bleibt unaufgeklärt.

 

Philipp Löhle, Jahrgang 1978 mit schweizer Pass, ist Hausautor am Theater Bern und schrieb „Barbaren“ – inzwischen vielerorts gespielt im Rahmen eines Förderprogramms „Stücklabor – neue Schweizer Dramatik“. Löhle entwarf natürlich keine gängige Lustigkeit im Seifenopern-Format, sondern vielmehr eine originelle Art Versuchsanordnung, also letztlich ein Konstrukt; der Flüchtling bleibt reine Metapher, er tritt nie auf als Figur, über ihn wird immer nur geredet. In dieses Konstrukt baut Löhle mit großem dramaturgischem und sprachlichem Geschick nahezu sämtliche Argumentationslinien von ganz links bis ganz rechts (also pro und kontra) zum Thema „Asyl“ und „Flüchtlingspolitik“ ein. Wow! Muss man erst mal nachmachen, dass da kein papiernes Thesenstück entsteht, sondern – sozusagen parteiübergreifend aufregende Lebenswirklichkeit gebannt wird. Wobei anzumerken ist: Der Autor ist nicht schlauer als sein Publikum, das immerzu hin und her gerissen ist zwischen Menschenfreundlichkeit und Furcht vor dem Anderen, dem auch panisch als bedrohlich Wahrgenommenen.

 

Kontrapunktiert wird diese komplexe Ambivalenz durch einen so genannten heimatlichen WIR-Chor, der als artifizielles „Textfeld“ immer wieder eingeschoben wird in den Handlungsverlauf und diesen kommentiert – quasi die öffentliche Meinung. „Die Abgründe in unserem Innern sind tief / Unheimlich tief / Unheimlich / Konservativ.“ – Man begreift: Es geht um den in uns allen nistenden Barbaren. Um die feine dünne Haut, die unsere vermeintlich hohe Zivilisation oder vermeintlich feste Wertegemeinschaft zusammenhält – oder eben nicht.

 

Die Regisseurin Battina Rehm steuerte den eloquenten Ensemble-Vierer mit gehörigem Tempo und trotz heftigster Zusammenstöße souverän durch die so widersprüchlichen Gefühls- und Gedankenfelder. Wobei Johann Fohl, Thomas Kitsche, Luise Schubert und Julia Sontag (klasse Ensemble!) genug Gelegenheit haben, charakterliche Facetten auszustellen. Ein packendes Stück zur Stunde. Aber auch: Ein gutes Stück für jederzeit.

(wieder am 27., 28., 29., 30. April)

2. Berliner Ensemble

Schon wieder ein Abend à la francaise voller Charme, Esprit, Eleganz, obgleich es gar deftig zur Sache geht. Wie schon die BE-Inszenierung von Anatol Erdmans Politfarce „Der Selbstmörder“ des Pariser Regisseurs Bellorini (Spiral-Block 163) feiert auch Nicolas Charaux (erst beim Zirkus in Montpellier, dann Schauspielstudium in Tours, dann Regiestudium in Wien) auf der BE-Probebühne ein Fest der trefflich verfeinerten Form. Mit Roger Vitracs surrealer, verrückt verzückt ins Absurde getriebenen Farce „Victor oder die Kinder an der Macht“.

 

Die Bürgerschreck-Chose wurde am Heiligabend 1928 in Paris uraufgeführt von Antonin Artaud, dem depressiv-genialischen Schocker des Theaters. Nach zwei Folgevorstellungen verschwand das Stück in der Schublade der Theatergeschichte; erst drei Jahrzehnte später kramte es Jean Anouilh wieder hervor. Seither wird es vielerorts immer wieder gern gespielt als amüsante Fingerübung in Sachen Abriss der verlogenen Glanzfassade gutbürgerlicher Wohlanständigkeit, aber auch als sarkastisch-zynisches Sinnbild für Absurdistan, dem mit Irrsinn verfüllten Landstrich, in dem unser aller Dasein sich verrücktermaßen häufig und auch ziemlich schmutzig abspielt. „C’est si bon…“

 

„C’est si bon“ säuselt denn auch immer wieder die von Ausstatterin Pia Greven schick ausstaffierte Gesellschaft, wenn die Party im schneeweißen Salon auf der BE-Probebühne mit massenhaft Türen nach unten und draußen (in den Dreck, ins Nichts?) zu Victors neuntem Geburtstag voll aus dem Ruder läuft. Das geschieht immer wieder und immer schlimmer durch die unverschämten, brutalen Frechheiten Victors, des aberwitzig frühreifen Knaben (Raphael Dwinger), den ein Scherz der Natur mit rasendem Wachstum (zwei Meter!) und gleichermaßen ausuferndem Grips versorgt (oder geschlagen) hat.

