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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 379

Kulturvolk Blog | Uwe Sauerwein

von Uwe Sauerwein

20. Dezember 2021

HEUTE: 1. „KATJA KABANOWA“ – KOMISCHE OPER / 2. „ORPHEUS IN DER UNTERWELT“ – KOMISCHE OPER / 3. „DER MANN, DER SICH BEETHOVEN NANNTE“ – NEUKÖLLNER OPER / 4. BERLIN CIRCUS FESTIVAL – TEMPELHOFER FELD

1. Komische Oper - Gewitter in geschlossenen Räumen

Anette Dasch (Katja) © Jaro Suffner
Anette Dasch (Katja) © Jaro Suffner

„Ich beginne nun, eine neue Oper zu komponieren“, schreibt der 64-jährige Leoš Janáček im Januar 1920 an seine 40 Jahre jüngere Muse Kamila Stösslová. „Die Hauptperson ist eine Frau mit zartem Gemüt. Bei bloßem Gedanken schwindet sie. Ein Hauch würde sie verwehen – und was erst der Sturm, der über sie hereinbrechen wird.“

Vor genau hundert Jahren erlebte „Katja Kabanowa“ in Brno (Brünn) ihre Uraufführung. Es ist die sechste Oper Janáčeks, der mit einer ganz eigenen, neuen Technik, bei der die tschechische Sprache den Rhythmus der Musik bestimmte, nicht nur zu einem der Nationalkomponisten seines Landes, sondern zu den wichtigsten Musikdramatikern des 20. Jahrhunderts wurde. Ein tragisches Meisterwerk über eine Frau, die gegen Konventionen, nicht nur in der Ehe, aufbegehrt – und daran zerbricht.

Jetzt feierte „Katja Kabanowa“ umjubelte Premiere in der Komischen Oper Berlin. Ein Triumph, der vor allem mit den großen Leistungen dreier Frauen zusammenhängt: Mit Annette Dasch in der Titelpartie. Die weltweit gefeierte Berliner Sopranistin ist tatsächlich zum ersten Mal an der Behrenstraße zu erleben. Mit der aus Litauen stammenden Dirigentin Giedrė Šlekytė, die sich bei ihrem Berlin-Debüt als Offenbarung erweist. Und nicht zuletzt mit der niederländischen Regisseurin Jetske Mijnssen, die am Haus bislang zwei Kinderopern inszenierte und nun ebenfalls einhelligen Premierenbeifall erhielt. Obgleich, oder vielleicht gerade weil, ihre Interpretation der „Katja Kabanowa“ als Kammerspiel es dem Publikum nicht einfach macht.


Konflikt mit der Gesellschaft


Die tschechische Oper spielt im ländlichen Russland, an der Wolga. „Das Gewitter“ hieß das damals viel gespielte Schauspiel des russischen Dramatikers Aleksandr N. Ostrowski, das Janáček als Libretto-Vorlage wählte. Das sozialkritische Stück erzählt von einer jungen und verheirateten Frau, die sich auf der Suche nach einem erfüllten Leben in einen anderen Mann verliebt, was zu schweren Konflikten mit der patriarchalischen Gesellschaft führt, mit tödlichem Ausgang. Das besagte Gewitter findet in Janáčeks stark verkürzter, die Handlung beschleunigender Bearbeitung vor allem im Inneren statt.

Um Katjas Seelengefängnis sichtbar zu machen, verlegten schon frühere Inszenierungen die eigentlich größtenteils im Freien spielende Geschichte in geschlossene Räume. In Berlin verschärft die klaustrophobische Bühne von Julia Katharina Berndt diese Beklemmung zusätzlich. Während die majestätische Wolga und andere Schönheiten der Natur besungen werden, blicken wir in hohe, muffige, senfgelbe Räume, wie in einer sozialistischen Schulaula, mit riesigen, aber in der Regel verschlossenen Türen. Dazwischen spielt sich nun das Dorfleben mit all seinen Zwängen ab.

Trist genug ist Katjas Dasein ohnehin: Mit ihrem Gatten Tichon (Stephan Rügamer) kann sie sich der Missgunst der Schwiegermutter, genannt Kabanicha (Doris Lamprecht), in deren Hause kaum erwehren. Die eifersüchtigen Auseinandersetzungen bei Tisch sind auch für den Zuhörer nur schwer zu ertragen. Während Bühnenbild und die Kostüme das Geschehen näher an die Gegenwart rücken, treten die gesellschaftlichen Konflikte des Stücks in den Hintergrund.


