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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 395

Kulturvolk Blog | Uwe Sauerwein

von Uwe Sauerwein

9. Mai 2022

HEUTE: „DER SCHATZGRÄBER“ – DEUTSCHE OPER / „FALSTAFF“ – KOMISCHE OPER / „MOSES MENDELSSOHN. WIR TRÄUMTEN VON NICHTS ALS AUFKLÄRUNG“ – AUSSTELLUNG JÜDISCHES MUSEUM

1. Deutsche Oper - Die Sehnsucht nach dem Lebenssinn

Daniel Johansson als Barde Elis mit Zauberlaute und Elisabet Strid als Els in Franz Schrekers
Daniel Johansson als Barde Elis mit Zauberlaute und Elisabet Strid als Els in Franz Schrekers "Der Schatzgräber" © Monika Rittershaus

Ein Märchen. Ein Krimi. Ein Traumspiel. Ein Geduldsspiel leider auch. „Der Schatzgräber“, Franz Schrekers Oper in einem Vorspiel, vier Aufzügen und einem Nachspiel, erzielte mit der Uraufführung 1920 in Frankfurt am Main einen Sensationserfolg. Fünf Jahre lang gehörte sie zu den meistgespielten zeitgenössischen Musiktheaterwerken auf deutschen Bühnen. Schreker, groß geworden im Wiener Kulturzirkel, wurde als neuer Messias der deutschen Oper gehandelt.

Die Karriere verebbte schnell. Schreker galt bald als antiquiert, weil musikalisch weniger wagemutig als die Konkurrenz. Nach dem Aufführungsverbot durch die Nazis verschwanden seine Werke endgültig von den Spielplänen. Zudem wurde Schreker, Sohn eines jüdischen Fotografen, als Direktor der Berliner Musikhochschule suspendiert. Schwer mitgenommen, starb der Tonkünstler 1934 mit nur 56 Jahren an einem Schlaganfall.

Erst allmählich setzte nach 1945 eine Schreker-Renaissance ein, wobei „Der Schatzgräber“ weiter ein Stiefkind blieb. Nun versucht die Deutsche Oper Berlin, dem Werk als Koproduktion mit der Straßburger Oper ein Comeback zu verschaffen – genau hundert Jahre nach der letzten Berliner Neuinszenierung, damals an der Staatsoper.


Wiederentdeckung von Meisterwerken


Dirigent Marc Albrecht und Regisseur Christof Loy sind selber Schatzgräber, was die Wiederentdeckung von Meisterwerken des frühen 20. Jahrhunderts angeht. An der Bismarckstraße brachten sie zuvor Korngolds „Das Wunder der Heliane“ sowie Zandonais „Francesca da Rimini“ wieder ins Licht der Öffentlichkeit.

Nun also Schreker. Das Libretto, vom Komponisten selbst verfasst, ist komplex. Einer Königin wurden die Juwelen geraubt und damit ihre Lebensfreude. Sie kränkelt dahin, was die Zeugung eines Thronfolgers sehr erschwert. Der Hofnarr erzählt von einem fahrenden Sänger, der mit seiner Laute Schätze aufspüren kann. Der König beauftragt den Narren, den Barden ausfindig zu machen und verspricht ihm zum Lohn eine Braut, sollten die Kronjuwelen gefunden werden.

Doch es ist Els, eine einfache Kellnerin, die weiß, wo der Schatz verborgen ist. Stück für Stück lässt sie sich den Schmuck bei einem Hehler von reichen Gönnern besorgen, die sie heiraten wollen. Aber sie werden alle umgebracht, im Auftrag von Els. Die junge Frau träumt von einem Märchenprinzen, der sie einmal ehelichen wird. Dieser erscheint in Gestalt von Elis, jenem Barden, der für den König die Juwelen finden soll. So entwickelt sich eine tragische Beziehung.

