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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 382

Kulturvolk Blog | Sibylle Marx

von Sibylle Marx

17. Januar 2022

Heute: 1. „Sein oder Nichtsein“ Roman und Hörbuch von Klaus Pohl / 2. „Miroloi“ – Junges DT in den Kammerspielen des Deutschen Theater Berlin

1. Roman und Hörbuch - Hamlet oder der nackte Wahnsinn

"Sein oder Nichtsein" - Klaus Pohl - Galiani Berlin © Kulturvolk | Freie Volksbühne Berlin e.V.

Februar 1999. In Straßburg kommt eine Truppe berühmter Mimen zusammen: Angela Winkler, Eva Mattes, Otto Sander, Ulrich Wildgruber, Hermann Lause, Uwe Bohm, Klaus Pohl, Annett Renneberg, u.a. Peter Zadek will mit ihnen Hamlet inszenieren, Premiere soll in Straßburg sein, dann wird in Wien, Zürich und Berlin gespielt. Das Berliner Publikum erinnert sich an die umjubelten Vorstellungen in der Schaubühne.

Noch einmal Hamlet, zwanzig Jahre nach seiner legendären Bochumer Hamlet-Inszenierung mit Ulrich Wildgruber in der Titelrolle, in rotem Mantel und mit Sonnenblume. Jetzt, 1999, hat Zadek Wildgruber als Polonius besetzt, Angela Winkler soll den Hamlet spielen.

Klaus Pohl als Horatio, bei Shakespeare von Hamlet beauftragt, seine Geschichte in die Welt zu tragen, wird seiner Rolle auch im richtigen Leben gerecht: Er führt ein Tagebuch, aus dem erst ein Hörbuch und dann ein „wohltemperierter und fiktionaler“ Roman entstand, der den aufwühlenden Probenprozess beschreibt.

Jeder und jede aus der Gauklertruppe hat sein Päckchen zu tragen. Allen voran Peter Zadek, zu diesem Zeitpunkt 73 Jahre alt, der es nochmal wissen will, nochmal ein Kunstwerk schaffen will, von dem die Theaterwelt sprechen soll. Ulrich Wildgruber, der einfach nicht damit fertig wird, nicht mehr Hamlet, sondern nur Polonius spielen zu dürfen und vor allem Angela Winkler, die sich überfordert fühlt, sich geradezu fürchtet vor der Rolle, mit der Masse an Text nicht klarkommt und gleich zweimal während der Proben abhaut und damit eine fassungslose Schauspielerschar zurücklässt mit einem Regisseur, der immer wieder am Verzweifeln ist. Wir lernen die uns aus unzähligen Aufführungen und Filmen bekannten Mimen als Menschen kennen. Mit ihren Eigenheiten, ihren Vorlieben, aber auch mit ihren Ängsten und ihrer Verzweiflung.

Fast ein Jahr vergeht von der ersten Leseprobe bis zur letzten Aufführung in Berlin, ein Jahr, in dem alle aufeinander angewiesen und einander ausgeliefert sind. Klaus Pohl lässt uns teilhaben an einem Prozess, der den Beteiligten das Letzte, das sie zu geben imstande sind, abverlangt. Dabei liegen Ernsthaftigkeit und Komik dicht beieinander. Mal ist man aufgefordert, philosophischen Disputen zwischen Sander und Wildgruber zu folgen. Mal meint man, in Stockton-On-Tees, inmitten der Tournee-Theatertruppe aus Brian Friels „Nacktem Wahnsinn“ zu sein.

Wie in jedem Probenprozess wechseln auch hier grandiose Momente mit Katastrophen. Ist die Atmosphäre im Kanonensaal der ehemaligen Militärakademie, der zur Probebühne umgerüstet wurde, heute heiter gelöst, produktiv und verheißungsvoll, herrscht morgen eine aufgeladene und zugleich depressive Stimmung, in der kaum noch jemand daran glaubt, dass die Premiere jemals stattfinden wird. Ist das Ensemble, in dem sich fast alle schon Jahrzehnte kennen, mal eine trotz aller Kapriziosität eingeschworene Gemeinschaft, gehen sich die Protagonisten bei anderer Gelegenheit gehörig auf die Nerven und fast an die Gurgel. Zadek quält seine Schauspieler in stundenlangen Proben bis zur totalen Erschöpfung und verlangt dann: Nochmal von vorn! Er tobt, er beschimpft sein Ensemble und die Techniker und verlangt bedingungslose Selbstaufgabe.

Den Hintergrund bildet Straßburg mit seinem elsässisch-französischen Flair. Nach den Proben wird sehr gut gegessen und sehr viel getrunken. Ein rotes Fahrrad spielt eine wichtige Rolle, ebenso Rosen in den schönsten Farben, die täglich frisch gekauft und an Angela Winkler verschenkt werden.

Einige der Protagonisten sind bereits tot: Peter Zadek selbst, sein Bühnenbildner Wilfried Minks, Hermann Lause, Otto Sander und Ulrich Wildgruber. Ihnen allen hat Klaus Pohl ein Denkmal gesetzt und ein Stück Theatergeschichte geschrieben, die sich hinter den Kulissen abgespielt hat und in keinem Theaterlexikon zu finden ist.

