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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 412

Kulturvolk Blog | Uwe Sauerwein

von Uwe Sauerwein

17. Oktober 2022

Heute: 1. Staatsoper – "Walküre"/"SiegfriEd" / 2. Deutsches Theater – "DER EINZIGE UND SEIN EIGENTUM" / 3. RENAISSANCE THEATER – "DAS HALSBAND"

1. Staatsoper - Mit Wagner im Forschungslabor

Flucht aus Wotans Institut: Robert Watson (Siegmund) und Vida Miknevičiūtė (Sieglinde) in „Die Walküre“ © Monika Rittershaus
Flucht aus Wotans Institut: Robert Watson (Siegmund) und Vida Miknevičiūtė (Sieglinde) in „Die Walküre“ © Monika Rittershaus

Breaking News: Die Nachrichten verkünden die Flucht eines Sträflings. Besondere Kennzeichen: stellenweise ergrautes Haar, verwirrtes Wesen. Völlig erschöpft stürzt dieser Mann direkt ins Wohnzimmer in den gläsernen Bungalow der Hundings. Sieglinde Hunding, unglückliche Ehefrau, spürt, dass der Eindringling ihr nicht so fremd ist wie zunächst vermutet. Dann kehrt ihr Gatte heim, er trägt Uniform, und es gibt sofort Ärger. Der Geflüchtete merkt, dass in diesem Haus das Unheil wohnt.

Nein, wir sind nicht in einem Tatort-Krimi. Sondern am Beginn von „Die Walküre“, dem zweiten Abend von Richard Wagners „Ring des Nibelungen“, das Großereignis zum Beginn der Spielzeit an der Staatsoper Berlin, in der eigenwilligen, frechen Interpretation des russischen Starregisseurs und Bühnenbildners Dmitri Tcherniakov.

Generalmusikdirektor Daniel Barenboim hatte sich die Produktion zum 80. Geburtstag gewünscht. Und musste nun schwer erkrankt das Dirigat abgeben. Christian Thielemann sprang kurzfristig ein. Thielemann, ausgerechnet. Beiden Pultstars wird eine jahrzehntelange Gegnerschaft bescheinigt. Nun diese große menschliche Geste, vor allem von Seiten Barenboims. Und nicht wenige sehen plötzlich im gebürtigen Berliner Thielemann, dessen Vertrag an der Dresdner Semperoper ausläuft, einen heißen Kandidaten für die Nachfolge Barenboims Unter den Linden.


Ein Kraftakt für das gesamte Haus


Vier Premieren innerhalb einer Woche, das rund 16-stündige Hauptwerk Wagners ist ein Kraftakt für das gesamte Opernhaus, auch für das Publikum. Großer Andrang, wenige Karten. Ich durfte die beiden mittleren Teile der Tetralogie erleben, „Die Walküre“ und „Siegfried“, kam also gewissermaßen in den Genuss des halben „Rings“.

Die Regie gibt sich lässig verspielt, dabei auf den ersten Blick eher nüchtern, fast wissenschaftlich unterkühlt. Kein Wunder, wenn die nordische Mythenwelt in ein Forschungslabor der Neuzeit verlegt wurde. Tcherniakov hat dafür eine, wie man hört, millionenschwere Bühne bauen lassen, mit mehreren Etagen, dreh- und senkbar, mit Wohnräumen, Büros, Laboren mit Versuchtstier-Käfigen, einem Hörsaal, Behandlungszimmern sowie einem riesigen Baum – der Esche, aus deren Holz Wotans Speer geschnitzt ist.

Wotan ist hier der Chef des Instituts, Siegmund und Sieglinde, die unehelichen Kinder, sind seine Versuchskaninchen. Doch das Experiment gerät aus dem Ruder, die ineinander unglücklich verliebten Zwillinge flüchten aus dem Institut. Wotans Gattin Fricka redet rein, denn sie ist gegen die inzestuöse Verbindung, Sieglinde soll zu ihrem angetrauten Gatten zurück. Ausgerechnet Brünnhilde, die aus einem anderen Seitensprung Wotans mit der Zauberin Erda hervorgegangene Tochter, soll es richten. Und gerät dabei selbst in heftige seelische Nöte, im Widerstreit von Zuneigung und Gewissen.


Parodie statt Pathos


Das klingt alles sehr menschlich und ist es auch. Wagner erscheint hier nicht als Erlöser der Welt. Ja, es wird es zunehmend parodistisch, wodurch sich das Ganze trotz vieler szenischer Einfälle ein wenig tot läuft. Eine Götterdämmerung im alt hergebrachten Sinn gibt es bei Tcherniakov nicht, der Regisseur kennt keine Götter. Alles Pathetische treibt die Inszenierung aus. Siegfried, der strahlende germanische Held? Von wegen. Er ist ein halbstarker Nichtsnutz im Jogginganzug. Aufgewachsen im Labor, zu keiner Sozialisation und auch nicht zur Liebe fähig.

