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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 394

Kulturvolk Blog | Sibylle Marx

von Sibylle Marx

2. Mai 2022

HEUTE: 1. „Frauensache“ – Kleines Theater / 2. „Birthday Candles“ – Deutsches Theater, Kammerspiele

1. Kleines Theater - Jede Menge Rede-Stoff

Kleines Theater © Kleines Theater
Kleines Theater © Kleines Theater

Eine Gynäkologin will in den Ruhestand gehen, ihre Praxis abgeben und sucht eine Nachfolge. Es handelt sich um eine Praxis in einer nicht besonders attraktiven Gegend, Interessent:innen für die Nachfolge stehen also nicht gerade Schlange. Einzige Bewerberin ist eine junge Frau, die bis jetzt in einer Privatklinik gearbeitet hat.

Das ist die Ausgangslage in Frauensache, dem neuesten Stück von Lutz Hübner und Sara Nemitz, dem Erfolgsduo in Sachen zeitgenössische Dramatik. Es wird schnell klar, dass es sich hier um mehr handelt als eine geschäftliche Transaktion. Beate (Harriet Kracht) führt die einzige Praxis im Umkreis von 80 Kilometern, die Schwangerschaftsabbrüche vornimmt, und wünscht sich, dass das auch so bleibt, wenn Hanna (Frederike Schinzler) die Praxis übernimmt. Als die junge alleinerziehende Mutter Elke (Hannah Prasse), in der zehnten Woche schwanger und ziemlich überfordert mit ihrer Lebenssituation in der Praxis erscheint, prallen zwei Welten aufeinander: Beate, in der 68er Generation verwurzelt, vertritt ganz klar die Position, dass jede Frau die Entscheidung, ob sie ihr Kind austragen will, selber treffen können muss. Für Hanna beginnt eine Schwangerschaft mit dem Moment der Zeugung und jeder Abbruch bedeutet die Tötung von Leben.

Die Praxis gerät ins Visier von Lebensschützern und wird belagert, sowohl real als in den sozialen Medien, der Widerspruch zwischen den beiden Haltungen schwappt in die Kleinstadt über und der Versuch der gutmeinenden Amtsleiterin Angelika (Marion Elskis), einen Dialog zwischen beiden Seiten in einer öffentlichen Diskussion zu ermöglichen, wird nicht zuletzt durch Gudrun (Dagmar Poppy) vereitelt, die für eine Partei im Gemeinderat sitzt, deren Name nicht genannt wird, die aber leicht mit der AFD assoziiert werden kann. Als auch noch die aus Syrien stammende Sprechstundenhilfe Mira (Lisa Julie Rauen) öffentlich angegriffen wird, eskaliert der Konflikt.

Eine Fülle von spannenden gesellschaftlichen Fragen also und eine Fülle an Rede-Stoff. Den sechs Frauen ist es unter der Regie von Intendantin Karin Bares gelungen, daraus ein Kammerspiel zu machen, in dem jede Haltung überzeugend dargestellt und keine Figur verraten wird. Aber die Möglichkeiten für szenische Vorgänge auf der Bühne des Kleinen Theaters bleiben gering und so zieht sich der mehr als zwei Stunden dauernde Abend, besonders nach der Pause, leider in die Länge. Die Spannung lässt nach, trotz des wichtigen Themas und der Dringlichkeit der vorgebrachten Argumente. Da hilft es auch wenig, Trennwände, die die unterschiedlichen Räume – Praxis, Wohnung, Straße oder Veranstaltungssaal – verdeutlichen sollen, hin und her zu schieben. Möglicherweise hätte der eine oder andere Strich dem Abend ganz gutgetan.

Sinnfällig sind die Kostüme, die helfen, die Figuren zu charakterisieren, ohne vordergründig zu sein, wie zum Beispiel Beate in Leinenhosen und weitem Hemd mit praktischem, aber schicken Kurzhaarschnitt; Hanna in einem schwarzen, durchgeknöpften, wadenlangen Kleid, fleischfarben bestrumpft und in flachen Tretern; Elke in hochgekrempelten Jeans und in Turnschuhen mit Pferdeschwanz.

Angesichts der aktuellen Diskussion um den §219a StGB, der Ärzt:innen untersagt, auf ihrer Website über einen Schwangerschaftsabbruch zu informieren, und auf dessen Grundlage Ärzt:innen in den letzten Jahren teilweise zu hohen Geldstrafen verurteilt worden sind, ist die Beschäftigung mit diesem Thema immens wichtig und die Entscheidung des Kleinen Theaters für dieses Stück ausdrücklich zu begrüßen. Die neue Bundesregierung hatte die Abschaffung des Paragraphen in der Koalitionsvereinbarung festgehalten und derzeit befindet sich der Gesetzentwurf zur Abschaffung zur Stellungnahme im Bundesrat. Die Debatte darüber im Bundestag dürfte noch einmal spannend werden, die Union hält weiter am §219a fest.

Wieder am 21. und 22. Juni. Hier geht es zu den Karten.

