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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 87

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

19. Mai 2014

Schaubühne/ Studio


Karl, ein armer Schlucker (Jahrgang 1893), will raus aus seinen elenden Verhältnissen, arbeitet mühselig sich hoch zum Lehrer, muss in den Ersten Weltkrieg und fällt im Nachkriegschaos zurück ins Elend, davon erzählt der österreichische Sozialist Rudolf Brunngraber (1901-1960) in seinem Roman „Karl und das 20. Jahrhundert“ .

 

 

 

 

Es braucht schon Mut für einen solchen, die Epochen umspannenden Titel. Doch der Autor schafft es tatsächlich, das tragisch scheiternde Leben eines kleinen Mannes plakativ-nüchtern und dennoch herzergreifend zu schildern und dabei aufschlussreich zu verquicken mit den politisch-ökonomischen Spielen der Mächtigen zwischen Monarchie und WK I, den Zusammenbrüchen alter Ordnungen, den Schuldenkrisen, der Inflation und Massenarbeitslosigkeit.

 

 

 

Freilich, die Leidensgeschichte Karls steht literarisch so allein nicht da (wir denken an Döblins Franz Biberkopf). Das Originäre des Romans ist vielmehr die Art, wie sie politisch konnotiert wird: Nämlich mit genialisch erfundenen, farcehaft pointierten Konversationen zwischen historisch relevanten Führungsfiguren im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts von Kaiser Joseph I. und Wilhelm II. über Bethmann-Hollweg, Poincaré, Lord Grey bis Lenin, Trotzki, Stalin.

 

 

 

Im Brunngraber-Roman heißt es, er schneide zwischen Himmel und Erde Stücke aus der Zeit. Und wahrlich, diese Stücke fassen kompakt den Untergang des Alten und den Ausbruch des Neuen, die „Modern Times“, die Glück und Verderben ausschütten und beides auf enorm ungerechte Weise verteilen unter der „teuflischen Fuchtel gieriger Profitwirtschaft“. Der sarkastisch scharfe, dabei satirisch gefärbte Blick aufs gesellschaftliche ganz Oben wie ganz Unten samt dramatischer Verstrickung macht den inzwischen fast vergessenen Roman eines Linken von 1933 – damals ein Bestseller und in viele Sprachen übersetzt frappierend aktuell. Nicht nur anlässlich des Gedenkens an 1914.

 

 

 

Schön, dass der Schaubühnen-Spieler Ingo Hülsmann den Text jetzt aufgespürt und die besagten „Stücke aus der Zeit“ als eine Art Revue inszeniert hat trotz der schweren, todernsten Sachverhalte kabarettistisch leichthin (dazu passend: prägnant comichafte Hintergrund-Videos von Stepan Ueding). Wobei immer wieder das gellend Komische und grausig Groteske kippt in blankes Entsetzen. Dafür sind neben Iris Becher und Jenny König sonderlich die Herren zuständig. Robert Beyer, Felix Römer, David Ruhland, Sebastian Schwarz spielen im fliegenden Wechsel der Szenen lauter kleine starke Stücke. Und packen den banalen Brunngraber-Satz anschaulich ins Schlimme: „Die Welt ist keine moralische Anstalt.“ (wieder am 25. Mai)

 

 

 

 

 

Tipi am Kanzleramt

 

Unser geistreich Berliner Schandmaul, die unverschämte Entertainerin mit beträchtlichem Unterhaltungsfaktor sowie, zu besichtigen im Schlossparktheater, die könnerische Schauspielerin mit Volkstheater-Qualitäten (volkstümlich fernab jeglicher Tümelei), also unsere weltberühmte Désirée Nick, von der hier die Rede ist, hat ein neues Show-Programm im Show-Zelt Tipi. Der beunruhigende Titel: „Retro Muschi“.

