0
Service & Beratung: (030) 86009351
Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 439

Kulturvolk Blog | Sibylle Marx

von Sibylle Marx

8. Mai 2023

Heute Zweimal Kafka: 1. Renaissance-Theater – „Amerika“ / 2. Vaganten Bühne Berlin – „Amerika – Der Verschollene"

 

1. Renaissance-Theater - Ein Feuerwerk an Schau-Spiel

Philipp Hochmair als Karl Roßmann © Rüdiger Schall
Philipp Hochmair als Karl Roßmann © Rüdiger Schall

Im Romanfragment „Amerika“ von Franz Kafka wird der 16jährige Karl Roßmann von seinen Eltern, weil er ein Dienstmädchen geschwängert hat, nach Amerika verschickt. Er begegnet seinem reichen Onkel, der ihn nach kurzer Zeit wieder auf die Straße setzt, trifft auf zwei Obdachlose, die ihn bestehlen, findet Arbeit in einem Hotel als Liftboy, aber auch die verliert er schnell wieder. Und macht sich schließlich mit dem Naturtheater Oklahoma auf den Weg durch die Weiten Amerikas.

Im Renaissance-Theater war am vorletzten Wochenende Philipp Hochmair als Karl Roßmann zu erleben. Die Vorbühne, auf der ein Stuhl und dein Koffer stehen, ist nach hinten mit einer transparenten schwarzen Wand begrenzt, über die die Digitalschrift die einzelnen Kapitelüberschriften flimmern. Hochmair trägt einen Anzug, weißes Hemd, Krawatte, Lederschuhe.


In einer siebzigminütigen One-Man-Show (Regie: Bastian Kraft) spielt sich Hochmair durch Roßmanns Odysse, wobei der Ausdruck Spielen dem fulminanten und hoch artifiziellen Treiben nicht wirklich gerecht wird. Philipp Hochmair gelingt eine Verschmelzung zwischen Schauspieler und Figur: Hochmair ist Karl Roßmann und Karl Roßmann ist Hochmair. Und nicht nur das, auch die vielen anderen Personen, denen Karl begegnet, werden durch veränderte Körpersprache und Stimmlage innerhalb von Sekunden plastisch.

Hochmair rattert ganze Textpassagen runter, Sätze werden immer wieder, nicht nur einmal, sondern drei- und viermal wiederholt. Hochmair spricht, flüstert, schmeichelt, schreit.
Manchmal mutet der Bühnenraum wie ein Verhörzimmer an, in dem sich der Gefangene – wie festgeschnallt auf dem Stuhl – um Kopf und Kragen redet. Dann wieder scheint der Raum, in dem Roßmann große Töne spuckt, riesig. Hochmair spielt mit dem Koffer, verschmilzt mit dem Stuhl, scheint horizontal über der Sitzfläche zu schweben.

Je aussichtsloser Roßmanns Lage, entledigt sich Hochmair seiner Schuhe, seines Anzugs, seines Hemdes. Das Hemd wird gar zum Lappen, mit dem das Messing im Fahrstuhl gewienert oder der Fußboden aufgewischt werden muss. Schließlich knallt Roßmann fast nackt auf den harten Bühnenboden.

Aber das ist nicht das Ende. Noch einmal gibt es Hoffnung, Hoffnung auf das Naturtheater Oklahoma. Die teilt Roßmann mit dem Publikum: Dazu steigt Hochmair von der Bühne und wirbt bei den Zuschauer*innen um ihr Mittun beim Theater. In der Vorstellung, die ich im Renaissance-Theater sah, gingen die Angesprochenen voll auf das Spiel ein und boten freimütig ihre Unterstützung an. Der letzte Herr antwortete auf die Frage, was er denn könne bzw. sein wolle: Ein Nichtsnutz.

Diese ungeplante Antwort löste im Saal große Heiterkeit aus und schloss doch den Kreis zum Schicksal Karl Rossmanns und seiner Suche nach einem guten Leben, denn wo kann man scheinbar nutzlos sein Glück finden, wenn nicht im Theater?

„Amerika“, hoffentlich in der nächsten Spielzeit wieder im Renaissance-Theater zu erleben.


