Heute: 1. Deutsches Theater – "Die Gehaltserhöhung“ / 2. Maxim Gorki Theater – "Ciao"/ 3. Kleines Theater am Südwestkorso – „Empfänger unbekannt“
Der Kampf ums liebe Geld, er treibt uns alle um. Da werden Schlachten geschlagen; kollektiv (einst die schlesischen Weber, heute die Gewerkschaftsverbände) oder einzeln. Solch einen Einzelkampf hat sich der französische Autor Georges Perec (1936-1982) in seiner 1970 in Paris uraufgeführten Tragikomödie „Die Gehaltserhöhung“ vorgeknöpft. Und das auf ganz eigene Art: Da wird nicht das dramatische Ringen eines Angestellten mit dem Vorgesetzten um die nächsthöhere Lohngruppe aufgeblättert, sondern die immergleiche, sich bis ins Absurde steigernde (allerdings nicht ganz neue) Grundsituation durchgespielt: Nämlich das verzweifelte Anrennen gegen die so unheimlich freundlich gepolsterte Mauer einer menschenverachtenden Vergeblichkeit.
Gefangen wie in einer Tretmühle rackert sich der abhängig Beschäftigte ab mit seinen immer unterwürfiger, irrsinniger, trauriger werdenden Bittgesuchen um besseres Gehalt. Die so entsetzliche wie komische Folge: Er wird zunehmend deformiert.
Winziges Rädchen in einer Riesenorganisation
Anita Vulesica, meine DT-Lieblingsregisseurin (man sähe sie gern auch wieder als Schauspielerin), ist ausgewiesene Expertin fürs Groteske, Abgründige, Monströse. Sie lässt den armen Gehaltsempfänger, „das mikroskopische Rädchen einer riesengroßen Organisation“ mit seinen ins Leere stürzenden Wutanfällen, von gleich sechs Personen spielen (Abak Safaei-Rad, Evamaria Salcher, Frieder Langenberger, Moritz Grove, Katrija Lehmann, Jonas Hien).
Und jagt sie in einer minutiös durchgetakteten, virtuos körperartistischen Choreographie über hundert Minuten durch die orangefarben durchglühte Lobby einer Konzernzentrale (Bühne: Henrike Engel). – „Der Text muss in die Körper“, so die Ansage der Regie.
Den Rhythmus, der freilich allzulange atemlos rasenden Show eines neuen, von den modernen Zeiten schwer gebeutelten Untertans, den dirigiert am Electronic-Desk der Live-Musiker Ingo Günther. Im gerüschten Business-Kostümchen verkleidet als Empfangsdame Fräulein Jolande.
Und für gelegentliche Pausen zum Luftholen sorgen die Auftritte des Abteilungsleiters (Beatrice Frey). Im mausgrauen Geschäftsanzug (Kostüme: Janina Brinkmann) verkündet er mit aasiger Nettigkeit seine sturen Absagen und Vertröstungen eventueller Gehaltserhöhungen auf den berüchtigten Sankt Nimmerleinstag.
Deutsches Theater, Kammer, am 7. Juli und in der kommenden Spielzeit. Hier geht’s zu den Karten.
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Was für ein Kumpelnest! Was für Kerle – hautenge Höschen, rosa Blousons, dünne Leibchen, durchtrainiert. Muskeln und jede Menge Testosteron. Und jede Menge Können ‑ die charismatischen Gorki-Stars Emre Aksizoglu, Knut Berger, Jonas Dassler, Taner Sahintürk.
Die rocken als Boygroup die Bude. Mit Pop-Klassikern, mit Selbstkomponiertem. Ein kollektiv zusammengedonnerter Abend. Da dampft die Luft; da blitzt das Licht. Und wenn nicht, lassen sie – Ciao! ‑ Schnipsel ihrer persönlichen Lebens- und Weltsichten los.
Mit Zorn, Melancholie, Witz, Sarkasmus und Selbstironie geht‘s da comedyhaft, bierernst oder küchenphilosophisch sowie selbstredend korrekt gegendert gegen Zumutungen des Daseins. Gegen Dunkeldeutsches, Rassismus, toxische Männlichkeit, das Elend mit dem Patriarchat sowie dem lieben Gott, der einen Penis trägt und gegen Ausbeutung, auch am Theater. Und natürlich gegen Rechts.
All die Reizthemen mit Fleiß gebrüllt und geheult. Trotzdem: Das bleibt meist platt wie Wahlkampflosungen. Wären da nicht die herzbewegenden, auch qualvollen Einblicke in die Familienverhältnisse der vier Jungs; vor allem die bitteren Opfergeschichten ihrer Mütter und Schwestern.
