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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 405

Kulturvolk Blog | Uwe Sauerwein

von Uwe Sauerwein

29. August 2022

HEUTE: 1. WIEDERAUFNAHME „CABARET“ – TIPI AM KANZLERAMT / 2. HORST EVERS: „ICH BIN JA KEINER, DER sich an die grosse glocke hängt“ – die wühlmäuse / 3. „RUACH – DER WIND GOTTES“ – ms gOLDBERG / 4. AUSSTELLUNG „DIE FORM DER FREIHEIT“ – MUSEUM BARBERINI POTSDAM / 

1. Tipi am Kanzleramt - Der spröde Charme der Toleranz

Für mich? Barbara Schnitzler als Fräulein Schneider erhält in „Cabaret“ von Obsthändler Schultz (Dirk Schoedon) einen Heiratsantrag. © Barbara Braun
Für mich? Barbara Schnitzler als Fräulein Schneider erhält in „Cabaret“ von Obsthändler Schultz (Dirk Schoedon) einen Heiratsantrag. © Barbara Braun

Im gesetzten Alter will es Fräulein Schneider noch mal wissen. Oder besser: Sie könnte sich vorstellen, es noch einmal wissen zu wollen. Herr Schultz, Betreiber eines Obsthandels am nahe gelegenen Nollendorfplatz, hat ihr einen Heiratsantrag gemacht, statt mit Blumenstrauß mit einer Ananas. Doch Gefühlsüberschwang, Freudenausbrüche gar, sind nun gar nicht die Sache der nüchternen Zimmerwirtin. Sie werde über den Antrag nachdenken, erklärt sie ihrem Verehrer. Immerhin: „Sie haben guten Grund, optimistisch zu sein.“

Fräulein Schneider ist eine ganz wichtige Rolle in „Cabaret“, dem Broadway-Erfolg mit der Musik von John Kander und den Texten von Fred Ebb. Das Stück, zum Großteil entstanden nach dem autobiografischen Roman von Christopher Isherwood, an dessen früheren Wohnsitz in Schöneberg heute eine Gedenktafel erinnert, gilt als das Berlin-Musical schlechthin. Man hat ja meist nur Sally Bowles und den Conferencier vor Augen, wenn man an das Erfolgsmusical aus dem Jahr 1966 denkt. Das liegt vor allem an der Verfilmung, mit der Liza Minelli sechs Jahre später als Sally zum Weltstar wurde. In der Kino-Version ist Fräulein Schneider weniger präsent als auf der Bühne. Trotzdem: Ohne die Vermieterin würde die Geschichte nicht funktionieren.

Äußerlich gibt Fräulein Schneider den strengen Geist des Hauses. Doch weil sie ein großes Herz hat und die existenziellen Nöte ihrer Mieterinnen und Mieter nicht ignoriert, drückt sie oft mehr als ein Auge zu. Etwa bei Fräulein Kost: Ohne die wechselnden Herrenbekanntschaften, in der Regel angetrunkene Matrosen, käme die Dame finanziell nicht über die Runden. Oder bei dem merkwürdigen Schriftsteller aus Amerika, Clifford Bradshaw, dessen Budget für die Unterkunft sehr begrenzt ist. Und der dann auch noch seine Freundin bei sich einquartiert, Sally Bowles, die gerade ihren Job als Sängerin im Kit Kat Klub verloren hat…


Barbara Schnitzler verkörpert Fräulein Schneider


Bei der Uraufführung im Broadhurst Theatre in New York City war Lotte Lenya als Fräulein Schneider zu sehen. Seitdem ist die Zimmerwirtin eine dankbare Aufgabe für Vollblutschauspielerinnen. So auch im Berliner Dauerbrenner, der seit 2004 in der Bar jeder Vernunft und im Tipi am Kanzleramt bejubelt wird. Angela Winkler, Maria Körber, die vor wenigen Tagen verstorbene Eva Maria Hagen, Katrin Ackermann, Ilona Schulz und Maria Körber, alle sehr prominente Darstellerinnen also, waren als Fräulein Schneider zu erleben. Als Maria Körber 2005 einen Unfall hatte, sprang ihre Freundin Regina Lemnitz kurzfristig ein – und blieb der Produktion bis heute treu. Sie spielte auch jetzt im Juli die Wiederaufnahmepremiere.

