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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 340

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

14. September 2020

HEUTE: 1. „Schwarzer Block“ – Maxim Gorki Theater / 2. „Die Glasmenagerie“ – Kulturvolk-Tipp Deutsches Theater / 3. „Panikherz“ – Wiederaufnahme Berliner Ensemble 

1. Maxim Gorki Theater: - Alles Faschos außer uns

Schwarzer Block © Ute Langkafel MAIFOTO
Schwarzer Block © Ute Langkafel MAIFOTO

Sie mögen rührend sein, wenn sie mit hellsichtiger Wut und sämtlichen Fingern auf die Wunden dieser Welt weisen. Doch sie werden zu Ungeheuern, wenn sie in irrsinnigem Wahn mit den Fäusten drauflos schlagen, um die Welt zu heilen. ‑ Sie, das sind die besessenen jungen Leute mit den Kapuzenpullovern, die mit dem Schrei nach Gerechtigkeit das Recht abfackeln. Die Autonomen, die sich links nennen ohne zu kapieren, wie ihr Extremismus sie nach rechts treibt. Sie sind die Antifa, für die alle anderen die Nazis sind. Ihr „Polit-Programm“ heißt Umsturz (Staat, Gesetz, Gesellschaft). Und ihre „Partei“ heißt Schwarzer Block.

 

Das Gorki-Theater, mit seinen Themen stets und innovativ am irritierend wild schlagenden Puls der Zeit, lässt diese Minderheit jetzt zu Wort kommen: In einer Art Collage von Kevin Rittberger, in dessen Text poetische Dichte und propagandistische Ansage sich kreuzen. Knallender Titel: „Schwarzer Block“.

 

Das ist mutig, wichtig und, ja auch, bewundernswert. Es ist wohl das erste Mal, dass Sprache und Wollen des Schwarzen Blocks auf einer Bühne (meist schreiend) laut wird. Der Erkenntnisgewinn ist für uns, die mehrheitlich (geschockt) beiseite stehen und im einschlägigen Jargon kurz und pauschal für Faschos gehalten werden, beträchtlich. Für die „Aktivisten“ selbst, sofern sie überhaupt ins „feindlich-bürgerliche“ Theater kommen, ist es womöglich eine Bestätigung. Dieses Risiko ist die Theaterleitung eingegangen. Dafür Dank.

 

Der Autor, der mehr als ein Jahr lang in der Szene wie in der Anarcho-Geschichte recherchiert hat (vom Jetzt zurück bis ins 19. Jahrhundert, doch nicht bis hin zu Schillers „Räubern“), der liefert eine frappierend sprachwuchtige Innenschau vom schwarzen Antifa-Block.

 

Und Regisseur Sebastian Nübling präsentiert sie mit gezielt überbordender Phantasie, spektakulär arrangierten Gruppen- und Einzelaktionen als ein man darf sagen grandioses Oratorium. Gemeinsam mit einer Truppe von 14 starken Performern sowie einem faszinierenden, extrem aufwändigen, bis dato derart sinnvoll noch nicht erlebten Einsatz von High-Tech (Ton/Musik/Sounddesign: Tobias Koch; Video: Robin Nidecker). Nie ist hier das Technische Selbstzweck, sondern dient notwendigerweise einer suggestiven Theatralik. Da wird nicht gewertet, da erklärt sich alles von selbst. ‑ Ja, es ist ein Akt massiver Überwältigung. Ein fürchterliches Monument des Extremen. Ein schreiendes Warnbild ganz in schwarz. Und: Ein im Wortsinn tolles Gesamtkunstwerk.

 

Der Schwarze Block mag mit seiner Weltsicht das Schwarze treffen und unsereins herausfordern zur Selbstbefragung. Doch zugleich führt er ins Ausweglose. Ins alles Zerstörende. Das ist die Botschaft des packenden Abends. Schwer zu ertragen.