Els fürchtet, dass ihr Geliebter dank der Wunderlaute erfährt, wer über die Juwelen verfügt. Der Barde aber wird vom König als Dieb und Mörder zum Tod durch den Galgen verurteilt und im letzten Moment gerettet. Die Königin hat ihren Schmuck wieder. Els erhält als Ehemann den Narren, der sie heimlich liebt. Und stirbt kurze Zeit später, weil sie ihren Lebensmut verloren hat. Am Ende bleiben nur noch einsame Menschen. Der Barde verschwindet so rätselhaft, wie er gekommen war.


Trostlosigkeit in glanzvoller Musik


Der Schatz als Metapher für den Sinn unseres Daseins. Eine Fiktion, die laut Schreker im Leben nötig sei: „Man denke sie sich fort und jede Sehnsucht ist erloschen.“ Kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs zeichnet Schreker einen Kosmos voller absterbender Ideale. Trost klingt anders. Die Oper ist ein Konversationsstück, das immer wieder von Balladen und Liedern, einem Wiegenlied etwa, durchbrochen wird. Aber der triste Grundton bleibt.

Gibt es inhaltlich nach dem Motto „Nie sollst du mich befragen“ Bezüge zu „Lohengrin“, so verweist musikalisch einiges auf „Tristan und Isolde“, überhaupt spielt Wagners Leitmotivtechnik eine wichtige Rolle. Anklänge an Strauss, Berg, Schönberg, an Meyerbeer und die französischen Impressionisten vernimmt man ebenso. Die zauberhafte Instrumentierung ermöglicht besonderen Orchesterglanz, für die Marc Albrecht mit seinen Musikerinnen und Musikern sich bei der Premiere feiern lassen darf.

 

Die wundersamen Fähigkeiten eines Musikinstruments erinnern an eine andere selten gespielte Oper: „Schwanda, der Dudelsackpfeifer“ von Jaromír Weinberger aus dem Jahr 1927. Ebenfalls eine Art Märchenoper. Den Versuch, sie der Vergessenheit zu entreißen, hat Regisseur Andreas Homoki unlängst an der Komischen Oper vergeigt, indem er zugleich die Emigrationsgeschichte des Komponisten miterzählen wollte.


Wiener Salon statt Märchenreich


Der Verlockung, ein dem heutigen Publikum unbekanntes Werk nicht nur vorzustellen, sondern gleich zu verfremden, konnte auch Christof Loy nicht widerstehen. Sein „Schatzgräber“ schürft nicht in einem fernen Märchenreich, sondern in einem opulenten Wiener Salon des Fin de Siecle (Bühne: Johannes Leiacker, Kostüme: Barbara Drosihn). Das königliche Paar übt sich beim festlichen Bankett in Machtspielen mit den Untertanen. Die Liebesnacht zwischen Els und Elis wird bei Loy unnötiger Weise zur gewalttätigen Orgie des gesamten Hofstaates, wo jede(r) jede(m) an die Wäsche geht. Zudem versucht der Regisseur noch, fasziniert von gebrochenen Frauenfiguren, aus seinen Wiederentdeckungen Heliane, Francesca und Els eine Trilogie der Systemsprengerinnen zu schmieden. Ein bisschen zuviel des Guten.

Els ist, da die anämische Königin laut Partitur stumm bleibt, die einzige weibliche Solopartie gegenüber 14 männlichen Stimmen. Elisabet Strid meistert ihren Kraftakt fulminant. Die schwedische Sopranistin zeichnet dabei die Gegensätze der Els zwischen verträumten Mädchen, der femme fatale und schließlich gebrochenen Seele. Ihr Landsmann, der Tenor Daniel Johanson, ist als Elis besonders in den lyrischen Momenten stark, wenn er etwa am Ende die Frau, die er nicht mehr liebt, in den Todesschlaf singt. Als Narr weiß Michael Laurenz schon allein mit seiner Rolle zu punkten, sie ist der Spielmacher des musikalischen Dramas. Doch sieht er sich zu Recht auch für seine tenorale Größe bejubelt.

