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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 398

Kulturvolk Blog | Sibylle Marx

von Sibylle Marx

30. Mai 2022

HEUTE:

1. „Ich bin Vincent und ich habe keine Angst“ – ATZE Musiktheater UND „Das schönste Mädchen der Welt“ – GRIPS Theater / 2. „Bettina“ – Dokumentarfilm von Lutz Pehnert

1. ATZE Musiktheater und GRIPS Theater - Mobbing besiegen mit Freundschaft und Liebe

„Ich bin Vincent und ich habe keine Angst“ im ATZE Musiktheater © Jörg Metzner
„Ich bin Vincent und ich habe keine Angst“ im ATZE Musiktheater © Jörg Metzner

Mobbing unter Kindern und Jugendlichen ist in den letzten Jahren zu einem Problem geworden, mit dem wohl jede Schule zu kämpfen hat. Die Opfer werden verbal attackiert, auf dem Schulhof geschubst, auf dem Nachhauseweg verprügelt, manchmal geschieht auch Schlimmeres. Lehrer:innen und Eltern bekommen oft nichts mit, weil die Betroffenen versuchen, allein klarzukommen, aus Angst, dass es ihnen noch schlimmer ergeht, wenn sie sich hilfesuchend an die Erwachsenen wenden. Zwei neue Produktionen in Berliner Kinder- und Jugendtheatern widmen sich diesem Thema und beide tun das in erfrischend lockerer und unverkrampfter Weise.

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Im ATZE Musiktheater „Ich bin Vincent und ich habe keine Angst“, nach dem Roman der niederländischen Autorin Enne Koens – wird der elfjährige Vincent (Jonathan Bamberg) von seinen Mitschüler:innen drangsaliert. Warum? Er weiß es nicht, angeblich ist er anders, aber was heißt das, und was ist schlimm daran, anders zu sein? Vincent hat Angst. Die Hoffnung auf Hilfe hat er genauso aufgegeben wie die Hoffnung auf einen Freund. Als er auf der Klassenfahrt von zwei Mitschülern mit einem Messer verletzt wird, haut er ab und versteckt sich im Wald. Überleben hat er schon länger trainiert, wenn auch nur theoretisch. Jetzt kann er sein Wissen anwenden. Aber sein verletzter Arm schmerzt, im Wald ist es kalt, zu essen hat er auch nichts mehr. Und so ist es gut, dass Jaqueline, genannt Jacke, in seinem Basislager auftaucht und für Essen und Wärme sorgt. Es gibt sie also doch, die Freundin, die zu ihm hält, die es schafft, ihm sein Geheimnis zu entlocken und mit deren Hilfe er sich seiner Angst stellen kann.

Vincents Geschichte wird in der Inszenierung von Matthias Schönfeldt mit viel Musik und Bewegung erzählt. Gülin Mansur (aka RUSNAM) steht als DJ mit ihrem Pult seitlich vor der Bühne und begleitet live mit Elektro- und Indietronic-Beats das Geschehen. Der Sound wird zum dramaturgischen Mittel, gibt der Geschichte Tempo, sorgt aber auch für zarte Töne, lässt innehalten (Musikalische Leitung: Sinem Altan).

Ein funktionales Bühnenbild, zwei dreieckige Kuben mit glatten Wänden und einem Innenleben aus verschachtelten Streben assoziieren Zimmer, eine Straße aber auch den Felsen, auf dem Vincent sein Basislager aufgeschlagen hat (Bühne: Frida Grubba). Hinreißend sind die Kostüme von Anna Dobis, bei denen sich zum Beispiel weiße Kapuzenparkas ganz fix wenden lassen und durch kleine Accessoires aus Menschen Tiere werden, die Vincent in seiner Einsamkeit im Wald beistehen.

Es mag an der Romanvorlage liegen, dass die Dialoge oft sperrig und wenig gestisch sind. Das wird wettgemacht durch eindrucksvolle Pantomime- und Tanzszenen (Choreographie: Maria Walser). Neben Jonathan Bamberg als Vincent spielen, singen und tanzen Irene Fas Fita, Mahalia Horvath, Jan Lorys, Ilja Pletner, Kinga Anita Ötvös und Balázs Posgay.

ATZE Musiktheater, Termine: 14., 15. und 16. Juni, jeweils 10:30 Uhr, ab 10 Jahren.

