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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 326

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

3. Februar 2020

HEUTE: 1. „In My Room” – Maxim Gorki Theater / 2. Theatertreffen Berlin 2020 – Festspielhaus / 3. TV-Theatertalk

1. Maxim Gorki Theater: - Wann ist ein Mann ein Mann?

Jonas Dassler in
Jonas Dassler in "In My Room" © Ute Langkafel MAIFOTO

„Männer haben’s schwer, haben’s leicht, außen hart, innen weich; können alles, sind einsame Streiter, müssen durch jede Wand, müssen immer weiter. Und werden als Kind schon auf Mann geeicht… ‑ Wann ist ein Mann ein Mann? Wann ist ein Mann ein Mann? Wann…?“

 

Gute Frage, die da Herbert Grönemeyer in seinem Rocksong „Männer“ immer und immer wieder aus sich herausschreit, was wiederum seit Jahren ein Massenpublikum an den Rand zur Ekstase treibt.

 

Das Publikum im Gorki reagierte ziemlich ähnlich, zum Schluss mit minutenlang stehenden Ovationen, als Emre Akiszoglu, Knut Berger, Benny Claessens, John Dassler und Taner Sahintürk in einer aufregenden und anstrengenden (aber nie angestrengten) und immer wieder mit Nachdenklichkeit, ja Ratlosigkeit durchsetzten Zwei-Stunden-Performance der Männer-Frage nachgehen. Oder besser: nachforschen. Mit einem Text von Falk Richter, der die glorreichen Fünf in ihre überhaupt nicht glorreichen persönlichen Erinnerungen treibt, die sie mit ihren Vätern haben/hatten.

 

Es geht um authentische, teils fiktional angereicherte Vater-Sohn-Geschichten, dramaturgisch kunstvoll verknüpft unter dem Titel „In My Room“. Der markiert das Individuelle, ja Intime dieser so vielgestaltigen, so enorm prägenden Männlichkeitsbeziehungen: „My Room“ als Kinderstube, Abenteuerspielplatz, Strafgefängnis, als Zucht- und Anpassungsanstalt. Das provoziert Widerstände, Ausbrüche, Verachtung gegenüber den Papas. Führt aber auch bezüglich der die Väter umtreibenden Schmerzen, Zwänge und Träume zu traurigen, trauernden, verständnisvollen, ja liebevollen Rückblicken – gerade auch, als am Ende die alten Herrscher als leidende Greise oder gar als Sterbende imaginiert werden.

 

Das Packende an diesem Kompendium von Erzählungen übers „Männermachen“ durch immergleiches Aufpfropfen althergebrachter und stets einengender, sonderlich auch durch Krieg oder Diktatur oder eben Frauenhaben, Hartbleiben, Kerlsein geformter Männlichkeitsmuster, ist nicht allein die Wortgewalt, sondern ihre Schonungslosigkeit.

 

Das Kunststück dabei: So persönlich die Berichte sind, sie sind nicht privat. Sie fügen sich in ihrer Vielgestalt der Temperamente und sozialen Milieus zu einem sensiblen Generationen- und Gesellschaftsbild des vergangenen Halbjahrhunderts zusammen.

 

Sonderlich interessant dabei sind Migrationshintergründe; etwa der von der Mehrheitsgesellschaft gedemütigte türkische Gastarbeiter und sein Sohn in der Zwangsjacke aus alter Tradition und der Lust auf neue, freiheitliche Zugehörigkeit. Doch nicht nur hier werden schwer erträgliche Ambivalenzen oder irritierende Sprachlosigkeiten nicht etwa ausgeklammert, sondern fragend im Raum stehen gelassen.

 

Der Raum ist – in der Mitte auf korinthischer Säule ein Herkules in schwarz ‑ die ansonsten weite weiße Bühne von Wolfgang Menardi. Dort lassen die gequälten und geschlagenen, die kraftvoll wütenden, irritierten, suchenden, die virilen und zugleich dünnhäutigen jungen Männer ihre problemprallen Erinnerungskisten explodieren – monologisch in gesprochenem oder musikalisch in gerocktem, in jedem Fall sensationellem Virtuosentum (Musik: Nils Ostendorf; Choreographie: Denis Kooné). – Derartiges war lange nicht in solcher Intensität auf einer Bühne zu erleben.

 

Falk Richter, künftiger Hausregisseur der Münchner Kammerspiele, inszeniert seine als „Projekt“ apostrophierte Show voller Tragik und Komik als rasenden Comic übers Harte und Weiche (s. Grönemeyer); über die Not der Väter sowie die Nöte, die ihre Söhne damit haben. Als wilde Party freiheitlicher Lebensgier, als Abgesang aufs lähmend Alte, auf verkommene Rituale. Als mutiges Hohelied einer entfesselten, befreienden Glückssehnsucht.

 

(Wieder am 7., 19. Februar)

 

***

2. Theatertreffen: - Aus der Fülle heraus gepickt die vermeintlich besten zehn der Saison

Sandra Hüller als  © JU Bochum
Sandra Hüller als © JU Bochum

Kleine Überraschung: Diesmal kein Pollesch, Rasche, Mondtag und auch keine Susanne Kennedy und kein Simon Stone. Neigte doch bislang die Jury dazu, gewisse Lieblings-Regisseure wiederholt aufs Silbertablett zu hieven. Das hat sie sich beim 57. Jahrgang des zentralen Branchen-Treffs verkniffen. Auch fand sie in den letzten Jahren in Berlin wenig „bemerkenswertes“, so das einzige offizielle Kriterium der Auswahl von zehn Inszenierungen des deutschsprachigen Theaters. Enorm wichtig, womöglich am wichtigsten, ist freilich das inoffizielle Kriterium Frauenquote. Und die wurde mit 6:4 brav übererfüllt: sechs Regisseurinnen, vier Regisseure.

