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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 375

Kulturvolk Blog | Ralf Stabel

von Ralf Stabel

22. November 2021

Zwei ZeitreisenHeute: 1. „Erlaubst du wohl, dir ein Geschichtchen zu erzählen“ – SchillerTheater / 2. Ballett-Tipp: „Paquita“ – Opernhaus Magdeburg

1. KULTURVOLK-MONTAGSKULTUR - „Erlaubst du wohl, dir ein Geschichtchen zu erzählen. Jüdische Lebenswege auf deutschen Bühnen“

Das Jewish Chamber Orchestra Munich unter der Leitung von Daniel Grossman mit dem Solisten Wen-Sinn Yang © Charlotte Lioba Fuchs
Das Jewish Chamber Orchestra Munich unter der Leitung von Daniel Grossman mit dem Solisten Wen-Sinn Yang © Charlotte Lioba Fuchs

Eines gleich vorweg: Es ist ein besonderer Abend, ein wichtiger – und ein sehr gelungener!

Eingangs begrüßen der Vorstandsvorsitzende Frank Bielka und die Geschäftsführerin Katrin Schindler das Publikum im ausverkauften Schiller-Theater. Bielka erinnert an 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland, an die Gründung der Volksbühnen-Bewegung vor 131 Jahren, an ihr Bestreben, Kultur für alle zu ermöglichen, und an die bemerkenswert vielen jüdischen Menschen, die dabei mit anpackten. Schindler berichtet sehr persönlich über ihren als Moritz Weinstein geborenen Großvater Fritz Wisten und sein Leben für das Theater.

Folgt man dem Titel-Zitat, könnte man annehmen, dass der Abend sich mit jüdischen Bühnenrollen befasst, denn mit diesen Worten hebt Nathan, der Weise, an, die Ringparabel zu erzählen. Und es gäbe viele bemerkenswerte Rollen hervorzuheben: Von Shakespeares Shylock über Hebbels Judith bis zu Schnitzlers Professor Bernhardi, um nur einige zu nennen. Doch der Abend widmet sich berühmten jüdischen Theater-Künstlerinnen und -Künstlern.

Die Ausstattung für diese Theater-Lesung kann einfacher und treffender nicht sein: Ein roter Vorhang im Hintergrund, zwei Scheinwerfer an den Seiten und fertig ist die Szene für das mittig platzierte Jewish Chamber Orchestra aus München unter der Leitung von Daniel Grossmann. Die beiden Tische daneben sind für Gesine Cukrowski, bekannt aus Film und Theater, und Christian Brückner, dessen Stimme niemandem unbekannt sein kann.

Zu Beginn wird in einer beeindruckenden Aufzählung an Viele erinnert, die das Theater in Deutschland geprägt haben: Max Reinhardt, Fritzi Massary, Max Pallenberg, Luise Rainer, Curt Bois, Therese Giehse, Ernst Deutsch, Rosa Valetti, Leopold Jessner und und und – die Aufzählung kann und soll kein Ende nehmen. Doch dann hebt Christian Brückner an, die Erinnerungen von Fritz Kortner vorzutragen – an sein Elternhaus, an seinen Traum, Schauspieler zu werden, und vor allem an seinen Vater. Und durch Lesung und Spiel von Gesine Cukrowski taucht die junge Elisabeth Bergner – nur wenige Jahre später als Kortner, aber ebenso wie er – in Wien auf, um Schauspielerin zu werden. Und hier wird klar, der Abend gehört diesen beiden besonderen Persönlichkeiten und ihren Texten, ausgewählt von Peter W. Marx.

Es folgen Wechsel zwischen Wort und Musik, zwischen ihren und seinen Lebenserinnerungen. Dramaturgisch geschickt werden unter der Regie von Martin Mühleis die Dialoge zwischen den beiden Porträtierten zu leisen und behutsamen Höhepunkten des Abends.

Über Fritz Kortner erfahren wir, dass die enorme Büchersammlung seines Schauspiel-Lehrers und das Stipendium, das er als Einziger erhält, den Vater dann doch von seiner Berufswahl überzeugen. Und wir erfahren, wie er von den Berliner Kollegen und Kolleginnen als Dompteur bejubelt wurde, als er die aufgebrachte Zuschauermenge in der Wilhelm-Tell-Inszenierung am Schauspielhaus durch permanentes Anschreien zur Raison brachte. Wie Gustav Frank ihm eindringlich zur Emigration riet und seine Frau ihn in Schockstarre fand, als er am 30. Januar 1933 im Radio die Worte hörte: „Hitler Reichskanzler“. Am Folgetag verließ er Deutschland und kehrte erst nach 14 Jahren wieder zurück. Im zerstörten Berlin trifft er eine „Bekannte“ vom noblen Wiener Straßen-Strich. Welch seltsames Wiedersehen.

