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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 376

Kulturvolk Blog | Sibylle Marx

von Sibylle Marx

29. November 2021

Heute: 1. „Eurotrash“ – Schaubühne / 2. „Krummer Hund“ – Theater an der Parkaue / 3. „Stecker ziehen“ – Grips-Theater

1. Schaubühne - Familiäre Grausamkeiten

 © Fabian Schellhorn
© Fabian Schellhorn

Mutter und Sohn auf einer Reise, der letzten, die die beiden gemeinsam unternehmen werden.

Die Mutter, über achtzig, tablettensüchtig und Alkoholikerin. Der Sohn, hin- und hergerissen zwischen Genervt-Sein über die Mutter und Liebe zu ihr, versucht schon sein Leben lang, sich von seiner Familie – der Großvater Nazi, der Vater ein skrupelloser Geschäftemacher und Betrüger – zu befreien.

Die Mutter hat den Sohn zu sich bestellt, sie will nach Afrika, zu den Zebras. Geld ist kein Problem, auf Mutters Konto liegen Millionen, die aus Waffenaktien stammen. Schmutziges Geld also, das man am besten loswird, indem man es verschenkt. Die erste Station ihrer Fahrt mit dem Taxi ist also das Bankhaus in der Innenstadt, wo sich die Mutter sechshunderttausend Franken geben lässt, die in einer Plastiktüte verstaut werden. Los geht’s.

Der Abend in der Schaubühne (Regie: Jan Bosse) beginnt mit einer leeren Bühne: graue Rückwand, aus Betonplatten zusammengesetzt. Auf dem ebenfalls grauen Boden ein zweiteiliges Podest. Ein Typ in Parka mit hochgezogener Kapuze, Joachim Meyerhoff, bereitet das Spiel vor: bringt einen Strauß Rosen in Plastikfolie und eine braune Papiertüte; verteilt Wodkaflaschen; legt einen Anzug, Hemd und Krawatte auf einem Stuhl ab. Der abgerissene Penner verwandelt sich in einen Dandy in hellblauem Anzug, Schlips und Kragen, mit angeklebtem Bart und blonder schlechtsitzender Perücke. Der hässliche braune Wollpullover aus der Papiertüte wird unters Jackett gezogen.

Angela Winkler, in gelbem Kostümkleid mit schwarzer Paspel und Plisseerock, quert auf wackeligen Beinen mit ihrem Rollator den Raum, nimmt Platz, setzt sich mit zittrigen Fingern Perücke und Bulgari-Sonnenbrille auf (Kostüme: Kathrin Plath).

Meyerhoff schiebt die Podestteile auseinander und aus dem Bühnenboden fährt ganz langsam etwas nach oben: Quer-und Längsgestänge wird sichtbar. Ein Boot! Ein Theater-Segelboot mit einem Mast, dessen Segel gesetzt wird, indem an einer Kurbel gedreht wird. Seile, an denen man sich festhalten, über die man aber auch herrlich stolpern kann. Eine Reling, in deren Taue man sich legen und dem Wind trotzen kann. Auch zwei Klappstühle auf dem Sonnendeck fehlen nicht (Bühne: Stéphane Laimé).

Das Boot bietet vielfältige Spielmöglichkeiten, die besonders von Joachim Meyerhoff – manchmal bis zur Schmerzgrenze – ausgereizt werden. Bereits das Besteigen des Bootes wird zu einer artistischen Nummer: Während die Mutter das Boot souverän erklettert, kämpft sich der Sohn nach oben, verheddert sich in den Tauen, rutscht mehrmals ab, kann sich gerade noch halten, zieht sich wieder hoch, ist endlich oben, aber da ist ja auch noch der Rollator…

Das Boot wird zum Taxi, zum Zimmer in der heruntergekommenen Nazikommune, in der die beiden übernachten, zur Gondel, die sie zum Gletscher hinaufträgt und die bei der Rückfahrt in mehreren hundert Metern Höhe hängenbleibt. Wenn der Platz auf dem Boot zu eng wird, wird einfach eine Bühnentreppe rangeschoben.