Schreker vereint Solopartien zu kunstvollen Ensembles, oft unterstützt vom wieder einmal prächtig aufgelegten Chor der Deutschen Oper unter Leitung von Jeremy Bines. Am Ende ist der Abend ein Triumph des Teams, das sich und dem Publikum einiges abverlangt. Die Mühe lohnt sich.

Deutsche Oper Berlin, weitere Vorstellungen: 14. Mai sowie 4. und 11. Juni. Hier geht es zu den Karten.

2. Komische Oper - Kosky bittet zur Küchenschlacht

Falstaff © Jan Windszus Photography
Falstaff © Jan Windszus Photography

Wissen Sie noch, was ein Armer Ritter ist? Arme Ritter sind altbackene Brötchen oder Brotscheiben, denen man per Toaster oder Pfanne noch ein wenig Pfiff verleiht. Kein Fall für Gourmets also, eher was für Studierende, bei denen am Ende des Geldes noch viel Monat übrig ist (ich schreibe aus Erfahrung).

In der Komischen Oper Berlin sehen wir Scott Hendricks, den großartigen Bariton, zum Armen Ritter greifen. Nass wie ein begossener Pudel nährt er sich von Trockenbrot. Sir John Falstaff ist selbst ein armer Ritter, dem die Umwelt übel mitspielt, obwohl er natürlich gehörig Mitschuld an der Misere trägt. Im Wäschekorb hat man ihn vor der Pause aus einem Ehegemach, in das er nicht hingehört, ins Wasser geworfen und zum Gespött der Leute gemacht. Einsam beklagt er die Gemeinheit der Welt.

Eine der stärksten, auf jeden Fall die nachdenklichste Szene in der letzten und zweiten heiteren Oper überhaupt, die Giuseppe Verdi der Nachwelt hinterließ. Und auch einer der schönsten Momente in der Inszenierung von Barrie Kosky, nicht zuletzt dank des Kontrasts zum so opulenten wie turbulenten ersten Teils des Opernabends.


Kein Fettsack auf Freiersfüßen


„Falstaff“, das wunderbare Alterswerk in einer bis dato ungewöhnlichen Form, das Maestro Verdi 79-jährig mit seinem Librettisten Arrigo Boito (nach dem gemeinsamen grandiosen „Otello“) 1893 zur Uraufführung brachte, erzählt mit vielen Zwischen- und Untertönen von der Vergänglichkeit des Menschen. In der Deutschen Oper spielte die Geschichte vor einigen Jahren in einem Seniorenheim. Die Staatsoper siedelte zuletzt Falstaffs Eskapaden zwischen Hausbesetzer-Szene und schickem Villenviertel mit Swimmingpool an.

Kosky wiederum lädt in der vorletzten Premiere seiner zu Ende gehenden Intendanz zur Küchenschlacht. Durch einen bunten Berg voller Köstlichkeiten muss sich Hendricks als kochender Falstaff gleich zu Beginn kämpfen und ganz nebenbei auch noch hochvirtuos singen. Nur mit einer Schürze ist der Ritter bekleidet, dreht er sich um, erblicken wir seinen nackten Hintern. Keine ausgestopften Kostüme, kein Bodysuit wie traditionell üblich. Figürlich ist Koskys Falstaff, obwohl vom „Berg von Speck“ oder „Schreckensbauch“ gesungen wird, fast ein Hänfling. Auf jeden Fall ist er aber ein Genussmensch.

Man könne diese Oper nicht inszenieren, wenn man Falstaff nicht mag, verkündet Kosky im Programmheft. Der Titelheld ist ein Mensch, der das Leben liebt. Kein Fettsack auf Freiersfüßen, die Schadenfreude hält sich in Grenzen. Falstaff mag eitel sein, wer ist das nicht in dieser Oper, er ist aber weder ein übler Schürzenjäger noch gar ein Schurke vom Schlage eines Don Giovanni. Falstaff versucht das Dasein mit allen Sinnen zu genießen, und wer Kosky persönlich erlebt, ahnt schnell, dass dieser Falstaff durchaus auf den Vornamen Barrie hören könnte.