Elisabeth Bergner sehen wir bei Sprechübungen mit Korken zu, hören von ihren Unsicherheiten beim ersten Dreh, der Liebe zu ihrem Ehemann, dem Filmemacher Paul Czinner, und von der Zuneigung zu ihrem Kollegen Hans Otto, der ihr gesteht, Kommunist zu sein, und sie später eindringlich auffordert, das braune Deutschland zu verlassen. Auch, dass er kurz darauf von der SA ermordet wurde, berichtet sie. Als sie nach dem Krieg ins zerstörte Berlin kommt, trifft sie einen glücklichen Bertolt Brecht, der sie mit Ruth Berlau an seiner Seite mit großzügiger Geste einlädt, bei ihm zu arbeiten: „Sie gehören hierher!“ Das Hierher ist sein „Schiff“, das Theater am Schiffbauerdamm. Sie lehnt freundlich ab. Erst später im Deutschen Theater, während der Aufführung der „Mutter Courage“, kann sie ihren Tränen freien Lauf lassen über die totale Kriegszerstörung der von ihr so geliebten Stadt Berlin…

Dieser Abend, der vorab in acht anderen Städten gezeigt wurde, passt besonders gut zu Berlin, weil beide Karrieren hier ihrem Höhepunkt zustrebten. Dass man meint, tatsächlich Elisabeth Bergner und Fritz Kortner zuzuhören, ist der exzellenten Schauspielkunst von Gesine Cukrowski und Christian Brückner zu verdanken!

Ebenso beeindruckend sind die musikalische Auswahl und ihre Gestaltung. Die Stimmung des Erzählten wird vom Orchester aufgenommen und verstärkt. Zwischen den Dramen der Lebensläufe entstehen so Momente des Innehaltens und Besinnens. Werke von David Popper, Leone Sinigaglia, Robert Schumann und Leó Weiner erklingen. Und mehrmals Kompositionen von Mieczysław Weinberg. Am Violoncello Wen-Sinn Yang – einfühlsam und beeindruckend.

Es ist unvorstellbar, dass dieser Abend in Berlin der letzte gewesen sein soll. Man wünschte diesem Projekt eine nicht enden wollende Tournee.

2. Opernhaus Magdeburg - Ballett-Tipp: „Paquita“

Die Primera Bailarina Grettel Morejón und der Ballett- und Tanz-Fotograf Gabriel Davalos © Karla Llanes
Die Primera Bailarina Grettel Morejón und der Ballett- und Tanz-Fotograf Gabriel Davalos © Karla Llanes

Das neue Buch des stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden Frank-Rüdiger Berger, das hier auf jeden Fall noch eine gesonderte Besprechung verdient, nimmt uns mit auf eine Reise in eine andere Welt und Zeit: zu den „Stars des Romantischen Balletts“ – so der Titel. Es geht ins 19. Jahrhundert und in die damaligen Zentren des europäischen Bühnentanzes.

Eine von diesen Stars war Carlotta Grisi (1819-1899). In Berlin war sie 1850 zu sehen. Über sie und das 1846 für sie in Paris vom dortigen Ballettmeister Joseph Mazilier geschaffene Ballett „Paquita“ heißt es in einer zeitgenössischen Kritik: „Dieses Ballett, dessen Handlung vielleicht ein wenig zu melodramatisch ist, hat großen Erfolg gehabt. Der Reichtum und die Einzigartigkeit der Empire-Kostüme, die Schönheit der Dekorationen und vor allem die Perfektion von Carlottas Tanz haben den Erfolg errungen. – Ihr letzter Tanz war von einer Kühnheit, von einer unvorstellbaren Schwierigkeit: Da gibt es in faszinierender Geschwindigkeit gedrehte Sprünge auf der Zehenspitze eines Beins, die ein Gefühl von mit Schrecken vermischtem Vergnügen hervorrufen; denn ihre Ausführung erscheint unmöglich, gleichwohl wiederholt sie sie acht oder zehn Mal. Beifallsstürme haben die Tänzerin begrüßt, die zweimal vor den geschlossenen Vorhang gerufen wurde.“

Das damals Formulierte könnte man heute ebenso über Grettel Morejón und ihre Interpretation eben dieser Titel-Partie der Paquita sowie über die derzeit laufende Inszenierung des amtierenden Ballettdirektors Gonzalo Galguera am Magdeburger Opernhaus schreiben. Denn genau 175 Jahre nach der Uraufführung in der Pariser Oper, hat er dieses ansonsten außerordentlich selten gespielte Werk choreografiert und dazu diese herausragende Tänzerin, diese Primera bailarina des kubanischen Nationalballetts, eingeladen.

