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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 159

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

8. Februar 2016

Schaubühne


Um es gleich zu sagen: Die knapp zwei Stunden in der Schaubühne haben mich gebannt wie lange nicht in einem Theater und schwer erschüttert. Dabei war es "nur" ein Monolog (Uraufführung), noch dazu mit dem zunächst eher unaufgeregten Titel „Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs“. Es handelt sich, nüchtern betrachtet, um den Arbeitsbericht einer gerade 20 Jahre alten Junglehrerin aus der Schweiz, die – um „draußen“ etwas wirklich Gutes zu tun – 1994 als NGO-Mitarbeiterin in den Kongo geht. Dort leistet sie Entwicklungshilfe in Form von „Friedensarbeit“ an einer Universität. Alsbald jedoch, in Ruanda tobt der Bürgerkrieg, hilft sie nur noch in riesigen Flüchtlingslagern. Von da ab kippt der bislang üblich klingende Bericht dieser Frau ins schier Unsägliche: Die „völlig krisenunerfahrene“ Schweizerin gerät zwischen den Fronten eines Völkermordens. Gegen diesen Wahnsinn dort verblassen alle Schrecknisse gegenwärtiger „Flüchtlingskatastrophen“. Die naive junge Frau muss Entsetzliches erleben und auch durchstehen. Und sich fragen: Ist die Lage der Welt wirklich derart aussichtslos, das jede Hilfsmission versagen muss? Sind tatsächlich Kalaschnikows oder Messer immer und überall Ultima Ratio?

 

Den Text dieser Erzählfigur schrieb der Regisseur, Journalist und Soziologe Milo Rau, der berühmt wurde für seine exakt, klar und kalt recherchierten Projekte über in der Welt offen brodelnde oder verdeckt gärende Krisenherde. Sein Material, das durch geschickte Komposition die Wirkung noch vehement steigert, besteht also aus bezeugten Dokumenten, vor allem aus Interviews mit Tätern und Opfern. Das ist nichts für schwache Nerven. Ist für sich genommen unglaublich packendes, dabei Hintergründe akribisch sezierendes politisches Theater.

 

Und doch geht es noch weit über das hinaus: Durch den Einsatz der grandiosen Schauspielerin Ursina Lardi, die als Berichterstatterin antritt. Zunächst distanziert mit ironischen, gelegentlich zynischen Seitenblicken, um dem Publikum mitleidende Gefühligkeiten zu ersparen. Eine aufgeklärte, souverän abgeklärte moderne Europäerin mit Pumps im engen blauen Strickkleid. Leicht irritierend: Eine elegant kühle Blonde. Aber sie ist intelligent genug für politische Offenheit und soziales Engagement wie viele hierzulande. Ihr Bericht bekommt in unheimlichem Crescendo einen ätzenden Sog ins Entsetzliche, ins Horrorhafte: Sie ist Zeugin eines Genozids; die Todesschreie der Massakrierten übersteht sie nur durch ein Tonband mit Beethoven Siebter Sinfonie, voll aufgedreht.

 

Noch in der Erinnerung gerät die Contenance der Erzählerin immer mehr ins Wanken. Bröckelnde Selbstbeherrschung, kalte Wut, Bitterkeit, Desillusionierung und Trauer mischen sich geradezu gespenstisch: Wir begreifen: Hier spricht eine schwer Traumatisierte, obgleich das Erlebte zwei Jahrzehnte zurück liegt und sie mehrere Therapien hinter sich hat. Die Lardi liefert eine tiefgründige, vielschichtige Menschendarstellung, die so nicht im Text steht, der das Grauen eher nüchtern auflistet. Ursina Lardi überwältigt uns nicht mit Grausamkeiten, sie sagt das Unsägliche her mit beherrscht zitternder Stimme. Sie entwickelt höchst konzentriert das persönliche, ja intime Drama einer Lehrerin aus der Schweiz. Sie tut da nichts weiter (nichts weiter?) als das, was einer Schauspielerin ansteht: Individualisieren. Die Lardi entwirft, gestützt auf den Text, mit sparsamsten Mitteln (Mimik, Gestik, Stimme) ein erschütterndes Psychogramm. So wird aus dem Polit-Theater Menschen-Theater, wird große Kunst. Eine beispiellose Leistung, auch des Regisseurs Milo Rau.