Lüsternheit auf dem Teller


Essen und Erotik gehören zueinander. Zwischen den Szenen werden auf Italienisch Rezepte für Flusskrebs-Antipasti, Kalbskoteletts und gefüllte Birnen fast schon pornografisch verlesen. Zumindest Essgelüste stellen sich ein. Man sollte vor der Vorstellung eine Kleinigkeit zu sich genommen zu haben.

Delikatessen und schrill-schöne Kostüme, das kostet. Sir John kann sich diesen Lebensstil nicht leisten. Er wählt den Weg der Insolvenzverschleppung. Den Damen Ford und Page macht er vor allem deshalb Avancen, weil er auf die Reichtümer ihrer Ehemänner aus ist, Sex wäre da nur eine, wenn auch willkommene Beigabe.

Den weiteren Verlauf kennt man. Der Jäger wird schnell selbst zum Gejagten und Gehörnten. Seine Diener, Bardolfo (James Kryshak) und der dralle Pistola (Jens Larsen), wechseln sofort die Seiten. Der eifersüchtige Mister Ford, (Günter Papendell, Abräumer an diesem Abend), als südländischer Gigolo im weißen Anzug verkleidet, will den möglichen Nebenbuhler in eine Falle locken.

Doch es sind die Frauen, Ruzan Mantashyan als Alice Ford und Karolina Gumos als Meg Page, die elegant wie gewitzt wirklich die Initiative ergreifen und ihre Nachbarin Miss Quickly (herrlich überkandidelt: Agnes Zwierko) als weiblichen Merkur vorschicken, um dem Ritter gemeinsam eine Lektion zu erteilen. Im Zuge der Verstrickungen versuchen die jungen Leute Nannetta (stimmlich wie läuferisch mit Höchstleistung: Alma Sadé) und Fenton (mit kurzen Hosen und brillantem Tenor: Oleksiy Palchykov) entgegen den Plänen der Eltern, einander zu heiraten. Der vorgesehen Ehemann Dr. Cajus (tragikomische Figur in rosa Anzug: Ivan Turšić) gehört neben Falstaff zu den Verlierern des tolldreisten Spiels.


Keine Angst vor schrillen Farben


Sie merken schon, wenn ich Sängerinnen und Sänger in Gänze erwähne, heißt das, dass sie sich allesamt gesanglich wie darstellerisch in Topform präsentieren. Alles in knalligem Bunt (Kostüm und Bühnenbild: Katrin Lea Tag) vor grünen Kacheln. Mächtig angetrieben aus dem Orchestergraben vom musikalischen Leiter Ainārs Rubiķis, wobei die Kapelle, wie manches Mal in der Komischen Oper, ein wenig zu kraftvoll und vor allem laut agiert. Immerhin passt es zur Inszenierung, die anfangs in Sachen Klamauk keine rote Linie (Sahnetorten!) zu kennen scheint.

Wenn zum Finale Falstaff in den nächtlichen Wald gelockt wird, wo ihn „Geisterwesen“ erschrecken und zur Läuterung mit allseits versöhnlichem Ende bewegen, erwartet man, dass nun die Fantasie mit Kosky völlig durchgeht. Genau das Gegenteil tritt ein. Die Bühne, auf der zuvor noch Alice Fords Schlafzimmer wie vom Konditor als Büffet angerichtet war, überrascht mit absoluter Nüchternheit. Kahle Mauern und ein Neonlicht, das den Mondschein ersetzt, das war’s mit dem Zauberwald. Man kann kaum davon ausgehen, dass Kosky nichts einfiel. Diese Reduktion ist Absicht.