Nach zweijähriger Corona-Unterbrechung heißt es im Tiergarten wieder „Willkommen, Bienvenue, Welcome“ in alternierender Besetzung. Regina Lemnitz wechselt sich seit August mit Barbara Schnitzler ab. Die meistert ihre Aufgabe ebenfalls bravourös, mit sprödem Charme und leicht brüchiger Gesangsstimme, sodass man glaubt, die Rolle sei für sie geschrieben worden. Barbara Schnitzler ist die Tochter der großen Schauspielerin Inge Keller und des DDR-Fernsehpropagandisten Karl-Eduard von Schnitzler (die Ehe hielt vier Jahre). Wie ihre Mutter gehörte auch Barbara Schnitzler bis 2018 fest zum Ensemble des Deutschen Theaters. An der Oper in Halle spielte sie 2019 erstmals in „Cabaret“, dem Konzept-Musical, das die Atmosphäre der vergnügungssüchtigen, toleranten und weltoffenen Metropole, in der jede(r) jede(n) lieben darf, so mitreißend wiedergibt.


Das Zelt wird zum Kit Kat Klub


Der furchtbare Umbruch, der sich in Deutschland zu Beginn der 1930er-Jahre abspielt, wird nicht zuletzt in der Person des Fräulein Schneider und ihrer Liaison mit Herrn Schultz deutlich. Herr Schultz ist Jude. Dass beiden das Masel, das Glück, das er immer wieder beschwört, nicht beschieden sein wird, ahnt man spätestens bei der Verlobungsfeier, die von einem SA-Mann gestört wird. „Politik, was hat das mit uns zu tun?“ fragt Sally naiv. Schon dieses Satzes wegen besitzt „Cabaret“ nach wie vor Aktualität.

Das gesamte Theaterzelt wird zum Kit Kat Klub. Das funktioniert fast genauso gut wie zuvor in der kleineren Bar jeder Vernunft. Reduktion ist das Erfolgsrezept der Inszenierung des weltbekannten Regisseurs und Choreografen Vincent Paterson. Das gilt auch für die wahnsinnig gute Fünf-Mann-Kapelle unter Damian Omansen, die zu Recht zu den Stars des Abends zählt.

Eine quicklebendige Produktion. Ob sie weitere 18 Jahre durchhält? Fräulein Schneider würde sagen: Wir haben guten Grund, optimistisch zu sein.

Tipi am Kanzleramt, bis 25. September, Di – Sa 20 Uhr, So 19 Uhr. Hier geht es zu den Karten.

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2. Wühlmäuse - Von kleinen Irritationen zu großen Problemen

Steigert in seinen satirischen Geschichten banale Alltäglichkeit ins Absurde: Kabarettist Horst Evers.  © Thomas Nitz
Steigert in seinen satirischen Geschichten banale Alltäglichkeit ins Absurde: Kabarettist Horst Evers. © Thomas Nitz

Sommer in Berlin. Baustellen und verbreiterte Radwege bringen es mit sich, dass der Drahtesel-Verkehr mancherorts mitten durch die draußen aufgestellten Tische und Stühle von Cafés und Restaurants führt. Für den Gast heißt es dann, die Kaffeetasse vor heran donnernden Rennrädern, Mountain-Bikes, Lastenrädern oder Elektrorollern zu retten. Das trainiert die Reflexe. Sollte man also in seinem Leben einmal in Texas in eine wilde Viehherde geraten, ist man froh, solch eine Schulung erhalten zu haben. „Wer einige Jahre in Berlin gelebt hat, der ist auf alles vorbereitet.“

So oder ähnlich muss man sich die Gedankensprünge des Horst Evers vorstellen. Eigentlich heißt der Kabarettist gar nicht Horst Evers. Seinen Künstlernamen konstruierte er sich nach Evershorst, einem Naturschutzgebiet in der Nähe seines Geburtsortes Diepholz in Niedersachsen. 1987 kam er nach Westberlin, wurschtelte sich, wie so viele Neuankömmlinge, erstmal als Taxifahrer und bei der Post durch, bevor er sich auf sein wahres Talent, das Verfassen satirischer Alltagsgeschichten, konzentrierte. Mit stetig wachsender Resonanz.