Inszenierung setzt auf anderes Ende


Das Interesse liegt auf dem Individuum, nicht nur bei der Titelfigur. Die Kabanicha wird nicht schablonenhaft als böse Schwiegermutter gezeigt. Auch sie quälen innere Konflikte, ebenso wie Katjas Liebhaber Boris (Magnus Vigilius), der alles andere als der skrupellose Schürzenjäger ist.

Und so sieht man auch in Katja nicht einfach die Unschuld vom Lande, die verführt und so ins Unglück gestürzt wird. Das böse Ende schlummert bereits von Beginn an in ihr. Das macht Annette Dasch vor allem stimmlich mit packender Intensität deutlich. Statt mit der sozialen Situation der Personen, beschäftigt sich Regisseurin Mijnssen eher mit der dysfunktionalen Familie. Katja geht vor allem am Konflikt mit ihren eigenen Wertvorstellungen zugrunde. Deswegen setzt die Inszenierung auf ein anderes Ende. Im Libretto ist es die Nachricht, dass Boris nach Sibirien reist und wohl niemals ins Dorf zurückkehrt, die Katja in den Selbstmord treibt. Hier trinkt sie bereits ein todbringendes Gift, bevor sie vom drohenden Abschied ihres Geliebten erfährt.

„Was die Augen nicht sehen, sagt mir das Herz“, äußert die Kabanicha an einer Stelle. Man könnte es auch anders formulieren. Was die Augen nicht sehen, erzählt die Musik. Im Kontrast zum tristen Bühnenbild werden die musikalischen Schilderungen der Natur wie der seelischen Nöte noch stärker erlebbar. Giedrė Šlekytė treibt mit unglaublichem Feinsinn in den knapp zwei pausenlosen Stunden das Orchester an, auch das Ensemble auf der Bühne präsentiert sich ausnahmslos in Hochform. Wobei Karolina Gumos als putzmuntere, lebenslustige Vavara, der mit ihrem Liebsten Wanja (Timothy Oliver) der Aufbruch in ein weniger beschwertes Dasein abseits der dörflichen Enge gelingt, noch mal ein besonderer, weil sehr tröstlicher Lichtblick ist.

Wieder am 22. Dezember sowie am 9. und 22. Januar. Hier geht es zu den Karten.

2. Komische Oper - Die Götter müssen verrückt sein

"Orpheus in der Unterwelt", das gesamte Ensemble in Plutos Reich. © Monika Rittershaus

Gerade mal neun Tage nach „Katja Kabanowa“ feierte an der Komischen Oper „Orpheus in der Unterwelt“ Premiere und erntete ausgelassenen Jubel. Ein größerer Kontrast zwischen Janáčeks Operndrama und Jacques Offenbachs Operetten-Klassiker lässt sich kaum denken. Dabei geht es beide Male um eine unglückliche Ehe, sogar jeweils mit tödlichem Ausgang. Doch Offenbach liefert uns Lebensfreude pur, und das im Reich der Toten! Denn natürlich wird die Mythologie hier alles andere als ernst genommen. Schon gar nicht in der comic-artigen Inszenierung des Intendanten Barrie Kosky, der aus der französischen opera-buffon eine zweiaktige Revue, voll mit Travestie-Elementen, zaubert. Ein Zauber freilich, der gerade in diesen Zeiten auch mit viel Arbeit, mit Schweiß und wahrscheinlich sogar mancher Träne verbunden war.

Koskys Inszenierung entstand für die Salzburger Festspiele 2019. Erstmals in der fast hundertjährigen Geschichte der Festspiele war dort eine Offenbach-Operette zu erleben, mit riesiger Resonanz. Anschließend sollte die Produktion, in der Neueinstudierung von Spielleiter Esteban Muñoz, Berliner Luft atmen. Warum sich das so lange verzögerte, braucht nicht weiter erläutert zu werden. Zwei Tage vor der Berliner Premiere musste in Wien die Premiere von Barrie Koskys „Don Giovanni“-Inszenierung (habe ich mir im Live-Stream gegönnt, sehens- und hörenswert) ohne Publikum über die Bühne gehen.