 

(wieder 19., 20. September; 1., 2., 4. Oktober) 

 

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2. Deutsches Theater - Vom Wolkenkuckucksheim in den Keller und zurück

Anja Schneider und Linn Reusse in
Anja Schneider und Linn Reusse in "Die Glasmenagerie" © Arno Declair

Vor drei Jahren war es – nach Zeiten in Leipzig, am Berliner Gorki unter Armin Petras und in Stuttgart – die von vielen ersehnte Rückkehr der Anja Schneider in die Hauptstadt und ihr großer Einstand am DT: Die Rolle der Amanda Wingfield, eigentlich die Hauptfigur in Tennessee Williams Sehnsuchts- und Vergeblichkeitsstück „Die Glasmenagerie“

 

In dieser Figur kann die Schneider ‑ was sie wunderbar kann ‑ so vieles in einem sein: Haus- und Muttertier, durchtriebenes Doofchen, Getretene, peinlich Lüsterne, um sich Schlagende, Komische, Biedere, Böse, Ängstliche. Eine Todunglückliche, die tapfer die Tränen wegsteckt, die immerzu aufs Daseinsglück setzt, aber leer ausgeht. Die Schneider kann da ganz groß aufdonnern. Oder ganz fein sein, hinterrücks, beiläufig, nur mit einer Geste, einem Blick, einem besonderen Ton. 

 

„Glasmenagerie“ handelt von der US-Prekariatsfamilie Wingfield im tiefen, sommerheißen US-amerikanischen Süden. Der Vater hat sich längst aus dem Staub gemacht, die verlassene Ehefrau Amanda, eine dahinwelkende Schönheit, ist die energische, rechthaberische, beschützende und selbst ach so schutzlose Mama, die sich krampfhaft müht um Aufrechterhaltung häuslicher und restfamiliärer Ordnung. Und obendrein um ein womöglich doch noch sexy Liebesglück. Tochter Laura (Linn Reusse), ein fragiles Seelchen mit körperlicher Behinderung und gigantischen Minderwertigkeitskomplexen, verkriecht sich lebensscheu in die schöne Schallplattensammlung, die ihr längst getürmter Papa zurück ließ. Sowie in ihren Zoo aus gläsernen Tierchen, eben der Glasmenagerie. Sohn Tom (Marcel Kohler) malocht als alleiniger Ernährer in der Fabrik, träumt sich heimlich im Kino fort in tolle Abenteuer und will raus aus der spießigen Enge und weit weg: als Matrose auf See. 

 

Das schimpfende, wütende und heulende Elend der drei Frustbeulen, die sich, um ihren tristen Alltag auszuhalten, in Illusionen und Träume flüchten; die freilich sofort wieder wie schillernde Seifenblasen platzen, das ist ein Kreislauf, der immer schmerzlichere Wunden schlägt. Da kollidieren unentwegt schillernde Parallelwelten mit schmutzigen Realitäten. ‑ Und als Mama schließlich ein Rendezvous mit Jim organisiert (Holger Stockhaus), damit das jüngferliche Töchterchen endlich unter die Haube kommt, geht natürlich auch das total in die Hose. 

 

Williams gelang 1944 der internationale Durchbruch mit diesem psychologisch fein ziselierten Kammerspiel. Atmosphärisch gefärbt von den vielen Facetten einer großen Vergeblichkeit und verklemmten Erotik, die da implodieren oder explodieren im rasenden Wechsel. So gesehen passiert unheimlich viel; aber eigentlich passiert, ähnlich wie bei Tschechow, bloß erstickender Stillstand. 

 

Diese Erstickung sowie die heftig hechelnden Seelen: Was für Wechselbäder, mitunter in einem Satz; oder unausgesprochen in Mimik, Bewegungen, Augenblicken. Regisseur Stephan Kimmig ist unentwegt quasi mit der Lupe diesen Brüchen, diesen Stolperstellen über Abgründen auf der Spur. Seine Inszenierung wogt, federt und vibriert. Changiert zwischen Eis und heiß, entfesselt Stimmungen ‑ himmlisch entrückt im Wolkenkuckucksheim oder trostlos ernüchtert im Keller der Enttäuschung. Kimmig lässt starke Gefühle zu. Und noch dazu tief unter die Haut bohrende Ohrwürmer der Popmusik. 