Der Mann, der bis heute im roten Hemd auftritt, hat auch meinen Werdegang als Rezensent ein gutes Stück begleitet. Satire war lange mein Spezialgebiet. Evers erlebte ich bei Veranstaltungen in der alternativen Szene, wo er als Autor des von ihm mitbegründeten Magazins „Salbader“ seine Texte live vortrug und so zum Pionier der Lesebühnen wurde. Regelmäßig berichtete ich über sein Ensemble Mittwochsfazit, dessen kabarettistischer Jahresrückblick seit langem Kultstatus genießt. Selbst im Schloss Bellevue beim Bundespräsidenten, Köhler hieß der damals, durfte ich Evers mal bewundern.


Das Leben als kalte Dusche


Zahlreiche Auszeichnungen der Kleinkunst, zuletzt im vergangenen Jahr den Deutschen Kabarettpreis, konnte der Mann mit dem lichten Haar schon entgegennehmen. Auch wenn sein Vortrag mit den Jahren immer perfekter und die Anhängerschaft immer breiter wurde, hat sich Evers ein Stück vom alten Sponti-Geist bewahrt, der jedoch, mit norddeutscher Nüchternheit vorgetragen, nie aggressiv rüberkommt.

So auch in seinem aktuellen Programm im Kabarett-Theater Die Wühlmäuse. „Ich bin ja keiner, der sich an die große Glocke hängt“, nennt er es in der von ihm gewohnten Bescheidenheit. Vor den großen Nöten der Welt verschont Horst Evers sein Publikum. Ohnehin sei das Leben momentan eine einzige kalte Dusche, da müsse er nicht noch tiefer bohren. Wie meistens ist das Programm wieder als Lese-Abend konzipiert. Wobei er vom Manuskript, dessen Buchstaben mit den Jahren und schwindender Sehkraft immer größer geworden sind, unzählige Male abweicht, sich und das Publikum fragt: „Worüber rede ich hier eigentlich?“

Ja, worüber? Meist fangen die Geschichten ganz harmlos, fast banal an. In einem Café, wo der Kellner die Gäste unbedingt zu einer Marzipantorte überreden will. Am Telefon, wenn mal wieder ein Marktforscher anruft. Im Taxi, wenn ein Besoffener sein Fahrziel nicht zu artikulieren weiß. Im Kaufhaus, wo jemand seinen Anzug umtauschen will. Und auch in den Sozialen Netzwerken, wenn ein Einkaufszettel über WhatsApp in die falschen Kanäle gerät. Kleine Ursachen, die jeweils eine fatale Wirkung haben.


Große Kleinkunst


Die Kunst, mit der Evers die abenteuerlichen Entwicklungen konstruiert und rüberbringt, steht durchaus in der Tradition von Satire-Altmeistern wie Ephraim Kishon oder Loriot. Genialität offenbart der Kabarettist, wenn er völlig überraschend zwischen den einzelnen Geschichten Querverbindungen schafft.

Evers kokettiert gern damit, dass er vieles kann, aber von allem nur ein bisschen. Damit spricht er mir aus der Seele. Und das Bisschen, das zeigt der Abend, das beherrscht er mittlerweile ziemlich gut. Neben den Wühlmäusen in Charlottenburg spielt er das neue Programm demnächst auch im Kreuzberger Mehringhof-Theater.

Die Wühlmäuse, nächste Vorstellungen 24. und 25. September, 17. bis 19. November. Hier geht es zu den Karten.
Mehringhof-Theater, nächste Vorstellungen 3. bis 9. Oktober.

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3. MS Goldberg - Vom Wind, der den Geist beflügelt

Theatralische Collage nach talmudischem Muster: Max Doehlemann, Andrea Chudak, Ekaterina Gorynina und Uli Pleßmann (von links) beim Schlussapplaus.  © MS Goldberg
Theatralische Collage nach talmudischem Muster: Max Doehlemann, Andrea Chudak, Ekaterina Gorynina und Uli Pleßmann (von links) beim Schlussapplaus. © MS Goldberg

„Ach, ist das hier ein Theater?“ Ein zufällig vorbeikommendes Paar wundert sich beim Blick auf das Programmplakat an der Reling. Bei MS Goldberg, dem Schiff, vor dem sie stehen, handelt es sich um Deutschlands erstes jüdisches Theaterschiff.