Das Offenbach-Spektakel war der erste Abend, an dem die Komische Oper nach langer Zeit wieder mit hundert Prozent Auslastung spielen durfte. Manche Ensemblemitglieder, etwa die Tänzerinnen und Tänzer in Otto Pichlers durchgedrehter Choreografie, hatten 18 Monate nicht auftreten dürfen. All das erklärte die Ausgelassenheit auf beiden Seiten des Orchestergrabens am Premierenabend.


Offenbachs Durchbruch in Paris


Eine vergleichbare Euphorie dürfte auch bei der Uraufführung geherrscht haben. Für Offenbach, den jüdischen Komponisten und Theaterunternehmer aus Deutschland, bedeutete die Orpheus-Premiere 1858 in seinem Théâtre des Bouffes-Parisiens den Durchbruch in Paris. Drei Jahre lang hatte er wegen der Lizenzbestimmungen nur Einakter mit kleiner Besetzung schreiben dürfen, jetzt landete er mit seinem ersten abendfüllenden Werk einen Sensationserfolg.

Die Persiflage auf den Antikenkult, politische Anspielungen, bei der die Öffentliche Meinung als Sängerin in Erscheinung tritt, das kam an beim Publikum, dem zudem in punkto Moral ein Spiegel vorgehalten wurde. Es war ja mitnichten nur die Gattin, mit der man(n) sich in der Loge verlustierte. Und dann natürlich diese mitreißende Musik. Gassenhauer wie der legendäre „Galop infernal“, der Höllen-Cancan. Aber auch durchaus ernstgemeinte Stücke ohne satirische Hintergedanken, die ins Herz gehen.

Die damalige Doppelmoral der bürgerlichen Gesellschaft, mit Glanz und Elend der Kurtisanen, ist in den oft orgiastischen Bildern, wo jeder jedem, Geschlecht egal, sei es auf Erden, im Himmel oder im Hades, irgendwann an die mehr oder weniger reizvolle Wäsche geht, kein Thema mehr. Ehen, so Kosky, seien ohnehin alle kaputt in diesem Stück. Vielmehr gehe es um Eurydike als emanzipierte Frau, die ihr Schicksal in die eigenen Hände nimmt.


Alles dreht sich um Eurydike


Orpheus, der antike Sänger, ohne den die Geschichte der Gattung Oper unvorstellbar ist, zeigt sich hier als ziemlich traurige Gestalt. Ein mittelmäßiger Geiger und Musiklehrer, der seine Frau betrügt. Äußerlich erinnert Tenor Tansel Akzeybek ein bisschen an Charlie Chaplin, und er hat tatsächlich eher eine Nebenrolle. Eigentlich müsste die Operette denn auch „Eurydike“ heißen, denn die eigenwillige Schöne steht hier eindeutig im Mittelpunkt. Sydney Mancasola begeistert mit koketten Koloraturen. Willig lässt sie sich von Pluto, dem Gott der Unterwelt, entführen. Was Orpheus zunächst recht gelegen kommt. Erst die Öffentliche Meinung zwingt ihn, sich auf die Suche nach der Gattin zu begeben. Zunächst im Olymp, wo Göttervater Jupiter (Peter Bording) ebenfalls einen Weg aus der luxuriösen Langeweile herbeisehnt, später in den Gemächern des Pluto.

Gesungen wird vornehmlich auf Französisch, die Dialoge sind auf Deutsch. In der Operette geht das. Gerade bei einem multikulturellen Event wie bei Offenbach. Seit jeher ist der Musiktheater-Betrieb international. Ich entsinne mich lange zurückliegender Stadttheater-Zeiten, wo man Sängerinnen und Sänger erlebte, deren Wiege in Amerika oder Bulgarien stand. Im Unterschied zu ihrem meist passablen Gesang war das, was sie sagten, oft nur schwer zu verstehen.


Styx, der große Synchronisierer


Koskys genialer Kunstgriff: Plutos Gehilfe Styx (der großartige Max Hopp), darf alle Rollen sprechen, sämtliche Personen also synchronisieren. Und das gelingt ihm meisterhaft. Obwohl der Schauspieler auf der Bühne steht, schaut man immer auf die Person, der er gerade seine Sprechstimme verleiht. Leider beschränkt sich das nicht nur auf den Text. Sondern auch auf die Geräusche. So ploppt, ächzt, kreischt, quietscht, lechzt und bumst es ohne Unterlass. Das verliert im Lauf der vier Aufzüge irgendwann seinen Reiz. Überhaupt diese Daueraufgeregtheit. Es ist wie beim Liebesspiel: Auch da können ruhigere Phasen durchaus dazu beitragen, die Spannung zu halten.

