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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 122

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

16. März 2015

Maxim Gorki Theater


Die türkische Botschaft hat nicht eingegriffen und auch nicht der türkische Staatschef, schließlich ging es um ein Projekt, für das, wenn man es nur scharfmacherisch beurteilte, der in der Türkei gegenwärtig so gern angewandte Strafbestand „Beleidigung des Türkentums“ zutreffen könnte. Es geht um den vom türkischen Staat bis heute bestrittenen Völkermord an den Armeniern 1915; aber es geht auch um das Wegschauen der Welt, beispielsweise der deutschen Reichsregierung, die sich’s mit den im Kriege verbündeten Türken nicht verderben wollte. Sahen doch die Türken in den auf ihrem Staatsgebiet lebenden christlichen Armeniern Kollaborateure der feindlichen Russen und nehmen bis heute ihr mörderisches Vorgehen als innenpolitische Polizeimaßnahme.

 

Die bereits damals auch im kaiserlichen Berlin vorliegenden Informationen auch von Augenzeugen belegen ganz klar und sachlich den religiös-ethnisch motivierten Massenmord: Man wollte ausrotten. Als Hitler 1939 gleichfalls in völkervernichtender Absicht gegen Polen zog, argumentierte er „Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“ – Die Erinnerung an deren Schicksal ist also nicht nur eine menschliche Selbstverständlichkeit, sondern ein politisches Gebot. Wer Genozid akzeptiert oder relativiert, legitimiert Barbarei.

 

Blindwütiger Nationalismus, Hass auf das Andersartige, Religionsfanatismus, Massenmord, Krieg, Flucht, Deportation (in die syrische Wüste bei Deir ez-Zor, dort, wo heute wieder religiös-ethnisch motivierte Kriege toben, sollten die armenischen Todesmärsche 1915 enden) – alles das bedeutet die armenische Tragödie. Sie ist ein erschütterndes, obendrein schreiend gegenwärtiges Thema. Gut, dass sich das Gorki Theater ihm annimmt – konzentriert bis zum 25. April; Überschrift: „Es schneit im April“ (www.gorki.de).

 

Man bietet also eine Fülle von Veranstaltungen (Lesungen, Gespräche, Foren, Ausstellungen, Performances sowie eine besonders bemerkenswerte, von Fred Kelemen kuratierte Filmreihe), die vom Genozid an den Armeniern erzählen, daran erinnern; nicht nur an das Grauen und Leid, sondern auch an den Widerstand – und sie spiegeln aber auch – und das im besonderen die politische, die gesellschaftliche Reflexion auf all das heutzutage sowohl im Nahen Osten als auch bei uns in Deutschland. Das weitausgreifende Projekt des Gedenkens und Erinnerns sowie der Erörterung gegenwärtiger Positionen, aber auch gegenwärtiger Parallelen zum Damals ist geprägt von zwei Inszenierungen auf der großen Bühne: „Musa Dagh-Tage des Widerstands“ von Werner Hans-Werner Kroesinger sowie das „dokufiktionale“ Musiktheaterprojekt „Komitas“ von Marc Sinan, das vom albtraumhaften Schicksal des Komitas Vardapet erzählt, einem armenischen Priester, Komponisten und Musikethnologen. Zu Ostern gibt es ein fünftägiges Fest, an dem das Leben und der Sieg über den Tod gefeiert werden. Dazu versammeln sich unterschiedliche Stimmen aus der ganzen Welt mit Geschichten der armenischen Diaspora.

 

Ein paar Bemerkungen zu Kroesingers Beschäftigung mit Franz Werfels großformatigem Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“, erschienen 1933 in Wien. Es geht in dem 900-Seiten-Werk um die Flucht einiger Tausend Menschen aus armenischen Dörfern an der Mittelmeerküste auf den nahen Berg Musa Dagh, wo sie wochenlang der Belagerung türkischer Truppen widerstanden und schließlich von einem französischen Kriegsschiff gerettet wurden. Ein blutiges, schmerzensreiches und widerständiges Buch, das damals als Anleitung zum Handeln von den unter deutscher Fremdherrschaft Leidenden gelesen wurde oder von denen, die als deutsche Staatsbürger von ihrer Regierung ausgegrenzt und terrorisiert wurden.

 

Kroesinger inszeniert (mithilfe seines Teams) nun nicht den Roman nach, sondern entnimmt daraus Material für sein seit langem erfolgreiches Dokumentartheater; Titel „Musa Dagh – Tage des Widerstands“. Und dieses Material verknüpft er mit Dokumenten von seinerzeit Betroffenen oder deren Nachfahren sowie aus den Staatsarchiven von 1915 bis 2005, auch aus Bundestagsreden aus Anlass der 90. Wiederkehr des Genozids an den Armeniern (man tut sich auch in Berlin schwer, die Verfolgung der Armenier als Genozid im Sinn der UN-Konvention von 1948 zu definieren). Die Texte ergeben eine hoch spannende und aufschlussreiche Mischung, die sehr nachdenklich macht und Haltung einfordert. Freilich hat das mit „Theater“ nichts zu tun, es ist vielmehr eine großartig aufbereitete geschichtliche Vorlesung mit auf sechs Schauspieler verteilten Stimmen. Kroesingers komplexes „Musa-Dagh“- Stück nach Stichworten von Werfel und mit brisantem Archivmaterial ist beste politische Bildungsarbeit, eine – heutzutage mehr denn je – wichtige Sache, der es nicht vordergründig um Schuldzuweisungen geht oder um das Ausstellen von Leid, sondern vor allem um das Sichtbarmachen gewisser Muster der Ausgrenzung und Vernichtung. (Nationalismus, Organisation des Massenmords). Das vielschichtig angelegte „Armenien“-Projekt ist Aufklärung wie sie sich gehört. Und wie sie Not tut.

 

(„Musa Dagh“ wieder am 20., 27. März, 2., 6. April)

 

Voltaire als Bestseller

Nach dem Attentat auf „Charlie Hebdo“ scheint Frankreich Orientierung bei Voltaire zu suchen. Seine „Abhandlung über die Toleranz“ stürmt die Bestsellerlisten (und sollte das nicht nur jenseits des Rheins tun). Über 250 Jahre ist dieses Pamphlet gegen religiösen Fanatismus schon alt, und längst hat es an entsetzlicher Aktualität gewonnen. Bei Amazon, FNAC und der Buchhandlungskette Gilbert Joseph gehört es zu den meistverkauften Titeln. Der große Aufklärer (1694-1778) beschreibt in seiner „Abhandlung“ religiöse Konflikte als Quelle weltpolitischer Verwerfungen. Er veröffentlichte die Schrift 1763, anlässlich der Hinrichtung des protestantischen Stoffhändlers Jean Calas, dem fälschlich vorgeworfen worden war, seinen Sohn ermordet zu haben, der angeblich zum Katholizismus hatte konvertieren wollen. Historischer Kontext sind die Hugenottenkriege und weitere blutige Kämpfe zwischen Katholiken und Protestanten im Frankreich in den Jahrhunderten zuvor.

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