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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 166

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

24. März 2016
HEUTE/Ostern 2016: 1. „Spittelmarkt“ – Theater im Palais / 2. Rolf Hochhuth zum 85. Geburtstag; Piscator-Gedenken zum 50. Todestag

1. Theater im Palais


Erst Klassentreffen der Ehemaligen vom Berlinischen Gymnasium zum Grauen Kloster, dann Feiern, Futtern und Trinken bis zum Umfallen bei Lutter & Wegner. Theophil Hoffmeister weiß am späten Morgen danach nicht mehr, wie er vom Gendarmenmarkt nach Hause in die Charlottenstraße gekommen ist. Doch muss es einen ziemlich Umweg gegeben haben übern Spittelmarkt zum Alex. Dabei muss Schreckliches passiert sein, aber Theophil kann sich an nichts mehr erinnern – die Gedächtnislücke des Grauens. Und da kommt auch noch ein Fremder aus seinem Bett gekrochen und Luise Hoffmeister fürsorglich mit der Frühstückskaffeekanne da gibt es für alle drei viel zu erforschen und zu vertuschen. Denn „da is wat im Busche“. So entfesselt sich ein aberwitziges, panisches Verwirrspiel voller Angst und Lüge unter diesen „angesehenen Subjekten der Gesellschaft“, denen der französische Vielschreiber Eugène Labiche (1815-1888) in seinen Schwänken mit Charme und frechem Witz die Larve der biederen Gutbürgerlichkeit mit Lust vom allzu gewöhnlichen Gesicht reißt. 1857 kam „Die Affäre Rue de Lourcine“ im boomenden Pariser Vaudeville-Betrieb heraus. Jetzt gibt es eine Uraufführung dieses Klassikers, der pfiffig umgetopft wurde (Dramaturgie: Ilse Nickel) ins Berlin der Kaiserzeit; neuer Titel: „Affäre Spittelmarkt“. Denn die Probleme Suff und „anständige“ Ehemänner, die fremdgehen und dann Angst haben vor ihren Gemahlinnen und noch viel mehr vorm Verlust ihres guten Rufs, den zu verteidigen sie wiederum vor nichts zurückschrecken, das alles passt an die Seine wie an die Spree oder überhaupt überall hin und in alle Zeiten.

 

Was für eine geradezu geniale Idee des Theaters im Palais, sein 25jähriges Bestehen im historischen Palais am Festungsgraben mit der Verberlinerung dieser köstlich-französischen Spießersatire zu feiern, die vielerorts gern gespielt wird, denn sie bietet nicht nur saftiges Schauspielerfutter, sondern noch Material für dramaturgischen Überbau in Richtung postmoderne Identitätskrisen. Diesbezüglich liefert just am Deutschen Theater die aufwändig artifizielle Inszenierung des Originals von Karin Beier ein arg verkopftes, surreales Beispiel; am Wiener Burgtheater läuft hingegen eine dem Riesenraum geschuldete, auf Breitwand länglich aufgeblasene, ziemlich plüschige Inszenierung von Barbara Frey.

 

Ich habe mich in beiden Produktionen gepflegt gelangweilt (im DT allerdings mehr als in der Burg). Nun muss ich sagen – TiP-Leute, bitte nicht in Größenwahn verfallen! , die straffe, ganz aufs Feuerwerk der Situationskomik konzentrierte Labiche-Nickel-Inszenierung von Philippe Besson im 99-Plätze-Salontheater stellt die beiden kostspieligen Großanstrengungen (für eine amüsante Kleinigkeit) der Staatsbühnen in Berlin wie Wien arg in den Schatten.

 