Aber immer, wenn man in Gedanken zu nörgeln beginnt, wird man im nächsten Moment wieder mitgerissen, Adrien Perruchon lässt es im Orchester mächtig krachen, Rufus Didwiszus Bühnenräume sind immer ein Blickfang, irgendwo zwischen ranzigen Schlafzimmern, Erichs Lampenladen und exotischer Hollywood-Kulisse.

Alle Darstellerinnen und Darsteller geben ihr bestes, ohne Rücksicht auf Verluste und ohne Scheu vor Lächerlichkeit (Kostüme: Victoria Behr). In vielen Fällen genderneutral: Hagen Matzeit verkörpert altjungferlich die Öffentliche Meinung, Wolfgang Ablinger-Sperrhacke als Pluto mit Stierfüßen und opulentem Kopfschmuck erinnert ein wenig an Drag-Queen Olivia Jones, Nadine Weissmann (markant schon als Mrs. Begbick in „Mahagonny“) überzeugt als agil-burschikoser Cupido.

Wer es ernster mag: Momentan wird Glucks Oper „Orfeo ed Euridice“, aus der Jacques Offenbach die Arie „Ach, ich habe sie verloren“ zitiert, für die Premiere am 23. Januar geprobt. Zuvor, ab dem 8. Januar, wird es mit Koskys bizarrer Inszenierung der Offenbach-Oper „Les Contes d'Hoffmann“ ein Wiedersehen geben. Sofern man wie geplant spielen darf.

„Orpheus in der Unterwelt" bei uns wieder im Angebot im April und Mai. Hier geht es zu den Karten.
„Orfeo ed Euridice" am 23. Januar (Premiere), 29. Januar, 6., 12. und 25. Februar, 6. März und 3. Juli. Hier geht es zu den Karten.

„Les Contes d'Hoffmann“ ab 8. Januar. Hier geht es zu den Karten.

3. Neuköllner Oper - Das Genie aus dem Weltall

Der Maestro (Hansa Czypionka, links) debattiert mit Beethoven (Christian Kerepeszki) über den Kulturbetrieb. © Thomas Koy
Der Maestro (Hansa Czypionka, links) debattiert mit Beethoven (Christian Kerepeszki) über den Kulturbetrieb. © Thomas Koy

Am Anfang herrscht Kakophonie. Erst allmählich offenbart die Ouvertüre Klänge, die einem zunehmend sehr bekannt vorkommen. Zur Musik gewährt uns die Videowand einen Blick ins Universum. Dort im Weltall kündigt sich ein Meteorit an. Unaufhaltsam rast er der Erde entgegen. Nach dem Einschlag treffen die Gesteinsbrocken die großen Konzert- und Opernhäuser der Welt. Auch die Philharmonie, wo gerade das Orchester probt. Die aufgeschreckten Musiker und Musikerinnen flüchten in einen Park. Nachdem sich die Aufregung etwas gelegt, sich jeder den Betonstaub von der Kleidung geklopft hat, herrscht allgemeine Ratlosigkeit.

Das Konzertgebäude ist einsturzgefährdet. Beethovens eigentlich unvollendete, dank Künstlicher Intelligenz und Finanzierung durch die Telekom nun aber scheinbar vollendete zehnte Sinfonie sollte dort in Anwesenheit des Bundespräsidenten erstmals erklingen. Was wird aus der geplanten Uraufführung? Und wer ist dieser merkwürdige Typ, der um die Musiker herumstreicht? Nicht nur äußerlich, sondern auch mit dem, was er von sich gibt, wirkt der Mann wie aus der Zeit gefallen.

Mit dem Musiktheater „Der Mann, der sich Beethoven nannte“ leistet die Neuköllner Oper einen späten Beitrag zum Beethoven-Jahr. Der Text stammt vom Erfolgsautoren Moritz Rinke sowie von Mathias Schönsee, der bei der Uraufführung in Neukölln auch Regie führte. Die Komödie arbeitet nach dem Muster „Er ist wieder da“. Offenbar ist Beethoven mit dem Meteoriten auf die Erde zurückgekommen. Dort wird er erstmal für einen Freigänger aus der Anstalt gehalten. Beethoven ist zwar nicht taub, ihm fehlen aber dank der Eindrücke durch die moderne Technik zunächst fast die Worte. KI, bezieht sich das auf Kirche? Musik-Streaming, welche Striemen? Rinke zeigt wenig Scheu vor unterhaltsamen Kalauern in seinem Stück zum 250. Geburtstag des Musiktitanen, der 2020 weltweit gefeiert werden sollte.