Die unbändige Freude am Spiel und der Einfallsreichtum von Joachim Meyerhoff nehmen dem Text vor allem in der ersten Hälfte viel von seiner Schwere. Angela Winklers Mutter ist egozentrisch und garstig, aber auch hilflos wie ein Kind. Ihre Spielweise ist beherrscht und doch immer wieder ins Tragisch-Komische kippend.  Berührende Momente wechseln mit grotesken. Die Mutter hat einen falschen Darmausgang, wovon der Sohn nichts weiß. Der Beutel muss gewechselt werden. Das kostet Überwindung, zumal die Mutter keine Hilfe ist. Aber schließlich gelingt es, der Sohn atmet auf. Schrecklich allerdings, dass die Klebefolie des vollen Beutels am braunen Strickpullover hängenbleibt, dessen Muster, wie jetzt erst erkennbar wird, aus Hakenkreuzen besteht.

Die Reise wird zu einer Begegnung von Mutter und Sohn. Es wird viel gestritten und aneinander vorbeigeredet, schon tausendfach gemachte Vorwürfe werden wiederholt, alte Verletzungen brechen auf. Aber auch Erlebnisse, die durch persönliche Erinnerungen verfälscht oder ganz vergessen wurden, kommen wieder hoch und erscheinen in neuem Licht.

Und in allem Verdrängten, Ungesagten, Totgeschwiegenen ist auch eine große Liebe zwischen den beiden. Als die Reise sich dem Ende und ihrem tatsächlichen Ziel nähert, hängt Meyerhoff große bunte afrikanische Tücher, eins neben das andere, über die Reling. Das Segel wird zurückgekurbelt und eingerollt.

Er führt die Mutter über die Treppe vom Boot. Sie trippelt mit ihrem Rollator nach hinten. Der Plafond fährt hoch und gibt den Blick frei auf Leitern, Podeste, Maschinen, Theatertechnik.

Rechts hinten der Notausgang. Angela Winkler lässt den Rollator stehen, geht den Zebras entgegen, öffnet die Tür und tritt direkt ins reale Leben, auf die Cicerostraße hinter der Schaubühne.

Nächste Vorstellungen: 2. bis 4. Dezember, 20. bis 24. Januar, 27. bis 30. Januar.

2. Theater an der Parkaue - Geglückter Neustart am Theater an der Parkaue

v.l.n.r.: Claudia Korneev, Tenzin Chöney Kolsch, Nicolas Sidiropulos © Sinje Hasheider
v.l.n.r.: Claudia Korneev, Tenzin Chöney Kolsch, Nicolas Sidiropulos © Sinje Hasheider

Ein krummer Hund ist einer, dem nicht zu trauen ist. Den Erwachsenen ist nicht zu trauen, das weiß der 15-jährige Daniel aus Erfahrung. Der Vater ist vor Jahren einfach verschwunden, seitdem hat keiner mehr was von ihm gehört. Die Mutter schleppt seitdem einen Liebhaber nach dem anderen an, Daniel weiß immer gleich, dass auch der neue nicht bleiben wird. Er will auch gar nicht, dass einer bleibt.

Der ganz neue Lover ist Tierarzt. Nicht irgendeiner, sondern der, der Daniels krebskrankem Hund Ozzy gerade die Spritze gegeben hat und die Mutter über dem toten Hund fragt, ob sie abends mit ihm essen geht.

So beginnt der Roman „Krummer Hund“ von Juliane Pickel, den das Theater an der Parkaue in einer schlüssigen Bühnenfassung (Regie: Alexander Riemenschneider, Dramaturgie: Liat Fassberg) zur Aufführung bringt. Zwei Schauspielerinnen und drei Schauspieler bewegen sich auf einer nahezu leeren schwarzen Bühne. E-Gitarre und E-Cello, live gespielt, begleiten und pointieren das Spiel, treiben es voran. Im Zentrum des Raumes vier überlebensgroße dreidimensionale Buchstaben aus wie mit Eiskristallen überzogenem Plexiglas: O-Z-Z-Y (Bühne: Johanna Pfau).

Den Erwachsenen ist nicht zu trauen, soviel ist klar. Weniger klar ist es, wenn einem selbst nicht zu trauen ist. Daniel hat so eine Wut in sich, dass er manchmal austickt, auf Dinge eindrischt, besinnungslos.