Im kleinen TiP passt einfach alles perfekt zusammen: Die 30-Quadratmeter-Spielfläche (schwarz ausgeschlagen mit beweglichen Paravents für rasch wechselnde Spielorte: Ausstattung Hartmut Henning) ist ideal für präzises Komödiantentum im Brettl-Format: Im Mittelpunkt das hinreißende Duo der beiden wüsten Zecher Jens-Uwe Bogadtke und Carl Martin Spengler, dazu Gabriele Streichhahn als dezent donnernde Matrone und scheinheilig kokette Kokotte sowie Matthias Hörnke im rasenden Kostümwechsel als depperter Hausdiener und ewig klammer armer Verwandter. Zudem passt diese berlinische Produktion ideal zum Vierteljahrhundert-Jubiläum. Zwar gab es in den 25 Jahren immer wieder pekuniäre Durchstrecken, aber man hat sich tapfer geschlagen und rücksichtslos selbst ausgebeutet. Und beständig am originären Profil gewerkelt, das sich zwar, sagen wir, konservativ gibt, doch überhaupt nichts mit Verstaubtheit zu tun hat; nämlich, so die Ansage: „Lokal grundierte literarische Abende und Inszenierungen in einer Mischung aus erzählenden, spielenden und musikalischen Elementen“. Fürs musikalische Element, das alle Abende raffiniert strukturiert (extra für „Spittelmarkt“ wurden witzige Kommentare/Moritaten gereimt und komponiert), dafür ist die großartige Pianistin Ute Falkenau zuständig – ein Glücksgriff für die Intendantin Gabriele Streichhahn. Das TiP hat sich zu einer feinen festen Besonderheit in der Szene entwickelt: Zu einem Liebhabertheater mit Berlinischem Kolorit. Das mag altmodisch klingen, ist es aber überhaupt nicht, muss es aber – als originelle Facette unbedingt geben im so überreichen Angebot des Hauptstadt-Theaters. Bravo „Spittelmarkt“! Glückwunsch TiP!

(wieder am 25., 26. März, 21., 22., 30. April; jeweils 20 Uhr)

2. Rolf Hochhuth bekommt eine 384-Seiten-Biographie und wird 85

Mutter Ilse, erzählt er, war Kettenraucherin. „Sie saß also auf dem Bett, qualmte und meinte, ihr Mann solle sie aus der Klinik wieder heim holen blinder Alarm! Doch da schrie die Hebamme: Beine hoch, Frau Hochhuth! Und da lag ich auch schon. Ein Aprilscherz.“ – Das war am 1. April 1931. Seither tobt Rolf Hochhuth auf dieser Welt. Bislang ist er nicht müde geworden, lauthals an ihrer Verbesserung zu werkeln. „Ich habe ein Renitenz-Gen geerbt“, sagt er. Und gesteht, warum er nie ohne Schlips geht. Weil er zu dick sei, und weil Krawatten den Bauch teilten. Ob das dazu gehörige Jackett, das er, sein zweites Erkennungsmerkmal, stets nur fesch über die Schulter wirft, ob das nun gleichfalls schlank mache, dazu sagt er nichts. Doch ansonsten ist er nicht auf den Mund gefallen. Legt sich, stur, wie er ist (aber Charme kann er auch), überall an, wo er himmelschreiende Ungerechtigkeiten, böse tickenden Irrsinn, Lügen oder auch nur Dämlichkeiten spürt. Und bringt massenhaft Anwälte auf Trab, was ihm allerlei Beschimpfung einbringt („Pinscher, Ratte, Schmeißfliege“), aber auch tiefe Bewunderung auslöst. – Marcel Reich-Ranicki lobte sein Gespür für Themen (Filbinger-Skandal, Pharma-Mafia, Treuhandanstalt). Dennoch ist Hochhuth sauer: In diesem Urteil stecke indirekt der Verriss, er könne nicht schreiben.

 

Sei’s drum, er schreibt geradezu manisch; wobei ihm keine Institution, keine Großmacht heilig ist. Mit gerade mal 32 Lenzen wird er auf einen Schlag weltberühmt: Mit der mutigen, glanzvoll recherchierten Klage und Anklage über die Mitschuld von Papst Pius XII. am Holocaust, dem Doku-Drama „Der Stellvertreter“, seinem theatralischen Erstling. Erwin Piscator hob ihn 1963 im Theater am Kurfürstendamm, dem damaligen Domizil der Freien Volksbühne, aus der Taufe. Der Fünfakter wurde zum größten Theaterskandal des letzten Jahrhunderts und sicherte dem Autor einen Ehrenplatz in der Theatergeschichte.

 

Erstaunlich, dass erst jetzt, sozusagen als Geschenk zum 85. Geburtstag, eine Biographie dieses Mannes erscheint. Die Hamburgerin Birgit Lahann, Jahrgang 1940, hat sich an die nicht einfache Sache gemacht. Der ach so schwierige Herr H. (mit vier Hs, vier Ehen, drei Söhnen) hat sich drauf eingelassen. Wohl, weil ich erklärtermaßen nicht sein Richter oder Gegner bin und kein Moralist, sagte die vom Journalismus kommende Autorin (langjährige, mit vielen Preisen versorgte „Stern“- Reporterin) kürzlich auf einer Matinee im Berliner Ensemble. Heraus gekommen sei „ein Psychogramm mit Reportageeinflüssen, ein kommentierter Dialog mit diesem großen Melancholiker, genussvoll Widerspenstigen und schonungslos Selbstkritischen“. Titel: „Hochhuth, der Störenfried“ (J.H.W. Dietz Verlag, Bonn. Mit Fotos von Karin Rocholl, 29.90 Euro).