Von der Anlegestelle, 100 Meter entfernt vom Bahnhof Wannsee, laufen sonst die Ausflugsschiffe aus, entweder Richtung Innenstadt oder über die Havelseen nach Potsdam und weiter. Die Goldberg hingegen, für Fracht und nicht für Passagiere konzipiert, bleibt vor Anker. Und entführt ihr Publikum doch mitunter in ferne Welten und Zeiten.

„Ruach – Der Wind Gottes“ heißt das theatralische Panoptikum, das an diesem Abend gegeben wird. Das hebräische Wort „Ruach“ kommt bereits in den ersten Sätzen der Bibel vor. In Theologie und Linguistik wird seit jeher debattiert, ob mit dem Begriff Wind, Rauschen, Geist oder Atem gemeint ist, wahrscheinlich alles. Auf jeden Fall steht „Ruach“ für den geistigen Wind, dem sich bis zu 200 Interessierte im mit Stuhlreihen ausgestatteten Bauch des früheren Industriefrachters aussetzen dürfen.


Ein langer Traum ging in Erfüllung



Wenn denn so viele Menschen kommen. Wie viele Spielstätten befindet sich MS Goldberg, trotz großen medialen Echos, finanziell in schwierigem Fahrwasser. Für den erfahrenen Kulturmanager Peter Sauerbaum erfüllte sich im Frühjahr ein Traum, als sein Theaterschiff, das einst Kies über die Elbe schipperte, nach langer Umbauzeit und bürokratischer Odyssee mit einer Inszenierung von Armin Petras eröffnen konnte. Erster Anlegeplatz war das Havelufer in Spandau, seit August nun spielt man am Wannsee.

Mitte September, zeitlich parallel zu den Jüdischen Kulturtagen, geht es an den Schiffbauerdamm, danach in den Potsdamer Hafen. Zu „Weihnukka“, wie der liberale Berliner Jude scherzhaft die Zeit um das christliche Weihnachten und das jüdische Lichterfest Chanukka bezeichnet, will Sauerbaum mit einem Projekt zu diesen Feiertagen an den Schiffbauerdamm zurückkehren.

Man darf hoffen, dass sich alle seine Wünsche erfüllen. Das Unternehmen ist auf Spenden angewiesen, in manchen Bereichen muss improvisiert werden, etwa bei der Bewirtung, für die nach wie vor die nötigen Genehmigungen fehlen. Der Eindruck des Unfertigen steht im Kontrast zur professionellen Darbietung versierter Künstlerinnen und Künstler auf der kleinen Spielfläche.


Vom Talmud inspirierte Collage


Auf „Ruach“, die szenische und musikalische Collage des Komponisten und Pianisten Max Doehlemann, der auf der Goldberg für die Musik zuständig ist, muss man sich erst einlassen. Eine stringente Handlung gibt es nicht. Mit Sopranistin Andrea Chudak, Bassbariton Uli Pleßmann und Cellistin Ekaterina Gorynina, die auch darstellerisch überzeugen, mischt er Musiktheater, Literatur, Konzert und Schauspiel. Das führt von der Schöpfungsgeschichte zur Seelenwanderung, über Kafkas „Verwandlung“ und Meyrinks „Golem“ zu Heine, Tucholsky und Mühsam, über Klänge von Telemann bis Ligeti zu Sigmund Freud, der biblischen Jakobsleiter und zur Mystik der Kabbala.

Nicht jedes Detail muss man als Zuhörer genau erfassen, man soll das Ganze assoziativ auf sich wirken lassen. Der unterhaltsame wie lehrreiche Mix ist inspiriert von der Struktur des Talmud, der oft sprunghaft in Kommentaren und Geschichten von einem Begriff zum nächsten führt. Insofern steht diese gelungene Produktion für das gesamte Programm auf dem Motorschiff Goldberg. Neben oft genreübergreifendem Theater, neben Kabarett und Konzerten zwischen Klassik, Swing und traditioneller Musik, gibt es aktuelle Diskussionsabende sowie ein Kino-Programm.