„...manchmal ist es, als würde ein Funke zünden, und direkt unter meiner Schädeldecke gibt es eine strahlend helle und völlig geräuschlose Explosion. Alles wird ganz still und ganz hell, der Himmel ist so weiß, dass er mich blendet, und mein Kopf wird so groß und weit, dass die ganze Welt hineinpasst. Und ich bin plötzlich weg, mich, Daniel, gibt es nicht mehr, ich bin gar nicht mehr in mir drin. Ich möchte am liebsten schreien, aber ich habe keine Stimme, und von ganz weit weg sehe ich mir zu, wie ich Sachen mache, die ich gar nicht machen will. Und erst wenn ich zuschlage, wenn ich fühle, wie meine Faust auf etwas Hartes trifft, oder wenn ich höre, wie etwas zerspringt, wie etwas kaputtgeht – dann kann ich aufhören. Dann ist es vorbei…“

Die Mutter, der Tierarzt, Daniels Freund Edgar und die anfangs von den Freunden gehasste Alina sind festen Schauspieler:innen zugeordnet. Daniels Rolle wird wechselnd von allen übernommen: Die Figur wird so durch unterschiedliche Haltungen und Spielweisen geprägt, die Perspektiven ändern sich ständig. Das verlangt dem jugendlichen Publikum (empfohlen ist die Inszenierung für Menschen ab 14) einiges ab. Man muss sich konzentrieren, dranbleiben an der in schnellem Tempo erzählten Handlung, die uns Daniels Wut nahebringt, seine Einsamkeit, seine Verlassenheit und seine Ohnmacht. Aber es gibt auch tiefe Freundschaft und eine zarte Liebesgeschichte. Und darüber hinaus entwickelt sich das Geschehen zu einem Krimi, dessen Lösung für Daniel überraschend kommt. Zum Nach-Denken bleibt für das Publikum einiges übrig.

Das Ensemble (überwiegend erst seit dieser Spielzeit am Theater an der Parkaue) agiert in seiner Diversität erfrischend und voller Spielfreude. Die Teenager auf der Bühne lümmeln auf Matratzenbergen, rennen durcheinander, fallen übereinander her, tanzen mit sich selbst und miteinander. Den szenischen Höhepunkt erlebt die Inszenierung in einer wilden Partyszene, in der die Spieler:innen von oben in die Buchstaben aus Plexiglas hineingreifen, große Blöcke aus Eis herausnehmen und diese wieder und wieder auf den Boden schmettern, so dass das Eis in immer kleinere Stücke zerspringt, die dann nach und nach auftauen. Große Pfützen und kleine Wasserlachen bleiben auf dem Boden zurück. Das Eis taut, die Spuren sind sichtbar.

Am Ende von „Krummer Hund“ kann Daniel aus seiner Starre ausbrechen, kann Fragen und Forderungen stellen und erlebt, dass auch Erwachsene nicht alles wissen, sich Fragen gefallen lassen und diese auch an sich selbst stellen.

Mit dieser Inszenierung ist dem Theater an der Parkaue der Neustart wirklich geglückt. Endlich konnte das Haus nach der langen Corona-Pause und dem 2019 erfolgten Leitungswechsel wieder öffnen. 

Alexander Riemenschneider und Christina Schulz bilden das neue Leitungsteam, das in seiner künftigen Arbeit auf „verantwortungsvolles Miteinander, Fairness und Respekt setzt“, wie Alexander Riemenschneider im Kulturradio des RBB ausführte.

Das Haupthaus wird in den nächsten beiden Jahren grundsaniert, die große Bühne steht nicht zur Verfügung. Aber der neben dem Theater entstandene Neubau, der eine vollausgestattete zweigeschossige Hallenbühne beherbergt, ist weit mehr als eine Ersatzspielstätte und heißt das Publikum mit seiner offenen Atmosphäre willkommen.

Zwei Premieren stehen im November und im Dezember an: Das Musiktheaterstück „WAS?“ für Menschen ab 8, in dem Räume, Regeln und deren Umkehrungen im Theater, in der Stadt und im Kapitalismus befragt werden und das Familienstück „Pythonparfum und Pralinen aus Pirgendwo” ab 5 Jahren. Es erzählt, was entsteht, wenn mit einem Menschen eine ganze Welt zur Tür hereinkommt.