Dazwischen aber immer wieder verführerisch rotzfreches Schäkern mit dem enthusiamierten Publikum. Und reichlich Hard- und Punkrock – allein das Konzert im Kabarett, das ist der Hammer! Außerdem: Anfangs ausgeteilte Plüschtierchen fliegen hin und her zwischen Podium und Parkett – das Kindliche im Männlichen. Total süß.
Und als Rausschmeißer zum Mitsingen dröhnt „Don’t stop believin“ von Journey. Tschau-Tschau! Der Saal kocht.
Maxim Gorki Theater, 22. Juni, 3. und 11. Juli. Hier geht's zu den Karten.
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Max und Martin: zwei gute Freunde. Zwei beste, zwei allerbeste. Und obendrein erfolgreiche Geschäftspartner: Kunsthandel in Kalifornien. Ihre vom Deutschen Martin Schulze und vom Amerikaner Max Eisenstein gemeinsam geführte US-Firma wirft jede Menge Dollars ab, die der vornehmlich jüdisch geprägte Westküsten-Geld- und Geistesadel gern für moderne Kunst ausgibt.
Soweit die Ausgangslage im Roman „Address unknown“, den die amerikanische Journalistin Kathrin Kressman Taylor (1901-1996) in ihre Smith-Corona-Schreibmaschine tippte. Im September anno 1938 erschienen bei Simon & Schuster, machte er die Autorin quasi über Nacht berühmt. „Taylor – die Frau, die Amerika erschüttert“, titelten die Medien.
1944 folgte eine Verfilmung des Briefromans, der die (fiktive) Korrespondenz der beiden Männer sowie den durch nationalsozialistischen Wahn grauenvoll herbeigeführten Bruch dieser Freundschaft in atemberaubender Präzision schildert. Da kippt nämlich geradezu unheimlich das einst Allerbeste ins Schlimmstmögliche; das Schöne und Gute ins Hässliche und Böse.
Nach dem zweiten Weltkrieg geriet der packende Text erstaunlicherweise (oder gerade nicht erstaunlicherweise) in Vergessenheit. Erst ein Halbjahrhundert später wurde er wiederentdeckt und übersetzt in mehr als zwanzig Sprachen.
Es spricht für das literarische wie politische Gespür des Kleinen Theaters, Kressman Taylors Geschichte einer zwischenmenschlichen Zerstörung durch demagogische Ideologie auf die Bühne gebracht zu haben (Übersetzung: Heidi Zerning).
Eitergeschwür am Wirtsvolk
Die horrible Sache zwischen dem kalifornischen Juden Max Eisenstein (Paul Walther) und seinem deutschen Partner Martin Schulze (Jonas Lux) ist, dass sein langjähriger Partner 1932 nach Bayern zurückkehrt und dort Zug um Zug zum blindwütigen Nazi wird: Endlich sei Schluss mit dem geschwätzigen Liberalismus; der neue Reichskanzler ein Schwert der Tat, eine Lichtgestalt, ja ein Engel, der das verzweifelt darniederliegende Volk aufrichte, ihm endlich Optimismus und Zukunft gebe. Dabei störe allein das Judenvolk, dieses Eitergeschwür am deutschen Wirtsvolk.
Das schreibt er an Freund Max nach Kalifornien – der aber solle das bitte nicht persönlich nehmen. Max freilich sieht das sehr anders, überweist jedoch brav die Gewinnanteile der noch gemeinsamen Firma nach Bayern; versucht krampfhaft, die Freundschaft brieflich zu retten. Da seine Post zensiert wird, lehnt Martin weiteren Postverkehr ab. Nur die Dollars sollen – heimlich, anonymisiert – weiter fließen.
Die Feigheit der Karrieristen und Mitläufer
Wie elend und erniedrigend. Doch es kommt schlimmer: Max hat eine Schwester, eine längst verflossene Liebe von Martin. Eine Schauspielerin, zunächst in Wien lebend, dann aber endlich ein Engagement im Theater der Reichshauptstadt antretend. Und prompt der beginnenden Judenverfolgung zum Opfer fallend. Max bittet Martin, ihr zu helfen, ihr Unterschlupf zu gewähren. Doch der weist die Verfolgte ab, als sie vor seiner Tür steht. Der angepasste Mitläufer und Karrierist hat Angst. „Wer Juden hilft, kommt ins KZ und darin um. Da kann man nichts machen.“ Er weiß auch, SS-Schergen werden die Frau fangen. Alle Briefe, mit denen Max aus der Ferne versucht, die Schwester zu erreichen oder ihren Verbleib zu erforschen, kommen zurück: „Empfänger unbekannt“.