Es ist ihm gelungen, nicht nur Theaterliebhabern zu vermitteln, unter welchen Umständen Kunst entstehen kann, wie viel Schweiß und Tränen vergossen werden müssen, wie viel Freude und Liebe aber auch daraus erwachsen. Ein reines Lese- und Hörvergnügen.

„Sein oder Nichtsein“ - Roman, Verlag Galiani Berlin.
„Sein oder Nichtsein. Erinnerungen an Peter Zadeks legendäre Hamlet-Inszenierung“ - Hörbuch, gesprochen von Klaus Pohl, Der Audio Verlag.

2. Junges DT - „In mir drinnen ist alles möglich“

Leo Domogalski, Anna Suzuki, Ilja van Urk, Amelie Paneru, Songül Ince, Narin Dogan, Rebecca Rücker, Eren Gündar, Flo Rieder, Greta Borg  © Arno Declair
Leo Domogalski, Anna Suzuki, Ilja van Urk, Amelie Paneru, Songül Ince, Narin Dogan, Rebecca Rücker, Eren Gündar, Flo Rieder, Greta Borg © Arno Declair

Miroloi ist ein Totengebet, ein Totenlied, das in der griechisch-orthodoxen Kirche von Frauen gedichtet und gesungen wird, um das Leben der Verstorbenen zu feiern. Im Mittelpunkt des gleichnamigen Romans von Karen Köhler, der 2019 für den Deutschen Buchpreis nominiert war, singt eine junge Frau ein Miroloi für sich selbst, erzählt sie in einhundertachtundzwanzig Strophen ihre Geschichte. Sie lebt in einem Dorf, auf einer abgelegenen Insel. Idyllisch ist es da, es wachsen Oliven, Mandeln, Granatäpfel, der Boden ist fruchtbar. Das Jahr wird in Monden gezählt und die Stunden des Tages aus dem Turmfenster des Bethauses mit klingenden Schnüren verkündet. Das Dorf heißt „Schönes Dorf“, die Insel „Schöne Insel“. Im Dorf herrschen Gesetze, die von Männern gemacht wurden und vom Ältestenrat streng überwacht werden. Die Frauen gehorchen den Männern, sie erledigen alle Arbeiten. Lesen und schreiben lernen dürfen sie nicht. Wer gegen die Gesetze verstößt, landet am Pfahl. Die Höchststrafe ist Steinigung.

Die junge Frau hat keinen Namen. Wer nicht im Dorf geboren ist, darf keinen Namen tragen, darf nicht heiraten, hat keine Rechte. Woher sie kommt, weiß niemand: Eines Nachts in einem kalten Winter lag ein Säugling, eingewickelt in Zeitungspapier, auf den Stufen des Bethauses. Der Betvater hat das Kind aufgenommen und großgezogen. Er nennt sie „Mein Mädchen“, aber nur selten.

Vom Dorf der Tausendaugen wird sie verfolgt, beschimpft und gequält. Sie ist der Sündenbock für alles Unglück, etwa wenn die Ernte schlecht ausfällt oder ein Kind tot geboren wird. Aber die junge Frau ist klug, beobachtet, stellt Fragen. Sie wird lesen und schreiben lernen, sie wird sich in Yael verlieben und einen Namen bekommen: Alina. Sie wird großes Leid erfahren, aber sie wird sich mit dem, was im Dorf schon immer so war und immer so bleiben wird, nicht abfinden, wird rebellieren und sich rächen. „In mir drinnen ist alles möglich.“ Alina wird einen eigenen Weg finden, auch wenn das Risiko groß und der Preis dafür hoch ist.

Auf der Bühne der Kammerspiele des Deutschen Theaters drehen sich zwei runde, ineinander gesteckte, gekippte, weiße Spielflächen, die zur Hälfte von einer hohen Wand begrenzt sind. Seitlich der Pfahl. Die Szene hell wie der Vollmond. Bewegt sich die Drehscheibe, wird die Rückseite der weißen Wand sichtbar: Schwarz, mit Quer- und Längsverstrebungen, wie ein riesiges Gefängnistor. Kein Darüberschauen, kein Entkommen möglich. (Bühne: Guus van Geffen)

Die Regisseurin Liesbeth Coltof und die Dramaturgin Birgit Lengers haben aus dem über 400-seitigen Roman eine kluge Bühnenfassung verfertigt, die sich auf das Wesentliche konzentriert. Dem in Herkunft, Alter und Geschlecht diversen, sehr begabten Ensemble gelingt es, in einer temporeichen Aufführung das Gleichnishafte des Romans zu vermitteln und szenisch umzusetzen.

Dreizehn Darsteller:innen, elf Kinder und Jugendliche und zwei Ältere spielen das Miroloi für Alina. Dabei werden die Rollen von Alina und Yael immer wieder an andere Spieler:innen abgegeben, jede ist Alina, jeder kann Yael sein. Die jungen Menschen agieren mit einer ungeheuren Spielfreude und sind konzentriert bei der Sache.  Spielszenen wechseln mit choreographierten Tanzszenen in tollen Kostümen. (Ronni Maciel). Alle spielen, als wäre es ihre eigene Geschichte, sie wissen um das Universelle und wollen mit allem, was sie haben, zeigen, dass Alinas Geschichte überall und zu jeder Zeit spielen kann, auch heute und in unserer unmittelbaren Nähe.

Am 20. und 27. Januar, sowie am 10., 16. und 22. Februar. Hier geht es zu den Karten.

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