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Im GRIPS Theater am Hansaplatz begrenzt eine Wand aus blauen Flaschenkästen die Bühne. Hoch oben eine Aussparung. Ein DJ-Pult ist auch hier wichtiger Bestandteil, sogar Zentrum der neuesten Produktion „Das schönste Mädchen der Welt“. Von hier aus treibt DJ Kaye Kayani die Liebesgeschichte von Roxy und Cyril mit tollen Beats voran.

Aber erstmal ist es keine Lovestory, sondern die Geschichte eines Jungen mit zu großer Nase, der deswegen in seiner Klasse fies gemobbt wird. Was niemand weiß: Cyril ist erfolgreicher Rapper, der nicht die üblichen Plattitüden raushaut, sondern in seinen Battles von sich und seinen Ängsten spricht („Ich wach dauernd auf mit Panikattacken/ schweißgebadet, kann gar nichts mehr machen/ ich kämpf mit Depression’n und Dämonen in mir“). Cyril tritt mit Goldmaske auf und ist nach seinen Siegen immer ganz schnell verschwunden.

Im richtigen Leben muss Cyril auf Klassenfahrt nach Berlin gehen. Schon im Bus geht die übliche Anmache wieder los. Aber dann taucht quasi aus dem Nichts Roxy auf, eine neue Mitschülerin. Sie ist schön und selbstbewusst, macht klare Ansagen. Und obwohl sie – natürlich – erst mal auf den Mädchenschwarm Rick ein Auge wirft, setzt sie sich – oh Wunder – neben Cyril, der darüber glücklich ist, aber gleichzeitig auch ziemlich überfordert. Und dann nimmt das Geschehen seinen Lauf, mit Irrtümern, Missverständnissen, Verwechslungen, und mündet darin, dass Cyril seine Maske abnimmt. Und was wird aus Cyril und Roxy? Es gibt Hoffnung.

Regisseur Frank Panhans ist es mit seinem großartigen Ensemble gelungen, eine Geschichte so zu erzählen, dass sie den Nerv des Publikums auf den Punkt trifft. In rasantem Tempo spielen sich die Darsteller:innen die Bälle, hier die blauen Flaschenkästen, zu. Diese werden zu Sitzen im Bus, Koffern, Betten, Regenschirmen oder Fitnessgeräten, die Wand aus Kästen gar zur East Side Gallery (Bühne und Kostüme: Jan A. Schroeder).

Marcel Herrnsdorf als Cyril gelingt die Ambivalenz zwischen dem verschüchterten Jungen einerseits, der sich nicht gegen seine Drangsalierer durchsetzen kann und dem Rapper andererseits, der, wenn auch unter der Goldmaske, zu seinen Gefühlen steht und sie in die Welt rappt. Helena Charlotte Sigals Roxy beherrscht den Raum, trumpft auf, kann aber auch ganz leise und zart sein, und sie kann ebenfalls einfach toll rappen.

Matondo Castlo – im richtigen Leben Rapper – in der Rolle des schönen schweigsamen und ein bisschen dümmlichen Rick ist rührend in seinen vergeblichen Bemühungen, einen guten Text oder einen tollen Sound zustande zu kriegen. Marius Lamprecht und Daniel Pohlen als die Chef-Mobber kommen echt fies rüber, verraten ihre Figuren aber zu keinem Zeitpunkt. Nervig, aber trotzdem sympathisch: Lisa Klabunde und Yana Ermilova. Regine Seidler und René Schubert spielen neben anderen kleinen Rollen ein Elternpaar, das sich aufgeschlossen und ganz locker gegenüber dem Sohn gibt, der das natürlich megapeinlich findet. Als Klassenreisebegleiter:innen mühen sie sich redlich, den Teenagern Berlin als Kulturstadt zu vermitteln. Aber eine kleine Liebesgeschichte bahnt sich auch hier zwischen dem lustigen Herrn Schüssler und der nur scheinbar missmutigen Frau Reimann an…

Das Stück in der Bearbeitung von Karsten Dahlem beruht auf dem gleichnamigen Film von Aron Lehmann, der ein Publikumsrenner war. Die GRIPS-Inszenierung steht diesem in keiner Weise nach.

GRIPS Theater am Hansaplatz, Termine: 6. bis 9. Juli, empfohlen für Klasse 8-13. Hier geht es zu den Karten.