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Seine hinreißenden Spieler lassen sich das alles nicht zweimal sagen. Immer turnen sie hohen Muts auf dem Drahtseil – turnen gar im Wortsinn als Slapstick-Komiker, toben als Tanzmäuse oder tasten sich verschämt-verschüchtert durch die Düsternis ihrer öden, verschlissenen Wohnhöhle (Bühne: Katja Haß). Doch keiner der dauerhaft unter Psycho-Hochdruck stehenden Beschädigten und Trostlosen stürzt bei all den depressiv-euphorischen Exzessen je ab in Peinlichkeit und Kitsch, ins aufdringlich Schwerblütige oder schwiemelnd Gefühlige oder gar vordergründig Plakative. Nie wird die wie Glas zerbrechliche Menagerie der Figuren denunziert. Selbst dann nicht, wenn die Bizarrerien der dramatischen Vorlage im Spielerischen gelegentlich ausschlagen bis ins Absurd-Groteske oder Albern-Kabarettistische. Diese sagenhaften, kultverdächtigen Virtuosen-Nummern und Extempores sind wahrlich umwerfend – und zutiefst anrührend. Wie die ganze bittere Geschichte, die jetzt, nach langer Pause, ihre Wiederaufnahme hat.

 

(16., 17. September – Kulturvolk-Karten am 17.9. für 19,50 Euro) 

 

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3. Berliner Ensemble - Sehnsuchts-Musical. Und endlich wieder große Show

"Panikherz" © Moritz Haase

„Mitmachen, Arsch retten, brutal sein, misstrauisch und hoffnungslos romantisch. Und niemals heimisch werden. Sobald man das irgendwo kapiert hat, geht es nicht mehr. Sobald es mir zu gut gefällt, kommt die Angst…“ Dann müsse man raus, fort, weiter, schreibt Benjamin von Stuckrad-Barre. Und meint damit nicht nur seine Kinderstube im grün-alternativen „Müsli“-Pastorenhaushalt in Rotenburg/Wümme, sondern seine schon früh ausgebrochne Gier nach Maßlosigkeit, seine auch gegenüber sich selbst rücksichtslosen Egomanien, seine ununterdrückbare Lust am Extremen ‑ größter Glamour, höchster Ruhm, dickste Brieftasche. Den dazu passenden Sound lieferte – und das bis heute ‑ Udo Lindenberg. Udo, der neue Gott! Und Ben, der ihn anbetet; bis heute.

 

Benjamin von Stuckrad-Barre (45), was für ein Kerl vom Ufer der Wümme: Er war Anfang zwanzig, da erschien sein über-cooles Weltschmerzbuch „Soloalbum“ (1998). Ein furioser Bestseller, der den deutschen Literaturbetrieb aufmischte, der ihn in den Ruhm schoss unterm brandneuen Label „Popliterat“. Als einen Autor, der alles einschließlich sich selbst scharf beobachtet und genau, noch dazu wahnsinnig originell, wahnsinnig witzig beschreibt.

 

Stuckrad schrieb fortan für große Zeitungen, wurde Gagschreiber für Harald Schmidts Late-Night-Show und – immer mit Hemd, Schlips, schneeweißen Jeans – ein Star der Clubszene zwischen Hamburg und Berlin – Party, Party, Sex und Drogen bis knapp vor Tod. Zynismus, Selbstzerstörung, Schlankheitswahn, Essstörung. Dann raus aus dem System und wieder rein in ein anderes, in den Dunstkreis des angesagten US-Literaten Bret Easton Ellis (das anlehnungsbedürftige „Herumwuseln in den Aurazonen geistesverwandter ViPs“).

 

