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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 346

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

27. Oktober 2020

HEUTE: 1. „Fräulein Julie“ – Renaissance Theater / 2. Last-Minute-Tickets „Teatro Piscator“ – 130 Jahre Freie Volksbühne e.V. / 3. Konrad-Wolf-Preis 2020 für Alexander Lang – Akademie der Künste / 4. „Die Möglichkeit einer Insel“ ‑ Berliner Ensemble

1. Renaissance: - Kampfzone Zweierbeziehung

"Fräulein Julie" Renaissance Theater © Barbara Braun

Die Dame tanzt lasziv, ihr Diener schaut gebannt. Sie taumelt zwischen Herrschaftslust und Lebensüberdruss, er zwischen Geilheit und Karriere. So geht das zwischen den sich anziehenden und abstoßenden Gegensätzen in August Strindbergs Trauerspiel „Fräulein Julie“; zwischen der reichen und kapriziösen Herrin Julie (Judith Rosmair) und ihrem nüchtern realistischen, aus Armut kommenden Domestiken Jean (Dominique Horwitz). Er träumt vom Aufschwung nach oben „ins Licht zu den Nestern mit den goldenen Eiern“ und Liebe ist für ihn vornehmlich Trieb, sie hingegen will sich fallen lassen ins weiche Geliebtsein oder sinken „hinunter bis in die Erde“.

 

So läuft das immer bei Strindberg: Aufstieg und Fall, Macht und Unterwerfung, Stolz und Ohnmacht, Oben und Unten, Arm und Reich im Ringen der Menschen miteinander und erst recht im Kampf zwischen Mann und Frau. Die 58 Stücke des rastlosen schwedischen Schnellschreibers (1849-1912), der sich selbst im Zwist aus verzweifelter Selbstvernichtung und genialischer Selbsterschaffung quälte, dieses opulente dramatische Gesamtwerk ist geprägt von der magischen, albtraumhaften Beschwörung unser aller Zerrissenheiten.

 

Den Clinch des ungleichen Paares, das allein im Sexuellen zueinander findet und ansonsten sich mit Eifer gegenseitig im Weg steht beim gemeinsamen Traum vom Ausbruch aus dem Ghetto ihrer Konventionen in ein womöglich neues Leben in weiter, südlich warmer Ferne, diesen vom Autor psychologisch wie sozial akribisch ausgebreiteten Geschlechterkampf hat der Regisseur Torsten Fischer in einer geschickt gerafften Textfassung als Strindberg-Konzentrat in 70 Minuten mit bemerkenswerter Schärfe inszeniert. Das Kampfstück von 1888 mit dem hysterisch verführerischen Fräulein und ihrem cool geschäftstüchtigen Angestellten – beide bedienen sich ihrer spezifischen Waffen aus dem erotischen wir klassenkämpferischen Arsenal ‑ spult sich präzise ab wie in einer Art heiß-kalter Versuchsanordung. Also weniger Magie, dafür mehr Mechanik. Doch auch das hat durch Regie und Schauspielkunst der beiden Stars erstaunlicherweise noch allerhand von einem Thriller, unterminiert durch die Raffinesse des soghaft an- und abschwellenden Soundtracks (Hannes Koch).

 

Ein signifikantes Kunstwerk für sich das Bühnenbild von Herbert Schäfer und Vasilis Triantafillopoulos: Die weiß strahlende Wand eines eleganten Salons mit portalhohen Flügeltüren, der mannshoch geschlossene Sockel aus kalt gleißendem Stahl wie die Mauer eines Gefängnisses. Aus dem es kein Entrinnen gibt.

 

Das Finale ist hier im Gegensatz zu Strindberg überraschend unblutig. Julie löscht sich nicht aus mit dem Rasiermesser von Jean. Der schaut vielmehr entgeistert-begeistert hoch auf Julie, die über ihm vor der Salontür in schick schwarzem Abendkleid in vornehmer Verruchtheit elegisch tanzt wie zu Beginn der hoffnungslosen Geschichte. Also alles auf Anfang. ‑ Und wenn sie nicht gestorben sind, wird getanzt, geschaut und gekämpft bis heute.