Ob die Handlung tatsächlich „ein wenig melodramatisch ist“, ist Ansichtssache: Paquita, die weibliche Hauptrolle, wächst nicht zuhause auf. Ein liebevoll gehütetes Foto-Medaillon ist die einzige Verbindung und Erinnerung an ihre Herkunft. Im Moment jedenfalls ist sie Teil einer tanzenden Gemeinschaft.

Zu den heute schwierigen Passagen in der beschriebenen Handlung gehört, dass Paquita von „Zigeunern“ geraubt worden sei. Bei Frank-Rüdiger Berger ist das Z-Wort wie hier in Anführungsstrichen gesetzt, in der Inhaltsangabe bei Wikipedia ist es blau unterlegt, um bei Interesse zu einer Begriffserläuterung gelangen zu können. In Magdeburg wird aus den Tanzenden in der Handlungswiedergabe einfach „Tanztruppe“. Und genau das sieht man schließlich auch auf der Ballett-Bühne: eine volkstümlich kostümierte tanzende „Truppe“.

Ihr Anführer Iñigo ist selbstverständlich in Paquita verliebt, und ebenso selbstverständlich sie nicht in ihn. Streit! Und es kommt, wie es kommen muss: Eine herrschaftliche Gesellschaft erfreut sich während eines Ausflugs an den Tanzenden und ein gewisser Lucien unter ihnen wirft umgehend ein Auge auf Paquita - und sie tut es ihm in umgekehrter Richtung gleich. Damit ist der typische romantische Konflikt in Szene gesetzt. Zu dieser Zeit steht üblicherweise eigentlich ein Mann zwischen zwei Frauen wie Siegfried zwischen Odette und Odile im „Schwanensee“, Albrecht zwischen Bathilde und Giselle in „Giselle“ oder Solor zwischen Nikia und Gamzatti in „Die Bajadere“. Hier ist es nun die umgekehrte Konstellation. Iñigo versucht sich des Nebenbuhlers durch Mord zu entledigen, stellt es aber so ungeschickt an, dass er am Ende versehentlich selbst von seinen Handlangern gemeuchelt wird. Der Weg wäre frei für die Liebe, wenn es da nicht die sozialen Schranken gäbe. Aber flugs stellt sich heraus, dass der Abgebildete in Paquitas Medaillon Luciens Onkel ist und sie ihm damit ebenbürtig. Das muss gefeiert werden! Ein Grand Pas classic – das große Tanzen hebt an mit vielerlei tänzerischen Herausforderungen für das gesamte Ensemble.

Heute wird normalerweise nur noch dieser festliche Schlussteil getanzt. Umso bemerkens- und dankeswerter ist es, dass Gonzalo Galguera nun das ganze Werk inszeniert hat. Mit Grettel Morejón hat er eine Paquita, die zierlich und kraftvoll zugleich agiert, die so sicher die komplizierten Passagen der Choreografie meistert, dass man hier nicht nur eine virtuose und expressive Tänzerin wahrnimmt, sondern eigentlich eine ganz selbstverständlich von ihren Emotionen zum Tanzen motivierte junge Frau. Dass sie sich selbstbewusst für ihre Liebe entscheidet und sich nicht ins vorbestimmte Joch begibt, macht sie zu einer Zeitgenossin. Mit Mihael Belilov als Lucien hat sie einen so kräftigen wie geschmeidigen Partner an der Hand. Wenn er seine Angebetete auf Händen trägt, muss man sich keine Sorgen machen. Rodrigo Aryam als Iñigo ist eine ausdrucksstarke Inkarnation der Boshaftigkeit. Für Admir Kolbuçaj als Freund von Lucian sowie für Lissy Baez und Amanda Rose Hall als Solistinnen der „Tanztruppe“ sind besonders herausfordernde Passagen choreografiert, die sie mit Bravour meistern. Nach knapp drei Stunden toben die pandemiebedingt wenigen hundert Zuschauer als wären es Tausende!

Während man anderenorts darüber diskutiert, ob oder wie man das Ballett-Erbe des 19. Jahrhunderts noch tanzen könne, wird es in der Landeshauptstadt Sachsen-Anhalts getan. Wer Glück hat, ergattert noch eine Karte!

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