Was für ein Mix: Der geborene, beständig unter Strom stehende Narziss und der stocknüchterne, kaltschnäuzig-lakonische Reporter seiner grellbunten, der high-hellen wie krank-dunklen Welt zwischen Rausch und Entzug, Auf- und Absturz. Bloß keine Ankunft, kein Bleiben. Dafür die Angst, bei dieser nur mit Doping irgendwie durchzustehenden heißen Hatz womöglich Allerheißestes zu verpassen oder aufzuwachen in kalter Einsamkeit, in eisiger Leere. Oder uncool stecken zu bleiben als Häftling eines Normalo-Alltags. Oder gar durch die letzte Grenze zu knallen und geradewegs in die Hölle zu düsen, die so verführerisch dicht am süßen Wahn des Himmlischen liegt. ‑ Benjamin lustvoll im Höhenrausch wie im quälenden Elend. Sein Herz dauerhaft in Panik. Seziert in Stuckrads biografischem Roman „Panikherz“, den BE-Intendant Oliver Reese vor gut zwei Jahren – es war seine erste Regie-Arbeit am Haus ‑ auf die Bühne warf. Jetzt freuen wir uns auf die Wiederaufnahme und – endlich wieder nach Corona-Abstinenz – auf einen zünftigen, noch dazu intelligenten Publikumskracher.

 

Der seinerzeit erste Eindruck war eine Seltenheit: Ein roter Samtvorhang hinterm goldbestucktem Bühnenportal. Weiches helles Rot wie (Herz-)blut, das passt schon mal. Dann der Bühnenboden ausgelegt mit dickem, psychodelisch bemustertem Teppich; schummriges Licht, in dessen Schatten – warum? ‑ die berühmte Band von Jürgen Gollasch Stimmungen zwischen hart und zart malt. Dazwischen ramponiert gelbliche Stehlampen, im Hintergrund eine Kuschel-Bar wie eine nostalgische Jukebox, eine ‑ kleiner Scherz ‑ Miniatur-Kopie vom BE-Portikus. Flauschige Stimmung. Atmosphärisch wie etwa im Hamburger „Atlantic“ (der Teppichboden!), Udos ewige Luxus-Herberge (Stuckrads Lifestyle-Vorbild). Oder grüßt das witzige Setting von Hansjörg Hartung womöglich die Edel-Entzugsklinik Hotel Chateau Marmont in LA?

 

Hübscher Rahmen. Und was passiert? – Ein Musical! Besetzt mit einem Pop-Star der Literatur, einem im Schönen wie Schlimmen auf Wirkung erpichten Selbstdarsteller-Entertainer, durchweht von Popmusik mit durchweg tollen Texten (genau hinhören!). Ist schon mal allerhand, was im 40-Blatt-Skript steckt, das Reese aus 564 Buchseiten extrahierte.

 

Bei dessen Probenbesuch, so einst die PR-Saga, habe Stuckrad geheult und Regisseur Reese gerührt ein Paar seiner Sneakers vermacht; obendrauf gepinselt ein Panikherzchen. Ja, der obercoole Panik-Poet kann auch Herz-Schmerz-Sentiment. Das lässt Reese ordentlich raus; doch nicht nur das. Deshalb hat er B.S.B. gleich vierfach auf den Teppich und vor die Mikros gesetzt: Nico Holonics, Bettina Hoppe, Owen Peter Read und Paul Zichner stürzen in wahrlich herzzerreißenden Performances vom Reflexiven ins Exzessive, vom Ernüchterten ins Verzweifelte und zurück. Die starken Sarkasmus-Girlanden aus dem Panik-Hirn werden kontrapunktiert mit Udo- und Genesis-Hits. Die tönen fast wie neu, weil Gollasch sie fein verfremdet für seine großartige Band.

 

Zusammen wirkt alles wie das Aufblättern eines Skizzenbuchs mit signifikanten Momenten aus Stuckrads nimmersattem Dasein, das da zwischen Wümme, Elbe, Spree, zwischen Atlantik und Pazifik so geil wie giftig schäumt. Das immerzu sich nach Liebe sehnt und nach göttlichem Freisein zugleich. Beides zusammen passt nicht in dieses dauer-erregte Verzweiflungs-Herz. Also ein romantisches Sehnsuchts-Musical. Mit dem ganz unromantischen Warnbild, das dahinter schimmert. Und mit dem Wunsch, durchs finale Drogen-Gedröhn hindurch ‑ ganz dicht am Rand zur Hölle – endlich doch noch das wirklich Eigene zu finden, das echte Ich jenseits aller Leerstellen, allem Aufgeklebtem. Vielleicht das, was womöglich nach Glück klingt, wenigstens nach einem Stück davon. – Ist doch okay; oder…

 

(18., 19., 20. September) 

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