(wieder 27.-31. Oktober, 19.30 Uhr und am 1. November, 18 Uhr) 

 

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2. KULTURVOLK in der Volksbühne: - Jubiläums-Revue „Teatro Piscator!

Bruno Wille aus Siegfried Nestriepke Geschichte der Volksbühne Berlin
Bruno Wille aus Siegfried Nestriepke Geschichte der Volksbühne Berlin

Just am 23. März 1890, also vor 130 Jahren, wurde der Gründungsaufruf für eine „Freie Volksbühne“ veröffentlicht; sein Verfasser: Dr. Bruno Wille, ein seinerzeit bekannter Theologe, Philosoph und Schriftsteller. So entstand unter dem Motto „Die Kunst dem Volke“ Deutschlands erste kulturpolitische Massenorganisation, die sich programmatisch der Arbeiterbewegung verbunden fühlte. ‑ Der Verein Freie Volksbühne Berlin e.V. war geboren und brachte bereits ein halbes Jahr später mit Henrik Ibsens „Stützen der Gesellschaft“ seine erste selbstverantwortete Theaterproduktion auf die Bühne.

 

Am 23. März 2020 wollte der Verein – als moderne Besucherorganisation unter dem Namen KULTURVOLK firmierend ‑ seinen sensationellen 130. Geburtstag mit der eigens produzierten, prominent besetzten Revue „Teatro Piscator!“ im ersten „Stammhaus“ Volksbühne feiern. Doch da kam Corona…

 

Am Montag 26. Oktober, wurde alles nachgeholt bei leider reduziertem Platzangebot, das längst ausgebucht war. Deshalb, kurzfristig angesetzt, die Wiederholung der Show Heute, Dienstag, 27. Oktober, um 15 Uhr (!) in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Es gibt Restkarten über KULTURVOLK (service@kulturvolk.de / 030-86 00 9351). Die gebuchten Tickets liegen am Besuchertisch im Foyer bereit.

 

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3. Konrad-Wolf-Preis: - Alexander Langs zeitgenössisches Klassiker-Welttheater

Alexander Lang © Alexej Paryla
Alexander Lang © Alexej Paryla

Der Schlacks, der so schön verträumt den Kopf drehen und zugleich eine so spitze Lippe riskieren konnte schlug ein wie der Blitz. Alexander Lang aus Erfurt, Jahrgang 1941, kam als Mittzwanziger von der Busch-Schule und wurde prompt zum Idol. Mit jungenhaftem Furor und zugleich spröder Distanz gegenüber allem und jeden traf der Schauspieler Ende der 1960er Jahre den Nerv der Zeit. War für viele eine Identifikationsfigur durch seine aufregende Mischung aus Held und Antiheld. 

 

Intendanten sahen das auch, und so kam Lang alsbald nach ganz oben: ans Deutsche Theater. Dort war er, u.a., der Prinz von Homburg in Adolf Dresens aufsehenerregender Kleist-Inszenierung, die das hochfahrend Entrückte, Naive, Luftige in eins brachte mit den schweren Schmerzen zerbrochener Träume. Eine Wegmarke des anderen, des nicht politisch-affirmativen DDR-Theaters – später, als Regisseur, nannte es Alexander Lang „fantastisch realistisch“. 

 

Man darf sagen: Er blieb in allen seinen vielen Rollen auch beim Film (etwa in Konrad Wolfs „Solo Sunny“) und später, ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre, als Theaterregisseur im Grunde der Prinz, der da traurig und trotzig spielt mit seinen herrlichen, aber unheilbar gebrochenen Flügeln. 

 

Das freilich war seinerzeit nicht eben gefragt. Doch die staatsoffizielle Übertünchung aller Daseinswidersprüche mit fundamentalistischem Optimismus war der immense Motor seiner Kunst, seines, wie er sagte „Theaters der Komödianten“, das er von ideologischem Krampf, von jedweder Wirklichkeitsverweigerung zu lösen vermochte in seinen Inszenierungen. 