 

Martin Walser, Hochhuths berühmter Kollege, der ihm an Chuzpe und Mut zur Kritik nicht nachsteht, hat die 384 Seiten schon mal gelesen und greift zum Superlativ: Es sei das Lebendigste, was er in diesem Genre je zu lesen bekam. „Dass dieses prinzipiell verquere Unikum schlicht liebenswürdig wird, das liegt an Brigitte Lahann, die als scharfe Jägerin das Unikum in all seiner Lebendigkeit voll aufs Papier bringt.“

 

In ihren Jagdgesprächen meist in Hochhuths Heim auf historisch schwer kontaminiertem Boden an der Berliner Wilhelmstraße (durch die mit Gedrucktem und Getipptem vollgestopften Zimmer wuselt ein Trupp junger Damen, die als Assistentinnen die Hochhuth-Factory am Laufen halten), also bei diesen Redereien (oder besser: Diskussionen) kamen, so die Autorin, unweigerlich auch Rolfs "Libido-Gedichte" zur Sprache. Die Lahann lästerlich „Sie Lustgreis!“ Darauf Hochhuth: „Lustgreis finde ich prima.“ Denn auf seine einschlägige, ziemlich direkte Lyrik bildet der alte Herr sich allerhand ein. Offen konstatiert er, dass seine Sehnsucht nach einem 35-jährigen Po heute größer sei als früher. Aber die Deutschen, so sein mal wieder extrem übertriebenes Urteil, die scheuten ja den Sex wie der Teufel das Weihwasser. Außerdem hätten die Frauen bei ihm, selbst wenn sie nackt seien, immer die Hosen an.

 

Ein anderes Mal kam es bei den zahllosen literaturhistorischen Forschungen (mit Aufnahmegerät) auf Goethe und dessen Bemerkung, allein das Unzulängliche sei produktiv. Die Lahann spöttisch: „Das könnte auch auf Ihr Werk zutreffen.“ „Aber ja!“, gibt Hochhuth zurück. Natürlich sei er unzulänglich, habe nicht mal Abitur, sei Schulabbrecher wie Thomas Mann oder Gerhart Hauptmann. Doch mit 14 hätte er dessen „Biberpelz“ gesehen. „Hab mich nass gemacht vor Vergnügen; von da an wollte ich nur noch Stücke schreiben. Nun sagen Sie das mal laut mit 14 Jahren…“

 

Vom Theater als lebenslange Leidenschaft, davon ist besonders oft die Rede in den 26 Kapiteln des Buchs. Von den Krächen mit Regisseuren und Intendanten, denn R.H. hasst Interpretationen der Regie; zuletzt beispielsweise Einar Schleefs fantastische Paraphrase aufs Deutsch-Deutsche mit Hochhuths „Wessis in Weimar“ am BE. Der nämlich, ganz uralte Schule, will seine Texte eins zu eins auf der Bühne und basta. Und so hasst er pauschal alle „durch Subvention verblödete, selbstherrliche Theatermacher“. Auch mit Claus Peymann liegt er beständig über Kreuz. Für den wiederum ist R.H. der Beweis, „dass man im hohen Alter immer noch in der Pubertät sein kann“. Das genau das hält offensichtlich frisch. Gratulation!

 

Gedenken an Erwin Piscator

Mit politisch provokativem und künstlerisch brisantem Theater hat dieser Epoche machende Regisseur in den 1920er Jahren und in den 1960er Jahren an den Häusern der Freien Volksbühne theaterhistorische Akzente gesetzt. Anlässlich seines 50. Todestages am 30. März (ein Gedenktag sonderlich auch für Hochhuth) erinnert die Freie Volksbühne Berlin in einer von Frank-Rüdiger Berger kuratierten Ausstellung an diesen wichtigen Regisseur und Theaterleiter.

(Bis zum 3. September im Veranstaltungshaus der FVB in der Wilmersdorfer Ruhrstraße 6)

 

Hinweis: Am Mittwoch, 30. März, gibt es um 12 Uhr auf dem Waldfriedhof Zehlendorf am Ehrengrab Piscators ein Gedenken (Grablage 050-82). Heide Simon und Hermann Treusch lesen aus dem Briefwechsel zwischen Erwin Piscator und seiner Frau Maria Ley-Piscator.

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