Das szenische Geschehen konterkariert das, was wir von den phantastischen Sängern und aus dem Orchestergraben zu hören bekommen. Allen voran Michael Volle als Wotan, hier eine tragische, zerrissene Figur, die in „Siegfried“ in der Person des Wanderers wiederkehrt. Eine Herkulesaufgabe für den Bariton, die er mit Bravour meistert.

Einen Sensationserfolg verbucht die junge litauische Sopranistin Vida Miknevičiūtė als Sieglinde, Robert Watson als Zwillingsbruder Siegmund hat es an ihrer Seite schwer (trotzdem sind einige Buhs am Ende unverschämt). Bessere Stimmen wie Anja Kampes Brünnhilde und Andreas Schagers alles überstrahlenden Tenor als Siegfried, wie Claudia Mahnke als dominante Direktorengattin Fricka, Anna Kissjudit als mütterlich anmutende Erda oder den genialen Stephan Rügamer als hinterhältiges Nervenbündel Mime kann man sich kaum vorstellen.


Eine Meisterleistung Thielemanns


Dass alles so wohl artikuliert klingt, jede noch so kleine Nuance und jede Silbe durchdringt, liegt natürlich auch an Christian Thielemann und der Staatskapelle Berlin, die voll im Sinne der Gesangsstimmen agieren, dafür oft spürbar Tempo und Lautstärke drosseln. Selten habe ich Wagner so transparent, so wenig martialisch, so anrührend, kurz so menschlich gehört. Musikalisch, szenisch und auch kulturpolitisch darf man diese „Ring“-Premiere schon zu den wichtigsten Ereignissen der Opernsaison zählen.

Staatsoper Berlin, weitere Aufführungen.

Leider können wir unseren Mitgliedern für den „Ring“ keine Karten zur Verfügung stellen.
ARTE zeigt „Das Rheingold“ am 29. Oktober 2022 um 21.45 Uhr live zeitversetzt. Der ganze „Ring“ ist ab 19. November mehrere Wochen auf arte.tv/concert abrufbar.

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2. Deutsches Theater - Die Kunst, ein Egoist zu sein

Stimmungsvolles Gesamtkunstwerk: „Der Einzige und sein Eigentum“ nach Max Stirner am Deutschen Theater © Arno Declair
Stimmungsvolles Gesamtkunstwerk: „Der Einzige und sein Eigentum“ nach Max Stirner am Deutschen Theater © Arno Declair

Auch an Berlins Sprechbühnen wird zurzeit viel gesungen. Was nicht bedeutet, dass man nichts zu sagen hätte. „Ein Stück Musiktheater“ präsentiert Sebastian Hartmann zum Spielzeitauftakt am Deutschen Theater. Der Regisseur, Bühnenbildner und Autor ist alles andere als ein Geschichtenerzähler. Denkräume sind ihm wichtiger als Handlungsstränge. Mit Patrick Christensen alias PC Nackt, dem international angesagten Musiker, hat sich Hartmann nun über einen Text hergemacht, der zuerst einmal trockene Theorie befürchten lässt: „Der Einzige und sein Eigentum“ von Max Stirner (1806-1856), den alle nur „den Einzigen“ nannten, weil seiner 1844 erschienenen Schrift keine weitere folgte.

Stirners Opus magnum basiert auf heftigen Diskussionen in Hippels Weinstube am Berliner Gendarmenmarkt. In diesem Debattierclub stritt man unter anderem über eine radikal atheistische Aufklärung und eine Philosophie der Tat. Im jugendlichen Überschwang des Junghegelianers hat Sebastian Hartmann das dramatische Potenzial erkannt.

Es ist eine Art Elektro-Pop-Oper geworden, mit je drei großartigen Darstellerinnen (Linda Pöppel, Anja Schneider, Cordelia Wege) und Darstellern (Elias Arens, Felix Goeser, Niklas Wetzel), die mit für sie bislang ungewohnter Vokalakrobatik brillieren. Fast alles von Stirner hat Hartmann in Gesangsverse gegossen, auch wenn mal nur gesprochen wird, wie in einer längeren Phase mit dem großartigen Elias Arens, dann wird der Text kunstvoll rhythmisiert. Die Musik, live vorgetragen von PC Nackt mit seinem Perkussionisten Earl Harvin, geht überraschend einfach in die Gehörgänge.


Im Labyrinth der Gedanken


Zum atmosphärischen großen Ganzen tragen die vielen Kostüme von Adriana Braga Peretzki bei, die aus surrealistischen Bildern oder Filmen stammen könnten. Ein Blickfang ist auch die von Hartmann entworfene Szenerie. Ein sich drehendes Gebäude, das ein bisschen an die „Kaffeemühle“, das New Yorker Guggenheim Museums erinnert. Umgeben von Wolken und Nebelschwaden, begleitet von Filmprojektionen (Roman Kuskowski) wird es zur Denkmühle, einem Labyrinth der Gedanken, in dem sich die Sechsergruppe in Ronni Maciels wundersamer Choreographie oft taumelnd, wie Getriebene bewegt.