Eine Vielseitigkeit, die nicht zuletzt dem enormen Erfahrungsschatz des Intendanten zu verdanken ist. Peter Sauerbaum hat in der Leitung von etlichen großen Kulturinstitutionen gearbeitet, unter anderem im Berliner Ensemble, der Deutschen Oper Berlin, den Jüdischen Kulturtagen und dem Jüdischen Museum, er war Intendant des Brandenburgischen Staatsorchesters und leitet nach wie vor den Choriner Musiksommer. So entstand ein Netzwerk, das Sauerbaum bei der Bewältigung des Abenteuers Theaterschiff sicher eine große Hilfe sein wird.

MS Goldberg, bis 11. September am S-Bahnhof Wannsee, Anlegestelle Stern- und Kreis-Schiffahrt, Brücke 1. Ab 13. September Schiffbauerdamm, 10117 Berlin-Mitte, Höhe Friedrichstraße/Albrechtstraße. Weitere Vorstellung von „Ruach – Der Wind Gottes“ am 14. September, 20 Uhr.

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4. Museum Barberini - Freiheit erscheint abstrakt

Neue Bildsprache: Blick in die Ausstellung „Die Form der Freiheit“ im Museum Barberini.  © VG Bild-Kunst, Bonn 2022, Foto: David von Becker
Neue Bildsprache: Blick in die Ausstellung „Die Form der Freiheit“ im Museum Barberini. © VG Bild-Kunst, Bonn 2022, Foto: David von Becker

Die Leinwand ist eine Bühne. Frei und spontan soll sich Kreativität auf ihr entfalten. So dachten und fühlten die Malerinnen und Maler der Avantgarde nach 1945. Der vorangegangene gewaltige Zivilisationsbruch erforderte eine neue Bildsprache. Man entwickelte keinen einheitlichen Stil. Aber man war sich einig, dass Malerei nicht mehr die äußere Realität abbilden solle. Intuition und expressiver Ausdruck, das Unbewusste, Irrationale wurden zum wichtigsten Anliegen. Die so genannte Abstraktion sei für ihn durchaus keine Abstraktion, so der New Yorker Künstler Adolph Gottlieb 1947. „Im Gegenteil, sie ist der Realismus unserer Zeit.“

Kunst als Ausdruck der Freiheit, das brachte auch neue malerische Techniken und Gesten mit sich: Action Painting, All-Over Effekte, die statt räumlicher Illusion die Leinwand als zweidimensionale Fläche betonen. Color Field Painting und der so genannte Staining Prozess, der sogar die Faserung der Malfläche in das Kunstwerk einbezieht.

Mit diesen revolutionären Entwicklungen der Kunstgeschichte kann man sich noch bis Ende September im Potsdamer Museum Barberini in einer schon von den Dimensionen her beeindruckenden Sonderschau beschäftigen. „Die Form der Freiheit. Internationale Abstraktion nach 1945“ widmet sich den beiden bedeutendsten Entwicklungen abstrakter Malerei nach Ende des Zweiten Weltkriegs, dem Abstrakten Expressionismus in den Vereinigten Staaten sowie der Malerei des Informel in Westeuropa.


Potsdamer Publikumsmagnet


Mehr als 50 Künstlerinnen und Künstler sind in der von Daniel Zamani klug kuratierten Schau mit rund 100 Werken vertreten, Leihgaben kommen aus mehr als 30 internationalen Museen und Sammlungen. Wer diese Kunst vor allem nur gedruckt oder vom Bildschirm her kannte und bisher mit abstrakter Malerei nicht allzu viel anzufangen wusste, wird hier zum Fan, direkt konfrontiert mit den meist großformatigen Bildern eines Jackson Pollock, eines Mark Rothko, eines Georges Mathieu, Jean Dubuffet, von zurecht zahlreich vertretenen Künstlerinnen wie Mary Abbott, Lee Frankenthaler oder Lee Krasner.