Bis auf Falstaff, der sich als Hirsch verkleidet hat, aber mit zwei Baguettes auf dem Kopf ausschaut wie ein Osterhase, tauchen alle Beteiligten in schlichten schwarzen Umhängen auf. Kosky inszeniert nie gegen die Musik. Er lenkt die Aufmerksamkeit gerade im dritten Akt auf den atemberaubenden Ensemble-Gesang. Durch Zurückhaltung die Sinne zu schärfen für die Dramatik, ernste Hintergedanken und die vielen Zitate und Anspielungen der Komposition, diesen Weg hat der Regisseur schon in früheren Arbeiten gewählt. Aber der Bruch in dieser Inszenierung verblüfft nicht nur, sondern sorgt auch ein wenig für Ernüchterung.

Komische Oper Berlin, weitere Vorstellungen 12. und 22. Mai; 5., 11. und 25. Juni sowie 9. Juli. Hier geht es zu den Karten.

3. Jüdisches Museum - Welchen Moses hätten wir denn gerne?

Ausstellung „Wir träumten von nichts als Aufklärung“ – Moses Mendelssohn; Jüdisches Museum Berlin © Svea Pietschmann
Ausstellung „Wir träumten von nichts als Aufklärung“ – Moses Mendelssohn; Jüdisches Museum Berlin © Svea Pietschmann

Schwächt Integration das kulturelle Selbstverständnis? Muss man für die Gleichberechtigung seine Tradition aufgeben? Das sind Fragen, die nach heutigen Identitätsdebatten klingen. Doch waren sie schon im 18. Jahrhundert relevant. Vor allem in der Person des Moses Mendelssohn (1729-1786) wird anschaulich, dass diese Zeit eine Epochenwende war.

So kommt eine unlängst vom Bundespräsidenten im Jüdischen Museum Berlin eröffnete Sonderausstellung über den großen Aufklärer, Philosophen, Bestseller-Autor, den Vorreiter der Judenemanzipation, trotz coronabedingter Verzögerung genau zur richtigen Zeit. Der Titel „Wir träumten von nichts als Aufklärung“ verweist auch auf die Gegenwart. Verschwörungsmythen, die gerade in der Pandemie alte antisemitische Stereotypen nutzen, und Cancel Culture setzen der Aufklärung zu.

Obwohl die Mendelssohn-Schau überwiegend historische Exponate zeigt, erkennt man durchaus Parallelen zu gesellschaftlichen Entwicklungen des Whatsapp-Zeitalters. Das Berlin Mendelssohns änderte sich ja ebenfalls durch neue Medien, Foren und Formen für die Begegnungen unterschiedlicher Sichtweisen. Vor allem über Zeitschriften und in Caféhäusern befasste man sich mit Fragen zu Politik, Kultur, Wissenschaft, Religion und Philosophie.


Anregungen zum kritischen Denken


Wie man Debatten führt, voller Leidenschaft und zugleich mit Respekt vor dem Kontrahenten, das führt uns „der Jude von Berlin“, „der weise Moses“, der „pfiffige Hebräer“ (Herder) in seinen Werken vor Augen, mit denen er seine Leserschaft zu kritischem Denken aufruft. Als Format wählt er in vielen Fällen Dialoge und Briefwechsel. Die Argumente der anderen werden also immer mitgedacht, so auch in seinem bekanntesten Buch „Phädon oder Über die Unsterblichkeit der Seele“, angelegt als Gespräch zwischen Sokrates und seinen Anhängern.

Dankbar erinnere ich mich an die Spaziergänge, die ich als junger Journalist mit Heinz Knobloch, dem unvergessenen Feuilletonisten, kurz nach dem Mauerfall durch den für mich noch fast unbekannten Osten Berlins machen durfte. Unter anderem auf den Spuren Moses Mendelssohns, über den Knobloch das nach wie vor lesenswerte Buch „Herr Moses in Berlin“ verfasst hat und von dem damals allenfalls der Grabstein auf dem Jüdischen Friedhof an der Großen Hamburger Straße sichtbar war. Ein neuer Grabstein. Den alten hatten die Nazis, wie fast den gesamten Friedhof, abgeräumt.