Wieder am 9., 18., 19., 29. und 30. Dezember. Hier geht es zu den Karten.

„Pythonparfum und Pralinen aus Pirgendwo“ wird am 25. Und 26. Dezember gespielt. Hier geht es zu den Karten.

3. Grips-Theater - Schulnoten mehr als überflüssig

 © David Baltzer | www.bildbuehne.de
© David Baltzer | www.bildbuehne.de

Matheunterricht vierte Klasse. Eine Leinwand, auf die ein Notenspiegel projiziert ist. Einmal Eins+, einmal Fünf, viele Dreien. Wer hat die Eins, wer die Fünf? Und wie werden die Eltern zuhause reagieren?

In seiner neuesten Produktion „Stecker ziehen“ widmet sich das Grips-Theater einem Thema, das für Kinder, Lehrerinnen und Lehrer sowie Eltern hochaktuell und brisant ist. Das Stück von Rinus Silzle wurde im Auftrag des Theaters entwickelt und eignet sich für Menschen ab 9 Jahren. Es geht um Klassenarbeiten, Noten und Stress. Unter Stress stehen alle: Die Schüler:innen werden ständig bewertet. Wenn es nicht die Noten für die Klassenarbeiten und Tests sind, dann sind es die Bewertungen für ihr Verhalten, für das es Blitze oder Sternchen gibt. Die Lehrer:innen reden ständig von der weiterführenden Schule, für die die Entscheidung jetzt bald ansteht. Und die Eltern machen zu Hause entweder weiter Druck oder kümmern sich gar nicht, weil sie überfordert oder nur mit sich selbst beschäftigt sind.

Nicht einfach für Kiri, Liam, Phili und Korb, die zwar ganz unterschiedlich sind und sich auch mal heftig streiten, aber, wenn es ernst wird, zusammenhalten. Und da ist noch Thorben, der auch in ihre Klasse geht, aber schon länger in der Schule fehlt. Er war mitten im Unterricht einfach vom Stuhl gefallen und musste ins Krankenhaus gebracht werden.

Die Inszenierung von Jochen Strauch arbeitet mit einer einfachen, aber faszinierenden Bühnenlösung: Holzkisten, mit Aussparungen zum Tragen und Stapeln und innen rot gestrichen, lassen sich als Schulbänke genauso benutzen wie als Tischtennisplatte oder als Badewanne. Wenn man sich in eine Kiste setzt und eine andere über sich stülpt, kann man sich so verstecken, dass einen niemand findet. Und wenn man die Kisten mit der offenen roten Seite nach oben neben- und hintereinander aufbaut, kann man sich auf den schmalen Kistenkanten bewegen. Das ist allerdings nicht einfach, erfordert Geschicklichkeit, und man muss die Balance halten.

Die Rollen von Eltern und Lehrern werden unter drei Darsteller:innen aufgeteilt, die Elternpaare sind gut zuzuordnen und zu unterscheiden, denn ihre Jacken oder Pullover, die schnell von innen nach außen gewendet werden können, passen zu den Kostümen der Kinder (Bühne und Kostüm: Sigi Colpe).

Die Eltern und die Klassenlehrerin Frau Schmitz kommen nicht besonders gut weg, die Kinder müssen die Sache selbst in die Hand nehmen und finden, wie so oft im Grips-Theater, eine Lösung. Sie drehen den Spieß um und stellen ihrer Klassenlehrerin ein Zeugnis aus.

Wenn auf der Videoleinwand (Video: David Schulz) vorgeführt wird, wie sich der Druck in der Schule in anderen Bereichen fortsetzt, zum Beispiel, wie auch Schauspieler:innen unter Druck stehen, kommt zusätzlich Abwechslung ins Bühnengeschehen, das von Thilo Brandt am Schlagzeug live begleitet und kommentiert wird (Musik: Matthias Schubert).

Die drei vierten Klassen im Publikum verfolgten die gut anderthalbstündige Aufführung aufmerksam, reagierten mit Lachen und Dazwischenrufen, waren aber auch ganz still in den entsprechenden Szenen. Sie wissen, was gespielt wird.

Bei uns im Angebot am 15. Januar. Hier geht es zu den Karten.

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