***

2. Vaganten - Kafka hochaktuell

Urs Fabian Winiger als Karl Roßmann in der Vagantenbühne © Stella Schimmele
Urs Fabian Winiger als Karl Roßmann in der Vagantenbühne © Stella Schimmele

In der Vagantenbühne ist dem Namen der Aufführung „Amerika“ der Zusatz „Der Verschollene“ hinzugefügt. Diesen Titel hatte ursprünglich Kafka selbst seiner Erzählung gegeben, und das Team um den Regisseur und Leiter der Vageantenbühne Lars Georg Vogel macht bereits mit diesem Titel deutlich, worum es hier vor allem geht: Um die Geschichte eines verlorenen Menschen.

Es ist derselbe Text, den ich ein paar Tage vorher im Renaisance-Theater gehört habe, aber hier wirkt er ganz anders auf mich, springt mich vor allem seine Aktualität an. „...Vielleicht hätte man ihn gar nicht in die Vereinigten Staaten eingelassen, sondern ihn nach Hause geschickt, ohne sich weiter darum zu kümmern, dass er keine Heimat mehr hatte. Auf Mitleid durfte man hier nicht hoffen…“

Bereits vor Beginn läuft Urs Fabian Winiger als Karl Roßmann über die schwarze Bühne. Der Schauspieler trägt Jeans, Turnschuhe, Kapuzenhoodie, Steppweste. Die Sachen sind nicht schmutzig, aber es ist ihnen anzusehen, dass sie schon lange getragen wurden und wohl das Einzige sind, das Roßmann an Kleidung besitzt.

Winiger läuft also über die Bühne, von links nach rechts, verschwindet in der Gasse, taucht wieder auf, läuft in die entgegengesetzte Richtung. Immer hin und her, ruhelos, ziellos.

Dieser Karl Roßmann lebt unter Plastiktüten, bestenfalls in einem Zelt, das in der linken Ecke der Bühne aufgeschlagen ist und keinen sehr stabilen Eindruck macht. Man sieht förmlich das Wasser durchtropfen. Roßmann hat wenig zu essen, kocht sich seine Mahlzeiten auf einem Camping-Gaskocher und löffelt die gerade gekochte Suppe aus einer Blechtasse.
Im Sommer spielen sie „Amerika – Der Verschollene“ (die Inszenierung ist nicht neu; sie läuft schon seit zwei Jahren) draußen, im Hof ihres kleinen Theaters, was sie vermutlich noch aktueller und stärker macht.


Mit dem kafkaschen Text wird hier die Geschichte eines Menschen erzählt, der seine Heimat verlassen musste, der jetzt nirgendwohin gehört, der einen Rückschlag nach dem anderen hinnehmen muss. Eine Geschichte, wie sie millionenfach existiert, wie wir sie jeden Tag lesen, hören oder sehen. Aber hier, nur ein paar Meter entfernt, wird sie durch das mal drängende, dann wieder zurückgenommen Spiel von Urs Fabian Winiger, in dem auch alle anderen Figuren ihren Platz finden, intensiv erlebbar.

Auch hier ist die letzte Station von Roßmann das Naturtheater Oklahoma, auf das er wiederum seine Hoffnung setzt. Der Weg dorthin führt von der Bühne in den Zuschauerraum, dann durch die hintere Tür, direkt auf die Kantstraße, hinein ins nächtliche Berlin.

Vagantenbühne,
22. Juni. Hier geht's zu den Karten.

Verwendung von Cookies

Zur Bereitstellung des Internetangebots verwenden wir Cookies.

Bitte legen Sie fest, welche Cookies Sie zulassen möchten.

Diese Cookies sind für das Ausführen der spezifischen Funktionen der Webseite notwendig und können nicht abgewählt werden. Diese Cookies dienen nicht zum Tracking.

Funktionale Cookies dienen dazu, Ihnen externe Inhalte anzuzeigen.

Diese Cookies helfen uns zu verstehen wie unsere Webseite genutzt wird. Dadurch können wir unsere Leistung für Sie verbessern. Zudem werden externe Anwendungen (z.B. Google Maps) mit Ihrem Standort zur einfachen Navigation beliefert.

  • Bitte anklicken!