 

Rau, 1977 in Bern geboren, ist ein Missionar der Aufklärung (via Theater und Film), der in so genannten „Reenactments“ komplexe historische Vorgänge in Dokumenten nachstellt, um uns tiefer sitzende Wahrheiten zu entdecken (u.a. der Prozess gegen den rumänischen Diktator Ceausescu, das Verfahren gegen die russische Punkband Pussy Riot, das Manifest des norwegischen Attentäters Breivik). Alles international gefeierte Ereignisse des dokumentarischen Polit-Theaters, das sich in „Mitleid“ auch selbstkritisch hinterfragt und noch dazu die „Mitleidsästhetik des Westens“: „Wir – die Kapitalisten des Leidens schlagen einfach aus den Opfern und Toten unserer Wirtschaft noch ein zweites Mal Kapital, indem wir sie im Kunstraum inszenieren und bemitleiden.“ Eine aufstörende Feststellung. Dennoch gilt: Diese Inszenierung ist Kunst; provozierend und scharf stechend in unser Hirn und Herz. Was für ein Leichtes (und das Gewissen Beruhigendes) ist es hingegen, einen Euro in die allgegenwärtige Flüchtlings-Spendenbüchse zu werfen…

(wieder am 10., 11., 14. Februar)

Atze-Musiktheater für Kinder

Das gibt es nicht eben häufig in – sagen wir mutig – Europa: Musiktheater für Kinder. Freilich, unsere großen Opernhäuser machen Programme für die Jungen und Jüngsten; doch eben quasi nebenher. „Atze“ tut das institutionalisiert (80.000 Besucher im Jahr). Und selbstredend pädagogisch wertvoll. Eine Unerlässlichkeit für die Heranbildung eines künftigen Publikums. Trotzdem muss diese Bühne im architektonisch so herrlichen Max-Beckmann-Saal in Wedding (das ehemalige Audimax der Beuth-Hochschule, Luxemburger Straße), trotzdem muss die taffe Truppe unermüdlich ringen um staatliche Stütze. Dabei ist man hier ziemlich innovativ und bis zum Umfallen fleißig: Allein im ersten Quartal 2016 zeigt „Atze“ rund zwanzig hinsichtlich Inhalt und Ästhetik höchst unterschiedliche Produktionen. Das ist schlichtweg sensationell und ein Schatz für die Stadt.

 

Zumindest originell ist die jüngste Produktion „Die Ministerpäsidentin“, für die Theaterchef Thomas Sutter den Roman des Norwegers Tore Tungodden szenisch adaptierte. Es geht da um die zwölfjährige Hanna Fredriksen, die von der neu gegründeten Partei „Stimme der Zukunft“ als Überraschungs-Kandidatin für die norwegische Präsidentenwahl aufgestellt wird und unter abenteuerlichen Schwierigkeiten nicht ohne Ängste ziemlich skeptisch in den tobenden Wahlkampf zieht. Motto: Kinder an die Macht auch durch das Wahlrecht für Kinder.

 

Ein tolles Gedankenexperiment, ein Märchen, das da durchgespielt wird. Für Kinder ab neun Jahren. Doch die Sache ist sehr komplex (womöglich zu komplex für Neunjährige). Da wird viel (allzu viel?) thematisiert: Parteiengezänk, Parteien-Blabla, Medienmanipulation, Wahlkampf-Wahnsinn, Wahlkampf-Sinn, Abgeordneten-Schwachsinn, Abgeordneten-Schwerstarbeit, die hohen Ansprüche, die ein Regierungsamt stellt und denen ein Schulkind nicht gewachsen sein kann, das immerhin ahnt, was es heißt: ein Kabinett bauen, ein Regierungsprogramm formulieren. Also jede Menge Wissensvermittlung, Widersprüche, Dialektik und Überforderung.