Abgeräumt, das gilt auch für das Gedenken an die zentrale Figur der deutsch-jüdischen Geschichte wie des europäischen Judentums. Den Freund Lessings kannte man gemeinhin vor allem als Titelhelden in dessen Versöhnungsdrama „Nathan der Weise“, als welcher Mendelssohn schon bei der Uraufführung wahrgenommen wurde. Viele Quellen zum Verständnis des jüdischen Denkers, der seinem Glauben (anders als die meisten seiner Nachkommen) treu blieb, hatte die unselige deutsche Geschichte versiegen lassen. Die aktuelle Ausstellung, gemeinsam kuratiert von Inka Bertz vom Jüdischen Museum und Thomas Lackmann von der Mendelssohn-Gesellschaft, stützt sich auf neue Forschungsergebnisse und überrascht in sieben Räumen und einem Filmraum mit ihrer Vielseitigkeit.


Gegen alle Widerstände


Welchen Moses hätten wir denn gern? Eine Ansammlung von Bildern unterstreicht, dass kein deutscher Jude außer Albert Einstein so oft porträtiert wurde wie Mendelssohn, der, so formuliert es Kurator Lackmann, vor allem anderen ein „Selfmade-Intellektueller“ war. Aus seiner Geburtsstadt Dessau, wo er von klein auf Studien bei seinem Rabbi Fränkel aufgenommen hatte, reiste er dem verehrten und geliebten Lehrer nach Berlin hinterher. Mit 14 Jahren, man könnte auch sagen: als unbegleiteter Jugendlicher, fand er 1743 Einlass durch das Hallesche Tor, wenige Meter entfernt vom heutigen Jüdischen Museum.

Moses war in mehrfacher Hinsicht gehandicapt. Er war körperlich verwachsen, er stotterte, und als Jude stieß er im Preußen Friedrichs II. auf harte Restriktionen. Der Aufenthalt in Berlin wurde ihm nur durch eine Tätigkeit als Privatlehrer im Hause eines jüdischen Seidenfabrikanten gewährt, der ihm später eine leitende Stellung in seinem Unternehmen übergab.

Tagsüber also Arbeit im Kontor der Fabrik, danach lernen, lesen, verfassen, publizieren. Fest auf dem Boden von Gelehrsamkeit und Gesetzestreue, propagiert der Vater von zehn Kindern (sechs erreichten das Erwachsenenalter) Gewissensfreiheit und die Trennung von Religion und Staat.


Unbekannte Seiten des Gelehrten


Der Verfechter der Toleranz war auch, man ist überrascht, ein Genussmensch, der sich an den Schönheiten der Natur erfreute und sich mit seiner Frau Fromet (eine Liebesheirat, auch das ungewöhnlich) über Theater, Musik und Kunst austauschte, ja sogar Klavierspielen lernte. Noch eine bislang wenig beachtete Facette des Herrn Moses. Zumindest im Vergleich zu seinem Einsatz für Emanzipation und Menschenrechte, seiner Tora-Übersetzung, seinem Netzwerk mit Lessing, dem Verleger Nicolai und vielen anderen befreundeten Geistesgrößen, egal ob christlich oder jüdisch.

Dass letzteres damals alles andere als selbstverständlich war, zeigt eine bissige Installation des israelischen Künstlers Izhar Patkin zum so genannten Judenporzellan. Um heiraten, Kinder „ansetzen“, ein Haus kaufen zu dürfen, mussten jüdische Untertanen in Preußen eine Sondersteuer entrichten, indem sie Produkte aus der Königlichen Manufaktur erwarben. In vielen Fällen handelte es sich um hässliche Keramik-Affen.

Lebendig und erhellend ist auch „Moishe“, eine Graphic Novel des niederländischen Zeichners Typex mit sechs Anekdoten aus Mendelssohns Leben, die neben dem Katalog zur Ausstellung erschien.

Jüdisches Museum Berlin, bis 11. September, täglich 10-19 Uhr. Zeitfensterticket erforderlich.

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