2. Deutsches Theater Kammerspiele - Altern im Zeitraffer

Birthday Candles © Arno Declair
Birthday Candles © Arno Declair

Eier, Butter, Zucker, Salz. Ganz schlichte Zutaten, die zu einem wunderbaren Butterkuchen werden. Ernestine hat das Rezept und das Ritual, diesen Kuchen immer an ihrem Geburtstag zu backen, von ihrer Mutter übernommen und sie hält von ihrem 17. bis zu ihrem 107. Geburtstag daran fest. In Noah Haidles Stück „Birthday Candles entblättert sich anhand dieser neunzig Geburtstage das Leben einer Frau, die als 17-Jährige davon träumt, gegen das Universum aufzubegehren, Krieg gegen das Alltägliche zu führen und Gott zu überraschen. Sie würde gern Schauspielerin werden, aber die Liebe kommt dazwischen. Sie zieht zwei Kinder groß, ihre Ehe zerbricht, Krankheit und Tod kommen in ihr Leben.

In Anna Bergmanns Inszenierung spielt Corinna Harfouch diese Frau. Und sie verkörpert die 17-Jährige genauso glaubhaft und überzeugend wie die Greisin mit 107 Jahren. Den ganzen Abend über trägt sie dasselbe enganliegende schwarze Kleid mit Glitzereffekten, das sich jeder Bewegung anpasst und dieselben Schuhe. Das lange Haar (ist es blond oder weiß?) trägt sie offen (Kostüme: Lane Schäfer). Durch minimale Veränderungen in Haltung und Körpersprache sehen wir diese Frau altern. Zu Beginn leichtfüßig, werden die Bewegungen innerhalb der zweistündigen Aufführung langsamer, stockender, setzt sie die Füße vorsichtiger, fällt das Aufstehen schwerer. Was wir (älteren) Zuschauer:innen aus dem eigenen Alltag kennen,  erleben wir hier im Zeitraffer.

Im Stück ist vom Autor ausdrücklich vorgeschrieben, dass der Kuchen tatsächlich gebacken wird und die Aufführung so lange dauert wie das Backen des Kuchens. Aber Kuchenduft wird den Zuschauerraum der Kammerspiele an diesem Abend – glücklicherweise – nicht durchziehen. Lediglich zu Beginn und am Ende kommen Quirl und Schüssel zum Einsatz. Die zeit- und schmucklose Einbauküche mit dem Backofen im Zentrum ist in einen Kasten gebaut, der mit einem Rahmen zum Publikumsraum abschließt, wie ein Fernseher aus den Sechzigern, nur ohne Glas.

Der Kasten dreht sich später immer mal wieder langsam, die Wände werden zum Fußboden, die Decke zur Wand. Die Schauspieler:innen haben Mühe, sich zu halten und sich in diesem Raum und in diesem aus den Fugen geratenden Leben zu bewegen. Im weiteren Verlauf wird dieser Küchen-Fernsehrahmen vollends gesprengt, die Figuren verlassen ihn, die Rückseite der Drehbühne zeigt die aufwendige Maschinerie, in der sich der Küchenkasten dreht wie in einem überdimensionalen Hamsterrad, aber viel viel langsamer.

Um die Szenen voneinander abzugrenzen, verharren die Figuren für einen Moment reglos. Ein Black, ein kurzer Lichteffekt, wie Blitzlichter bei historischen Familienaufnahmen, deuten die die Zeitsprünge an. Fotos und kurze Videoschnipsel, auf eine durchscheinende Leinwand projiziert, verorten zeitlich die neunzig Jahre, die im Stück vergehen: Titelseiten amerikanischer Zeitungen, Spots zu polititschen Ereignissen, Gesichter von Kindern, jungen und alten Menschen aus verschiedenen Epochen. Zwischendurch sind immer wieder sogar private Fotos von Corinna Harfouch in unterschiedlichen Lebensphasen zu sehen (Video: Sebastian Pircher).

Neben Corinna Harfouch spielen Franziska Machens, Kathleen Morgeneyer, Alexander Khuon und Enno Trebs, die alle mehrere Rollen übernehmen. Genau wie der alljährliche Butterkuchen bleibt Nachbar Kenneth (Bernd Stempel) eine Konstante in Ernestines Leben. Kenneth verpasst keinen Geburtstag. Er liebt Ernestine schon mit sieben, aber es wird dauern, bis auch Ernestine sich in Kenneth verliebt. Da ist ihr Ehemann längst tot, sie selbst bereits Urgroßmutter. Es ist komisch, aber zugleich tragisch, wie Kenneth um Ernestines Hand anhält, sich mühsam auf die alten Knie niederlässt und zum Aufstehen ihre Hilfe braucht. Das späte Glück ist nur von kurzer Dauer, Kenneth stirbt an Krebs. Wie Corinna Harfouch den Schmerz über diesen Verlust spielt, ist einer der großen Momente der Inszenierung.

Ernestine muss die Küche, die Zentrum ihres Lebens war, schließlich verlassen, ihr Haus wird verkauft, sie selbst muss ins Pflegeheim. Aber an ihrem 107. Geburtstag kehrt sie noch einmal zurück, dringt in ihre Küche ein, behauptet sich gegen die jetzige Hausbesitzerin und backt ein letztes Mal ihren Kuchen. Per Videoprojektion auf der durchscheinenden Leinwand verfolgen wir, wie die schlichten Zutaten in einer Schüssel verrührt werden und Ernestine sich aller wichtigen Menschen in ihrem Leben noch einmal erinnert. Die Projektion wird undeutlich, Millionen Sterne erscheinen. Und so wird das Universum, von dem im Stück immer wieder die Rede ist, für einen Moment sichtbar.

Wieder am 7., 8., 15. und 28. Mai sowie 26. Juni. Hier geht es zu den Karten.

 

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