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2. Dokumentarfilm - Wahrhaftigkeit in Liedern und im Leben

Bettina Wegner bei der Premiere von
Bettina Wegner bei der Premiere von "Bettina" im Rahmen der 72. Berliner Filmfestspiele © Stanley Reagh

Wer kennt es nicht, Bettina Wegners Lied von den kleinen Händen, auf die man nicht schlagen darf, weil die winz‘gen Finger dann zerbrechen. Es ist ihr bekanntestes Lied, aber sie hat es lange Jahre nicht singen wollen, weil sie nicht darauf reduziert werden wollte. Das erzählt Bettina Wegner in dem feinfühligen Fimporträt von Lutz Pehnert. Und wer es nicht schon vorher wusste, versteht es nach diesen knapp 100 Minuten: Diese Frau hat in den vergangenen 50 Jahren in ihren Lieder so viel mehr zu sagen gehabt und hat das auch noch heute.

Bettina Wegner wurde 1947 in Berlin geboren, im Westteil der Stadt, und zog als Zweijährige mit ihren Eltern nach Ost-Berlin. Sie durchlebte eine klassische DDR-Kindheit der fünfziger Jahre mit Pioniertuch und heißer Stalinverehrung. Als junge Frau gehört sie zu einer Gruppe junger Leute, die freigeistig und kreativ ein anderes Leben führen (wollten) als das vom Staat vorgesehene. 1968 verfasst sie Flugblätter gegen den Einmarsch sowjetischer Truppen in Prag, verteilt sie mit Freunden in Briefkästen, wird bereits am nächsten Tag verhaftet, vom Schauspielstudium exmatrikuliert und auf Bewährung verurteilt.

Nachdem sie ihre Strafe – Bewährung in der Produktion – verbüßt hatte, studierte sie Gesang und singt seitdem. In der DDR erregten ihre Lieder schnell Anstoß und die Genoss:innen wären sie gern losgeworden. Sie genehmigten ein dreijähriges Visum, so dass sie hin- und herreisen und im Westen Konzerte geben konnte. Bettina Wegner kam immer wieder zurück, wollte ihr Land nicht verlassen. Erst nach massiven Drohungen, ein Ermittlungsverfahren wegen Zoll- und Devisenvergehen gegen sie anzustrengen, entschloss sie sich 1983 zur endgültigen Ausreise nach West-Berlin.

Der Film ist ganz klassisch aufgebaut, wechselt zwischen aktuellen und Archivaufnahmen. Strukturell orientiert er sich an „Gebote“, ebenfalls einem frühen Song: „Aufzustehn, wenn andre sitzen/ Wind zu sein, wenn andre schwitzen/ lauter schrein, wenn andre schweigen/ beim Versteckspiel sich zu zeigen/ nie als andrer zu erscheinen/ bei Verletzung nicht mehr weinen/ Hoffnung haben beim Ertrinken/ nicht im Wohlstand zu ertrinken/ einen Feind zum Feinde machen/ Solidarität mit Schwachen.“ Das Lied ist klug ausgewählt, benennt es doch mit klaren einfachen Worten Regeln, die überall und immer für das Leben in der Menschengemeinschaft gelten sollten und zeigt es deutlich die Haltung der Sängerin.

Bettina Wegner gibt schon lange keine Tourneen mehr, aber immer mal wieder Konzerte. Der Film zeigt sie bei Proben mit ihren Musikern, konzentriert, um den richtigen Ton ringend. In Archivaufnahmen steht die junge Bettina mit Zöpfen am Mikro, klassische Liedermacherin, zart und sehr kraftvoll. Dazwischen sind Alltags- und Straßenszenen aus der DDR geschnitten, die in ganz kurzen Schnipseln dieses vergangene Land aufleben lassen.

Einen großen Teil des Films nehmen Interviews ein, die Lutz Pehnert mit der Sängerin in ihrem Wohnzimmer geführt hat. Bettina Wegner sitzt auf dem Sofa, in Zigarettenrauch gehüllt („Ja, ich rauche ganz ordentlich“) und erzählt herrlich berlinernd aus ihrem Leben. Eine lebenserfahrene Frau, die ihren Anspruch, wahrhaftig zu sein, nie aufgegeben hat und ihn, das ist sicher, weiterhin verteidigen wird.

Der Film lief im Panorama der 72. Berliner Filmfestspiele in diesem Jahr und ist derzeit im Kino zu sehen, und zwar nur im Kino.

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