 

Das Polit-Experiment wird in gut zwei alle Aufmerksamkeit fordernden Stunden witzig, saftig, lustvoll durchgespielt (in der Pause ist Wahlwerbung der verschiedenen Parteien mit ihren Kandidaten im Publikum). Mit viel Musik und Gesang und auch mit dem für gewisse Momente heiligen Ernst. Die Sache ist nicht simpel und nicht blauäugig, sondern eine Fantasie voller politisch-menschlich wertvoller Anregungen und Gedanken. Regisseur Thomas Sutter beleuchtet die Probleme immerzu von den verschiedenen, den krass gegensätzlichen Seiten. Also ein Rundum-Problembewusstsein. Und: Kinder wissen durchaus Vieles besser als Erwachsene, wissen aber Vieles eben nicht. Was Erwachsene für sinnvoll halten, entlarven Kinder als Humbug. Dann wiederum wird auch kindlicher Humbug, lächerliche Verstiegenheit ungeniert entlarvt. Und behauptet: Kinder wollen-müssen spielen. Dafür sind auch die Rentner aus dem Seniorenheim, die wacker mitmachen im Wahlkampf-Getriebe, was die Gören reimend bejubeln: „Rentner, alte Leute sind keine leichte Beute, sind nicht doof. Rentner, alte Leute, leben hoch!“

 

Alles in allem: Eine ungewohnt aufklärerische, emanzipatorische, zur gesellschaftlichen Teilhabe animierende Veranstaltung. Bei allem komödiantisch ausgestellten Spaß, bei allem kabarettistischen Jux, aller kindgemäßen Blödelei eine große Ernsthaftigkeit. Eine profunde Schulstunde in Sachen Demokratie – im sagen wir: Musical-Sound (Leitung: Doro Gehr). Nebenbei bemerkt: Ich hätte mir noch ein paar schmissige Musik-Nummern mehr vorstellen können; gab es doch genug Anlässe für starke Soli und Ensembles. Man könnte nacharbeiten (und noch dazu ein paar Straffungen). Trotzdem: Derart viel Politik kompakt auf einer Musik-Bühne und dann noch für Kinder, das muss erst mal jemand nachmachen. Das ist mustergültig. Bravo „Atze“!

(wieder am 14.2., 16 Uhr; 15.2., 10 Uhr; 16.2., 10.30 Uhr)

Vaganten-Bühne

Schon wieder ein Roman auf der Bühne. Ein weltberühmtes, monumentales, an spektakulären Figuren, Schauplätzen, Szenen überreiches Werk: „Moby Dick“ von Herman Melville, einer der bedeutendsten Texte der englischsprachigen Literatur; erschienen anno 1850. Spannend, ja reißerisch und durchweg meisterlich geschrieben und dabei gestopft voll mit philosophischen, moralischen und religiösen Einlassungen. Hinreißend! Anstrengend aber auch! Vielfach verfilmt; doch gibt es auch ein opulentes „Moby“-Hörspiel (neun Stunden!) mit u.a. Ulrich Matthes.

 

Jetzt also die extreme Kurzfassung der abenteuerlichen Geschichte von der Jagd nach dem weißen Wal für nur drei Personen, geschickt kompensiert und auf der winzigen Bühne fein artig von Regisseur Lars Georg Vogel arrangiert.

 

Heike Falkenberg und Urs Fabian Winiger, aber auch – freilich mit einigem Abstand – Vanessa Rottenburg finden intensive rhetorische Momente, die mit eher simplem gestischen Vokabular garniert sind; hätte man sich eigentlich sparen können. Dann wiederum hätte man sich gleich zur Lesung an den Tisch setzen können. Doch als Selbstverpflichtung jeder Bühne gilt: Ein Minimum an Theatralik muss sein. Dabei wäre dieses Melville-Digest als gekonnt vorgetragenes Lesestück aufregend genug gewesen. Ohne das eher kunstgewerbliche „Theatern“ wäre die Konzentration aufs rein Sprachliche womöglich noch wirkungsvoller ausgefallen. Trotzdem: Eine hörenswerte Veranstaltung. Mit einem in jeder Hinsicht bemerkenswert präsenten Schauspieler: Urs Fabian Winiger; für mich eine Entdeckung.

(wieder 16.-18. Februar)

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