Mit dieser Ausstellung hat das 2017 eröffnete Museum Barberini erneut einen Hit gelandet. Wie man überhaupt die Einrichtung eines Kunstmuseums im rekonstruierten klassizistisch-barocken Palais am Alten Markt durch den Unternehmer Hasso Plattner zu den erfolgreichsten Museumsgründungen der jüngeren Vergangenheit zählen muss. Das Ausstellungskonzept baut auf internationale Kooperationen. Präsentationen der amerikanischen Moderne, Ausstellungen etwa von Werken von Gerhard Richter, Vincent van Gogh und Claude Monet wurden wie erwartet zu Publikumsmagneten. Auch Corona-Schließungen wusste das Barberini zu verkraften.

Als ständige Ausstellung neben den Sonderschauen verfügt das Museum seit September 2020 mit der Sammlung Hasso Plattner über eine weitere Attraktion mit enormer Strahlkraft. Die Sammlung des Mäzens, Mitbegründer des Software-Imperiums SAP, umfasst mehr als 100 Arbeiten des französischen Impressionismus und Post-Impressionismus, darunter allein rund 40 Werke von Monet.


Inspiriert von Impressionisten und Surrealisten


Als Kontrapunkt dazu sollte man die Kunst der Abstrakten nicht verstehen. Wichtige Werke aus Plattners Kollektion von Norman Bluhm, Joan Mitchell und Sam Francis waren Ausgangspunkt für die aktuelle Sonderausstellung. Auch die Avantgarde fällt ja nicht aus dem heiteren Himmel, sie hat Vorläufer, Inspirationen, Gegen- und Vorbilder. Viele abstrakte Maler und Malerinnen hatten sich mit dem Impressionismus, nicht zuletzt mit den Naturdarstellungen und den Seerosenbildern Monets, auseinandergesetzt. Auch der Surrealismus spielte eine prägende Rolle in der Entwicklung der Abstrakten, wie man an den frühesten Werken in der Ausstellung unschwer erkennt.

Immer sind Ausstellungen im Barberini mit wissenschaftlichen Diskursen verbunden. Mit jeder Schau sollen auch neue kunsthistorische Erkenntnisse erlangt werden. Abstrakter Expressionismus in den USA und Informel in Europa galten bislang als separate, eigenständige Entwicklungen. Die Ausstellung unterstreicht dagegen, wie intensiv und nachhaltig die transatlantische Wechselwirkung vonstatten ging. Nicht zuletzt deshalb, weil viele amerikanische Künstlerinnen und Künstler aus Europa stammten. In Galerien wie Peggy Guggenheims Art of the Century konnten sich junge amerikanische Malerinnen und Maler mit Kunstschaffenden im Exil austauschen. Eine wichtige Triebfeder bei der Entwicklung der Moderne in den USA.


Politische Instrumentalisierung


In der Alten Welt, im Westen Europas, wurde die Krise der Menschheit nach Ende des Zweiten Weltkriegs noch unmittelbarer empfunden. Hier entwickelten Künstler wie Georges Mathieu oder Judit Reigl eine eigene Spielart des Action Painting, an der Grenze zu Happening und Performance. Spontane dynamische Prozesse, für die sich gerade deutsche Malerinnen und Maler begeisterten, denen während der Nazi-Diktatur eine Beschäftigung mit der internationalen Moderne in der Regel verwehrt geblieben war. Schon zu Beginn der 1950er Jahre wurde die Bundesrepublik zum Zentrum der informellen Malerei, die für eine neue künstlerische Freiheit stand. Informel galt als Ausdrucksform des demokratischen Westens. Und damit als Gegenentwurf zum verordneten sozialistischen Realismus der DDR.

So wurde Kunst auch im Westen politisch instrumentalisiert. Auch das macht „Die Form der Freiheit“ bewusst. Was nicht zuletzt deswegen spannend ist, weil Museumsstifter Plattner auch über eine umfangreiche Sammlung von DDR-Kunst verfügt. Diese Arbeiten sollen als jüngstes Projekt der Hasso Plattner Foundation ab 24. September im Kunsthaus „Minsk“, dem ehemaligen Terrassenrestaurant an der Max-Planck-Straße, in Wechselausstellungen gezeigt werden. „Die Form der Freiheit“ indessen zieht nach Potsdam in die Albertina modern in Wien (mit zusätzlichem Schwerpunkt Avantgarde, Marke Austria) und weiter ins Munch-Museum in Oslo.

Museum Barberini Potsdam, bis 25. September.

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