 

Langs Figuren waren, wie er selbst sagt, „vorurteilsfrei“ erzählt, gebunden freilich an seinen Blick aufs Gegenwärtige. Das wurde unversehens zu hinreißendem, wundersamem Spiel mit Überkommenen und Heutigen. Dabei sei letztlich nicht der Autorentext das Material, das sei vielmehr die Potenz des Schauspielers, so Langs Prämisse von der Dominanz des Spiels. 

 

Dabei trieb er die kritisch realistische Spielweise von Adolf Dresen, seinem Vorbild, Lehrer, Förderer am Deutschen Theater vor dessen Weggang in den Westen, furios fort ins – wie Lang es formulierte – „fantastisch Realistische“. Das Psychologische wurde mythologisch vertieft und kräftig aufgeladen mit expressiver Energie. Etwa in Inszenierungen von Büchners „Danton“, Shakespeares „Sommernachtstraum“ oder in seiner so geheißenen Trilogie der Leidenschaften (Grabbes „Herzog Theodor von Gotland“, Goethes „Iphigenie“, Strindbergs „Totentanz“). 

 

Klassiker nicht ausgestellt. Sondern belebt durch den Clinch der Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten innerhalb und zwischen den Figuren, in denen immer auch ihre Bindungen an Unbewusstes mitschwangen. Dieses neue, authentische Haltungen suchende, komödiantisch gewitzte, erhellend phantastische Klassikerspiel brachte Lang selbst einst auf den Punkt: „Zeigen, was sich sonst keiner traut; dabei aus ganz wenig viel machen auf der Bühne.“ Das Publikum reagierte irritiert, hingerissen, aufgewühlt oder angewidert; jedenfalls war es gepackt. Und immer auch ein bisschen aufgeklärter als zuvor. So blühte mit einem (seinem) eingeschworenen Ensemble im Deutschen Theater – trickreich hinter den Kulissen durchgesetzt von einer frei denkenden Parteigenossenschaft – ein aufregendes zeitgenössisches Welttheater – mit toten Dichtern. 

 

Im Rausch des mehr oder weniger diplomatisch durch die Zensur geschmuggelten Erfolgs wollte Lang eine Intendanz; das DT oder ein anderes Ostberliner Theater. Die Staatsmacht sagte: Nein! Lang sagte: Ade! Er ging in den Westen, wo er in München und Hamburg seinen Regie-Ruhm fortsetzte. 

 

Anfang der 1990er Jahre scheiterte seine Chef-Position am Schillertheater innerhalb eines – unsägliches Konstrukt! ‑ Intendanten-Quartetts. Langs kurze Regie-Rückkehr ans DT blieb erstaunlich blass. Die neuen Verhältnisse entzogen dem großen Regisseur die Kraft zur spannungsgeladener Dringlichkeit und Bedrängnis. Zugleich versagte sich Alexander Lang unbegreiflicherweise eine Alterskarriere als Schauspieler. – Nun gut, mit dem Kräftehaushalt ist und war es nicht immer einfach. Doch Lang, der „Wahrsprecher und wutbeseelte Wahrspieler“ (so die Preisjury), hat schließlich das Seine auf wunderbare, auf unvergessliche Art getan. Dafür einen Lorbeerkranz. Und fürs Lebenswerk den Konrad-Wolf-Preis 2020 der Akademie der Künste. Gratulation. 