Ein verzögertes Jubiläum


Eine amerikanische Musikwissenschaftlerin hatte im Vorfeld des Jubiläumsjahres vorgeschlagen, Beethoven dadurch zu ehren, dass man seine Werke ein Jahr lang nicht spielt. Durch Corona wäre es beinahe so weit gekommen. Ende 2019 führten mich die Vorbereitungen zu einer Beethoven-Sonderveröffentlichung nach Bonn. In der Geburtsstadt des Klassikers traf ich Verantwortliche des Jubiläumsprogramms, alle voller Vorfreude, und in der Zentrale der Deutschen Telekom wurden erste Auszüge aus der zehnten Sinfonie vorgespielt. Niemand ahnte damals, dass ein Virus aus dem fernen Asien viele Pläne vereiteln sollte.

Das Beethoven-Jahr wurde deshalb bis 2021 ausgedehnt, die Uraufführung der KI-gesteuerten Zehnten fand vor wenigen Wochen statt. Immerhin noch vor der verspäteten Premiere des Neuköllner Stückes, in dem diese Art der Musikreproduktion in Frage gestellt, ja verhindert werden soll. Künstlerpech. Zumindest kann man von einem Publikumserfolg sprechen. Alle Beteiligten an diesem kleinen Gesamtkunstwerk (90 Minuten ohne Pause) ziehen das Publikum mit Charme, Elan und Esprit auf ihre Seite. Und das, obwohl Rinke und Schönsee, beide Spieler der Autoren-Fußballnationalmannschaft, manche Chance liegen lassen, bei ihrer satirischen Attacke auf die Beethoven-Pflege im Besonderen und den Kulturbetrieb im Allgemeinen.


Klischees über die Hochkultur


Der seltsame Fremde aus dem All (Christian Kerepeszki) lernt die junge Clara (Maya Alban-Zapata) kennen. Ob sie auch Musikerin sei, fragt er bei der ersten Begegnung. „Nee, Bratschistin!“ Zudem sei sie aus dem Orchester geflogen. Weil sie vorgeschlagen habe, auf anderen Wegen, abseits der Hochkultur, Musik zu den Menschen zu bringen.

Wenn man tief in die Kiste alter Musikerwitze und Klischees greift, muss der Dirigent in diesem Stück natürlich ein echter Despot sein. Ein Scheusal, das sein Orchester als „Kurmuschelkapelle“ beschimpft und sich über die Work-Life-Balance seiner „Musiker:innen“ (mit spöttischer Betonung auf „innen“) aufregt. Dieser Maestro ist in seiner komischen wie altbackenen Überzeichnung eine dankbare Rolle für einen Schauspieler wie Hansa Czypionka. Man merkt, es sollen alte Männer vom Sockel gestoßen werden. Beethoven selbst, das streitbare Genie, das sich zu Lebenszeiten gerne mit adeligen Förderern anlegte („Für solche Schweine spiele ich nicht“) ergreift auch in diesem Kulturkampf Partei. Anstelle der Fürsten seien bei der Finanzierung der Kultur heute die Großkonzerne getreten. Entschuldigung, das ist zu simpel!


Beethoven für alle


Der eigentliche Gewinn des Abends ist Ketan Bhatti, Cymin Samawatie, Niko Meinhold und dem Trickster Orchestra zu verdanken. In ihren Tonschöpfungen, die Beethoven weniger zitieren, als sich auf ihn berufen, werden die Leidenschaft, die Lust an der Improvisation und der Erneuerung deutlich, die der heute weltweit am meisten gespielte Komponist schätzte. Dirigentin Cymin Samawatie, die sich zudem als Sängerin und Schauspielerin behauptet, leitet ein sechsköpfiges Ensemble aus, auch als Solisten renommierten, Musikerinnen und Musikern, das unter anderem auf elektronische Klänge und Jazz setzt, vor allem aber auf außereuropäisches Instrumentarium. Etwa die chinesische Mundorgel Sheng, gespielt von Wu Wei.