 

 

 

Dem Stadtmagazin Tip erklärte Nick kurz und knapp: „Retro-Muschi, das bin ich.“ Und es ginge ihr, wer hätte es gedacht, um einen Rückblick. Nämlich auf die Chanson-Szene der 1920er Jahre. Und nebenbei erzähle sie „alles vom Dritten Reich über den Zweiten Weltkrieg, die 50er und 60er Jahre sowie die Frauen- und Schwulenbewegung“. Deshalb auch ihre bizarre Kostümierung als extrem dekolletierte Lady Domina in Schwarz. Also gestiefelt in Lack, Latex, Polyester, Tüll-Tutu. Mit Ketten rasselnd und Peitschen knallend. Und, Überraschung!, statt in typisch Blond mit neuerdings dunkler Mähne; später dann immerhin in Silber, kilometerweit hoch toupiert. Und von Hals bis Hüfte in Glitzer-Glitzer. Ein groteskes Modepüppchen, das unentwegt und immerhin trefflich über die Moden „im Zeitalter der Geschmacks-Bypässe“ lästert – „kurze Röcke ein Zeichen der Verzweiflung“. Oder: „Nachteil der Mode: dass oben der Kopp rausguckt“. Und das hingebungsvoll giftet übers „Schlachtfeld Körper“, also das schöne Absaugen, Aufspritzen und Rumschnippeln am lebenden Organismus. Soweit das drastisch Nick-Ironische.

 

Doch von, wie annonciert, Drittem Reich, von Zweitem Weltkrieg, von den 50er und 60er Jahren einschließlich Frauen- und Schwulenbewegung ist freilich kaum die Rede. Umso mehr hingegen von menschlichen Geschlechtsteilen sowie deren mehr oder weniger libidinösem Einsatz.

 

 

 

Die Nick betreibe, verkündet die Tipi-Direktion, eine „Politik der niedrigen Erwartung“. Und das ist eher eine Untertreibung. Man möchte meinen, die Nick quäle eine Zwangsneurose hinsichtlich des Zotig-Fäkalischen. Wobei fraglich bleibt, ob sie, wie behauptet, tatsächlich eine „Antenne“ habe „in die Unterhosen ihrer Fans“. Ist das nun Selbstüberschätzung oder Unterschätzung ihrer Milliarden Verehrer und Verehrerinnen einschließlich deren Mischformen?

 

Frau Nicks ausufernde Redebeiträge übers Unterleibliche werden kurz unterbrochen durch einige nostalgische, freilich krass ins Säuische übertragene Liedlein, hübsch spitz gequiekt. Abgesehen von diesem zweifelhaft delikaten Ohrschmaus: Wer keinen Sinn hat für krachledernen Humor oder Dirty-Trash, der mag indigniert drein schauen.

 

Immerhin, eine Werbepostkarte warnt unfreiwillig zutreffend: „Unzumutbar!“ Und eine Fußnote erklärt: „Retro-Muschi“ sei „einfältig, provokant, kontrovers (ab 12,50 bis 34,50 Euro)“. Nix da! „Retro-Muschi“ ist nichts weiter als bloß unverschämte Schweinigelei. Unter Nick-Niveau. Schade (noch bis zum 1. Juni).

 

 

 

 

 

Nachklapp Theatertreffen

 

Skandal! Ein inzwischen zurück getretenes Mitglied der Jury wurde des Plagiats überführt; es hat seine Begründung für die Einladung zum Treffen (die Münchner Castorf-Inszenierung), abgedruckt im Festival-Programmheft, abgeschrieben aus den Materialien von Castorfs Dramaturgin. Dumm gelaufen; vielleicht auch ein Zeichen dafür, dass die Jury so unabhängig nicht ist, wie eisern behauptet. Befremdlicher freilich ist, dass dieses Jurymitglied zugleich in der Jury sitzt, die für die Auswahl der Bühnen zuständig ist, die teilnehmen dürfen am demnächst stattfindenden Theatertreffen der Schweizer Bühnen. Das sieht nach Filz aus. - Wobei anzumerken ist, dass einige Kritiker, die für das Programm der beiden großen alljährlichen deutschsprachigen Theaterfestivals zuständig sind, nämlich das Theatertreffen sowie das „Mülheimer Festival Stücke“, dass die in beiden Festivaljurys sitzen, zwar nicht parallel (!), aber immerhin nacheinander. Erst ein paar Jahrgänge Berlin, anschließend Mülheim, dann wieder Berlin usw. Ein kleiner, aber immer gleicher Kern von Kollegen bestimmt also immerzu mit, was da für Berlin und Mülheim erwählt wird. Das Hier wie Dort, dieses Sowohl-als-auch… Hat sein Geschmäckle!

 

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