(Preisverleihung 29. Oktober, 19 Uhr AdK Hanseatenweg) 

 

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4. Berliner Ensemble: - Lust- und Albträume vom Verschwinden der Menschheit

Peter Moltzen, Die Möglichkeiten einer Insel © JR Berliner Ensemble
Peter Moltzen, Die Möglichkeiten einer Insel © JR Berliner Ensemble

Geilheit auf Koitus und Weltuntergang, beides treibt den französischen Romancier Michel Houellebecq um. Weltuntergang schon deshalb, weil dann endlich Schluss wäre mit dem unendlich quälenden Trieb ‑ und gleich noch dazu mit der vermeintlich ohnehin kaputten Menschheit samt ihres alles zerstörenden Betriebs. Davon ist immerzu die Rede im zynisch funkelnden Werk des hellwach depressiven Einsamkeitsapostels; und selbstverständlich auch in seinem 2005 erschienenen Science-Fiction-Roman „Die Möglichkeit einer Insel“, den der Regisseur und Bühnenbildner Robert Borgmann bruchstückhaft für die BE-Bühne adaptiert hat.

 

Der Roman spaltet sich auf in zwei zeitlich unterschiedliche Sphären: In der gegenwärtigen bastelt eine Art Wissenschafts-Club an der menschlichen Unsterblichkeit durch Klonen. Die derart Vervielfältigten brauchen keinerlei Nahrung, keinen Sex, kennen keinerlei zwischenmenschlichen (Körper-)Kontakt und auch keinerlei Gefühle, keinen leiblichen oder seelischen Schmerz. „Es ist gut, das metaphysische Loch, das entstanden ist durch die materialistische Weltsicht, mit der Idee zu füllen, dass die Unsterblichkeit des Körpers biologisch machbar ist.“

 

In Sphäre Nummer zwei, einem fernen Futurum, beschäftigen sich die Klone nach einer globalen ökologischen Großkatastrophe mit ihren Vorfahren, also den Ahnen/Ursprüngen ihrer jeweiligen Klon-Reihe. „Früher, als die Menschen zusammen lebten, verschafften sie sich mithilfe körperlicher Kontakte gegenseitige Befriedigung.“

 

Soviel kurz gesagt zur „Story“, die der Regisseur freilich ungeniert beiseiteschiebt zugunsten einer immerhin suggestiv bildmächtigen Performance diverser aus dem Roman herausgebrochener Textbrocken. Das erinnert gelegentlich an Bilderrätsel – in der Ecke ein Erdhäufchen, daneben ein Pandabär; aha. Man starrt fasziniert auf kunstvoll verpuppte, in feinste Abstufungen von Weißlicht getauchte Figuren (Licht: Carsten Rüger, Kostüme: Bettina Werner), bleibt sich aber oft im unklaren, warum man fasziniert ist. Da war Borgmann schon mal triftiger mit seiner opernhaften Show zu Rainald Goetz‘ Triptychon „Krieg“; gleichfalls im BE (s. Blog 259).

 

Aber: Da ist ja noch der eisig das glimmend, glühend oder lodernd Destruktive unseres Daseins sezierende Text! Zwar assoziieren die Textfetzen keine „Handlung“, ätzen sich aber als bedenkenswerte Statements des Autors in die Publikumshirne. Das mag entsetzen, anwidern, verstören oder betören – letzteres besonders durchs provozierend aseptische Ambiente, das eine aus dem Bühnenhimmel sanft herabschwebende riesengroße, blassblau-rosa leuchtende, Blütendolde dekoriert. Eine meditative Stimmung zu entsprechender Musik (Rashad Becker) breitet sich aus. Melancholie, streckenweise aber auch vornehme Langeweile, über die gelegentlich pornographisch angehauchte Exerzitien nicht wirklich hinweg kommen ‑ Peter Moltzen, Constanze Becker und Cynthia Micas müssen sich abrackern.

 

Doch da strahlt ja noch der singulär großartige Monolog mit Wolfgang Michael als übermüdeter, abgründig desillusionierter Spät- oder Endzeit-Klon wie von Beckett: „Im abnehmenden Licht sehe ich ohne Bedauern zu, wie die Menschheit verschwindet“. ‑ Der Höhepunkt dieses Seltsamkeits-Abends für Spezies des Artifiziell-Entrückten.

(Wiederaufnahme 28. / 29. Oktober)

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