Hartmann sieht Stirner mehr als Begleiter denn als geistigen Anführer. Über dessen ethischen Egoismus kann man streiten. Der viel zitierte Ausspruch „Mir geht nichts über mich“, bedeutet, dass man nichts „über sich“ akzeptiert, nichts Heiliges, keinen Gott, keinen König, keine Nation.

So erleben wir eine Art Revue über die Kunst, ein Egoist zu sein. Vielleicht erinnern Sie sich noch an das Sachbuch, das vor vielen Jahren in den Bestellerlisten stand. Wer das Leben, das er wirklich will, führen lernt, der hilft auch seinem Umfeld. Nicht um verwerflichen Eigennutz geht es in Hartmanns unterhaltsamem Gesamtkunstwerk. Vielmehr bietet die Besinnung auf das Ich, das Hinwegsetzen über gesellschaftliche und kulturelle Konvention, die einzige Chance, die Welt zu retten.

Andererseits: Wenn Menschen ohne Korrektiv handeln dürfen, ist das nicht ohne Risiko. Die Weltgeschichte bietet dafür eine Reihe furchtbarer Beispiele...

Deutsches Theater, 30. Oktober, 17. und 27. November. Hier geht’s zu den Karten.

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3. Renaissance Theater - Alte Komödie neu entdeckt

Englischer Intrigantenstadl: Jacqueline Macaulay als Zofe Flippanta und Daniel Warland als Kleinkrimineller Brass in „Das Halsband“ © David Baltzer
Englischer Intrigantenstadl: Jacqueline Macaulay als Zofe Flippanta und Daniel Warland als Kleinkrimineller Brass in „Das Halsband“ © David Baltzer

Mag der Ring des Nibelungen für die Weltherrschaft stehen, so ist es in einer englischen Komödie ein Halsband, das als Symbol für eine geldgeile Community dient. Das edle Geschmeide wird verschenkt, vermisst, verpfändet, gestohlen. Sein wirklicher Wert spielt dabei keine Rolle, es geht nur um die Summe, die man dafür zu zahlen bereit ist. Ein fiktiver Wert, der an heutige Börsenkurse denken lässt.

„Das Halsband“
, eine bissige Satire aus dem Jahr 1705, stammt aus der Feder des umtriebigen John Vanbrugh (1664-1726). Der war ein weltläufiger Geschäftsmann, zeitweise Undercover-Agent in Diensten seiner Majestät, Mitglied des liberalen Kit Kat Club, der das Parlament stärken wollte, bedeutender Architekt des englischen Frühbarock, dazu Theater-Impresario am Londoner Haymarket (wo er finanziellen Schiffbruch erlitt) und nicht zuletzt Verfasser von aufmüpfig-schlüpfrigen Bühnenwerken, die auf der Insel bis heute beliebt sind. Nun bringt das Renaissance Theater, zur Eröffnung seiner 100. Spielzeit, „Das Halsband“ zur deutschsprachigen Erstaufführung, in einer hauseigenen Neuübersetzung und Bearbeitung.

Ausgangspunkt des tollen Treibens in dieser „Post-Renaissance-Komödie“ sind zwei reiche alte Wüstlinge, die jeweils die Gattin des anderen begehren. Doch die beiden Ehefrauen schließen sich zusammen, um ihre Männer richtig zu schröpfen. Mit der Beute und mit Hilfe der abgezockten Zofe Flippanta wollen sie ein Glückspielunternehmen auf die Beine stellen. Eine Tochter aus früherer Ehe, eine resolute Pfandleiherin, ihr krimineller Sprössling und dessen hinterhältiger Kumpan bringen zusätzliche Verwirrung


Puppenspiel liebestoller Senioren


In der Inszenierung von Intendant Guntbert Warns entdeckt eine junge Schauspieltruppe die alte Komödie neu. Als Clou hat Dieter Malzacher zwei lebensgroße Schaumstoffpuppen gebaut. Gespielt von Matthias Redekop und Paul Simon Kemner stellen sie die beiden liebestollen Senioren dar.

Das Ränkespiel, in dem auch die Intriganten mitunter reingelegt werden, erinnert an Commedia dell'arte. Man versucht es in italienischem Tempo darzubieten, also rasant und bisweilen schrill. Nachteil: Der Text ist schwer zu verstehen. So will der Funke nicht wirklich überspringen, trotz des spürbaren Einsatzwillens aller Beteiligten, die man zum Teil an diesem Haus schon in anderen Rollen bewundern durfte. Am überzeugendsten agiert diesmal Jacqueline Macaulay als schnoddrige Zofe, die listig die Fäden in der Hand hält.

Renaissance Theater, 30. und 31. Oktober, 1.bis 6. November; 10. bis 14. Januar, 28., 29.und 31. Januar und 1. Februar 2023. Hier geht’s zu den Karten.

 

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