 

Inzestuöses, Antiautoritäres, Politisches und Ehebrecherisches bis hin zu Blödelndem, Kloppendem, Beklopptem und Blähendem (unkontrollierbares Furzen) und sogar Suizidalem (mit Strick) – das alles stürzt die Torte-mit-Kerzen-Geburtstagsfeier schließlich ins höllische Chaos. „C’est si bon…“

 

Das alles ist nun heutzutage kein Wahnsinns-Schocker mehr, sondern eher eine wohlfeile Abgründigkeit, die aber immerhin einen deftigen Spaß hergibt. Den freilich balanciert Regisseur Charaux (Jahrgang 1982, ausgezeichnet zu den Salzburger Festspielen 2014 mit dem Young Directors Award) mit einem perfekt choreographierten, präzise chargierenden Ensemble elegant aus zwischen exzessiver Tollerei und delikater Boshaftigkeit, zwischen scharfer Klamotte und artifiziellem Kunststück, begleitet vom zartfühlenden Soundtrack, den der Musiker Martin Klingeberg mit vielerlei Instrumenten zaubert. Überhaupt liegt etwas Zauberisches über diesem an sich ekelhaft rüden Stück Gesellschaftskabarett, das sich freilich zum brüllenden (stets vornehm brüllenden) Finale hin etwas länglich zieht, bis endlich alle Welt gänzlich aus dem familiären Lot ist. Umso entspannter summt zum Abschied alles leise „C’est si bon…“

(wieder am 12., 20., 28. April und am 3. Mai)

3. Film-Tipp

„Und sorglos hab ich es gesammelt, nicht wie einer, der mit der Sichel zur Ernte geht, sondern wie ein Spaziergänger, der die einzelnen Ähren aus dem reichen Felde zieht“, schreibt Theodor Fontane in seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“. Und wie der große Hugenotte aus Preußen vor 150 Jahren spaziert heute Volker Koepp durch die märkische Landschaft, wo der bekannte Berliner Filmemacher zumindest den Sommer über auch sein Zuhause hat – wie so viele Künstler, Intellektuelle und Freaks der nahen Hauptstadt.

 

In seinem neuen, dokumentarisch angelegten Film „Landstück“ beschwört Koepp in faszinierenden Sommer- und Herbstbildern (Kamera: Lotte Kilian) die Schönheit dieser Gegend; genau gesagt: die zwischen Templin und Prenzlau, also die Uckermark. Er tut zwar so gelassen wie Fontane, doch womöglich nicht ganz so sorglos wie er, aber doch wohl ebenso akribisch. Und vor allem: kritisch.

 

Koepps Film ist zuerst einer über Menschen, über Lebensläufe und Alltag der Uckermärker; zeigend das Früher und Heute, das Gleichbleibende wie das sich Verändernde im Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Da sind die riesigen Schläge der industriellen Landwirtschaft, dazwischen die schmalen Stücke der Ökobauern. Zwar zählt Brandenburg mit zehn Prozent zu den Bundesländern mit höchstem Flächenanteil bei Ökolandbau, doch werden immer mehr Bioprodukte importiert, was den Preisdruck erhöht und kleine Biobetriebe unrentabel macht. Zudem steigen die Bodenpreise, inzwischen haben sie sich mehr als vervierfacht (der Raubbau durch hoch profitable Monokulturen). Dabei haben doch Ökolandwirte einen viel größeren Platzbedarf als andere. Und auch das Tierfutter muss nach Bio-Kriterien angebaut werden, was wiederum Erträge schmälert. Mithin verdienen die familiären Biobauernwirtschaften trotz der Zulagen von 210 Euro pro Hektar ein Drittel weniger als die Konkurrenz der Intensivwirtschaft.

 

Und dann steht da die hoch umzäunte Hähnchen-Mastanlage in der hügeligen Idylle der eiszeitlichen Endmoränen. Ein nahezu vollautomatisierter, Energie fressender Großbetrieb, der auch noch sein Sojafutter aus Südamerika bezieht und die minderwertigen Fleischteile billig in Afrika auf den Markt bringt und die dortigen Hühnerfarmen ruiniert. Naturschutz, angestammte Familienbetriebe, ortsfremde Großinvestoren, Monokulturen, Windräder, Tiermastbetriebe, Biogasanlagen; Bio und Öko und die Gier der Mehrheit nach billigen Lebensmitteln, die Kluft zwischen Vernunft und Profit – das ist das Mosaik der Verhältnisse, die künftig wohl noch komplizierter werden.

 

Koepp macht das Schlimme wie Schöne anschaulich. Er schwelgt in betörenden Naturbildern, beobachtet mit feinem Humor Menschlich-Allzumenschliches und erschrickt über das Bedrohliche, ja Zerstörerische rationaler Kostenorientierung. Ein spannender, dabei unglaublich schöner Film. Ein Heimatfilm.

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