Beethoven erfährt dabei keineswegs eine exotische Verfremdung. Das Trickster Orchestra, das sich als „transtraditionell“ versteht, transportiert Beethoven in die moderne globalisierte Welt. Ob es ihm gefallen hätte? Ich jedenfalls fand die vom Meister inspirierten Tonschöpfungen faszinierend.

Am 22., 23., 27. und 30. Dezember sowie am 2., 4., 5. und 6. Januar. Hier geht es zu den Karten.

4. Tempelhofer Feld - Berlin Circus Festival

Hochseil-Tanz im Neuen Circus: die französische Produktion
Hochseil-Tanz im Neuen Circus: die französische Produktion "Resiste" © Ian Grandjean

„Try not to fall“, singt die Musikerin Violette Legrand zu psychedelischen Rockklängen. Und ihre Partnerin auf dem Hochseil, die Artistin Johanne Humblet, gibt ihr Bestes, um dem Absturz zu entgehen. Gar nicht so einfach, wenn das gespannte Seil die Höhe ändert oder sogar in Schieflage gerät. Das kann zu aberwitzigen Situationen führen. Bei allem Spaß hält das Publikum immer wieder gespannt die Luft an.

Mit „Resiste“ erfinden Les filles du renard pâle eine der ältesten Zirkus-Disziplinen neu. Auch die Balancierstange wird nicht nur dafür verwendet, das Gleichgewicht zu halten. Man kann ebenso auf und an ihr herumturnen oder sich durch die Luft wirbeln lassen. Der Seiltanz, im traditionellen Zirkus nur ein Teil der Nummernrevue, wird zur alleinigen Attraktion der Vorstellung. Dass man nicht nur mit großen Ensembles, sondern auch in Minimal-Besetzung einen Abend bestreiten kann, gehört zu den Merkmalen des Zeitgenössischen Circus, der sich mit C schreibt, und sich als Kunstform zwischen den Disziplinen versteht.

Die witzige wie poetische Performance von und mit Johanne Humblet war somit ein wegweisender Auftakt des 7. Berlin Circus Festivals auf dem Tempelhofer Feld. Internationale Gastspiele stehen für die vielfältige Formensprache, die sich aus Akrobatik, Tanz, Theater, Performance, Musik und Neuen Medien entwickelt.

Pandemiebedingt findet das Festival erstmals als Winteredition statt. Die Glühwein-Atmosphäre verleiht dem Treiben in und zwischen den beheizten Zelten einen besonderen Reiz. Neben dem Showzelt gibt es eine Lounge mit Live-Musik sowie ein Restaurant, wo man sich einen Tisch reservieren und sein Lieblingsgericht bestellen kann. Das alles mit überzeugendem Hygiene-Konzept. Auch für Kinder sind die meisten Programme geeignet.

Sieben Artistinnen von Galapiat Cirque haben mit „Mad in Finland“ eine verrückte Show über ihr Heimatland entwickelt. Collectif Malunes (Belgien/Frankreich) beschäftigen sich in „forever happily“ mit den klassischen Rollenbildern von Märchen. Andere Künstlerinnen und Künstler gewähren dem Publikum Einblicke in ihre noch unfertigen Arbeiten, morgen (21. Dezember) zeigt zudem die Abschlussklasse der Berliner Artistikschule Etage ihre Show. So will das ambitionierte Festival demonstrieren, welches Potenzial im Neuen Circus schlummert.

In Berlin hat die Kunstform mit dem Chamäleon Theater ein festes Domizil. Nach dem mehrwöchigen Gastspiel der weltbekannten australischen Truppe Circa mit diversen Produktionen stehen ab 5. Januar in der Reihe „Play“ bis Mitte Februar sechs Stücke von sechs verschiedenen Kompanien aus dem In- und Ausland auf dem Programm. Eine weitere exzellente Möglichkeit, Trends und Themen kennen zu lernen.

Abschlussshow der Artistikschule Etage am 21. Dezember. Hier geht es zu den Karten.
Galapiat Cirque mit „Mad in Finland“ vom 25. bis zum 28. Dezember. Hier geht es zu den Karten.
Collectif Malunes mit „forever happily“ am 31. Dezember und 1. und 2. Januar. Hier geht es zu den Karten.

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