Fortan schickt Max Telegramme und Geschäftsbriefe „kompromittierenden“ Inhalts an Nazi-Schulze („Die mosaische Gemeinde wünscht Dir alles Gute!“). Die Gestapo soll mitlesen! Ein Akt verzweifelter und wütender Rache. Seine Briefe kommen eines Tages zurück nach Amerika: „Empfänger unbekannt“. Im Klartext: Martin ist vom Nazi-System zernichtet.
Geistig-moralischer Abstieg des Intellektuellen
Was für ein Stück Zeitgeschichte, wenngleich in fiktiver Form. Schockiert, aber auch gebannt erleben wir in diesem stringent aufgerollten Drama, wie ein bürgerlicher Intellektueller Schritt für Schritt in die giftige Blase menschenzerstörerischen Gedankenguts hineingerät, es kritiklos verinnerlicht. Wobei eventuell schwelende Gewissensbisse opportunistisch beruhigt werden mit der Verantwortung für Familie und Wohlergehen. „Man musste! Man konnte nicht anders!“
Ein großartiger, von Boris von Poser schnörkellos inszenierter, von den beiden Schauspielern konzentriert gespielter Theaterabend. Beklemmend. Bestürzend. Aufklärerisch. Und so unendlich traurig. Bravo Kleines Theater! – Wir wünschen viele Gastspiele, besonders in Schulen.
Kleines Theater am Südwestkorso, Wieder am 22., 23., 26. Juni; 7. und 10. Juli; Termine im September. Hier geht’s zu den Karten.
TIPP: BAR JEDER VERNUNFT
Leinen los! ‑ Das Etablissement für Entertainment macht auf maritim und sticht von Wilmersdorf aus in See. Drei sexy Kerle als Matrosen verkleidet trällern und röhren rockig schmissig, witzig oder sentimental schmachtend von Sehnsucht, Abenteuer, Lebenshunger, Fernweh sowie, das auch, von Sex. Schließlich wusste schon Jean Genet: Seemänner taugen als erotische Projektionsflächen; das nebenbei.
Im Mittelpunkt der Sause mit Patric Dull, Martin Ruppel und Andreas Langsch spielt freilich die Musik. Der Klasse-Dreier kann von Shanty, Tango, Chanson bis Disco nebst komödiantischem Gebrettel, albernem Geblödel und toll Tanzen zwischendurch. Auf dem Hamburger Theaterschiff am Nikolaifleet ist die Show „Wellen, Sturm und steife Brisen“ ein Hit. Deshalb jetzt das Gastspiel an der Spree, wo man mit Berliner Luft, Luft, Luft noch ein paar Extra-Wellen draufsetzt.
Bar jeder Vernunft, noch bis zum 30. Juni. Hier geht’s zu den Karten.
EXTRATIPP: SOMMERFEST
Wie alle Jahre so auch jetzt wieder: Das große Kulturvolk-Sommerfest auf der Ruhrstraße und im Kulturvolk-Garten: Mit dem großen Live-Bühnenprogramm im weißen Zelt; dann das Kinderprogramm mit Schminken und Seifenblasen; das beliebte Glücksrad sowie die Galerie der Kioske des Berliner Kulturbetriebs. Und selbstverständlich reichhaltige Gastronomie. – Gelegenheit für prima Unterhaltung, Information und interessante Kontakte mit Künstlern und Kulturvolk-Leuten. Nicht verpassen!
Am Samstag, 6. Juli, ab 15 Uhr.
Tschüss! Das Kollektiv vom Kulturvolk-Blog verabschiedet sich hiermit in die Sommerpause, wünscht seiner Leserschaft schöne Ferien und kehrt Anfang September zurück: Um sich aufs Neue mit kritischem Blick und unerschütterlicher Neugier im Theaterberlin zu tummeln.
1. Schaubühne Bilderfluten
2. Grips Theater für die Kleinsten
3. Berliner Ensemble Der nackte Wahnsinn kommt noch
1. Komische Oper Wenn der Tod an die Tür klopft
2. Berliner Ensemble Kleiner Mann im Drogenrausch
3. Komödie Die Diva als Dozentin
1. Berliner Ensemble Familiendrama als Schmonzette
2. Schaubühne Zwischen alter Liebe und neuen Konflikten
3. Schlosspark Theater Buddeln am Fluchttunnel unterm Stasinest
1. Chamäleon Entdecke den Wolf in Dir
2. Stachelschweine Verraten und verkauft
3. Neuköllner Oper Wenn der Vater nicht mehr da ist
1. Wintergarten Artistische Regenbogenkinder
2. Deutsches Theater Ein Denkmal fällt vom Sockel
3. Kleines Theater Wie man das Leben aufräumt
1. DT-Kammer Neuer Untertan in alter Tretmühle
2. Gorki Plüschtiere zwischen Punkrock
3. Kleines Theater Ideologie zerstört Menschen