 

Erste Frage: Ist Berlin diesmal mit von der Partie? ‑ Ja! Als Vertreterin des Hauptstadttheaters ging eine Einladung ans Deutsche Theater, an Anne Lenks Inszenierung „Der Menschenfeind“ von Molière mit Ulrich Matthes in der Titelrolle.

 

Auf der Short List – mithin nicht eingeladen ‑ standen noch vier weitere Berlin-Produktionen:

 

„In My Room“ von Falk Richter & Ensemble im Gorki Theater (Text und Regie: Falk Richter)

 

„Third Generation – Next Generation“ gleichfalls im Gorki von Yael Ronen & Ensemble (Regie: Yael Ronen)

 

„Ultraworld“ in der Volksbühne von Susanne Kennedy und Markus Selg (Text und Regie: Susanne Kennedy)

 

„Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt“ im Friedrichstadt-Palast von René Pollesch (Regie: Pollesch, Co-Regie: Fabian Hinrichs).

 

Im Anblick dieser Liste bleibt es verwunderlich, dass die Wahl auf den meiner Meinung nach eher durchschnittlichen „Menschenfeind“ fiel und nicht etwa auf das (momentan besonders) brisante (politische) Ronen-Stück oder die so virtuos rockige wie inhaltlich packende Befragung immer noch verheerend gängiger Männlichkeitsmuster durch Falk Richter. Gerade die Richter-Show hätte unbedingt zum Theatertreffen gehört!

 

Ansonsten bin ich gespannt auf einige vermutlich besonders spektakuläre Nummern unter den diesjährigen Einladungen, deren Auswahl insgesamt einen, sagen wir, exzentrischen Anstrich hat und von einem gehörigen Quantum hippen Spezialistentums umflort ist. Die Freaks der Szene dürften auf ihre Kosten kommen.

 

Beispielsweise bei „TANZ Eine sylphidische Träumerei in Stunts“ von Florentine Holzinger in Zusammenarbeit mit 14 Kooperationspartnern. Die Tanz-Performance mixt hoch artistisch und, wie man hört, ziemlich exhibitionistisch Klassisches mit Moderne und mit womöglich wenig appetitlichen Motiven aus dem nervenzerrenden Horrorfilm „Suspiria“, eine surreal grundierte, italienisch-US-amerikanische Produktion aus dem Alt-Westberliner Tanzmilieu von Dario Argentos.

 

Frech und identitätspolitisch auf voller Höhe sein dürfte Anita Helena Reckes konzeptuelle Produktion (in Zusammenarbeit mit vier Partnern, darunter das Berliner HAU) „Die Kränkungen der Menschheit“; die drei ersten Kränkungen nach Siegmund Freud sind 1. Der Mensch stammt vom Affen ab; 2. Die Sonne steht im Mittelpunkt des Universums; 3. Der Mensch ist dem Unbewussten ausgeliefert. Und Nummer 4 nach Recke ist: „Der europäische weiße Mann ist doch nicht der Inbegriff des Menschen.“ Da wird uns also flott was beigebracht werden… ‑ (Im HAU 2 läuft übrigens gerade jetzt eine Vorstellungsserie: 6.2., 19 Uhr; 8.2., 20.30 Uhr; 9.2., 20 Uhr.)

 

Gleichfalls allein schon thematisch aufregend und erotisch oder – wie man wispert – pornografisch aufgeladen sein dürfte Antonio Latellas Zusammenschnitt von Dantes „Göttlicher Komödie“ mit dem biographischen Roman „Pasolini“ von Federico Bellini. Latella inszenierte den Zwitter unter dem harmlos klingenden, aber sarkastisch gemeinten Titel „Eine göttliche Komödie. Dante – Pasolini“ am Residenztheater München noch unter der Intendanz von Martin Kusej, der inzwischen ans Burgtheater Wien wechselte.

 

Neugierig bin ich auf die große Sandra Hüller, die im Mai den Theaterpreise der Stiftung Preußische Seehandlung bekommen wird und die Titelrolle spielt in Johan Simons‘ Bochumer Inszenierung von Shakespeares „Hamlet“. Ein Mitglied der ehrwürdigen Jury ließ uns wissen, dass „die olle Kamelle“, wie es nassforsch meinte, also dass der Klassiker natürlich nicht klassisch inszeniert sei, was wir uns ohnehin hätten denken können bei Johan Simons. Und dass der, was einigermaßen nahe liegt, Heiner Müllers Text „Hamletmaschine“ mit Shakespeare zusammenbringe.

 

Desweiteren sind fürs Treffen 2020 nominiert:

 

„Anatomie eines Suizids“ von Alice Birch (Regie: Katie Mitchell, Deutsches Schauspielhaus Hamburg).

 

„Chinchilla Arschloch, waswas. Nachrichten aus dem Zwischenhirn“ von Rimini Protokoll, eine kollektive Produktion mit vier Partnern (darunter HAU Berlin), in der es um Menschen mit Tourette-Syndrom geht.

 

„Der Mensch erscheint im Holozän“, ein Visual-Poem nach Max Frisch im Schauspielhaus Zürich (Regie: Alexander Giesche).

 

„Süßer Vogel Jugend“ von Tennessee Williams im Schauspiel Leipzig (Regie:Claudia Bauer).

 

„The Vacuum Cleaner“ von Toshiki Okada in den Münchner Kammerspielen (Regie: Toshiki Okada). Thema ist die depressiv-neurotische menschliche Vereinzelung in alternden westlichen Hochzivilisationen (hier: der japanischen). Gesehen mit dem Blick von unten, aus der Perspektive eines Staubsaugers.

 

Die siebenköpfige Auswahl-Jury (drei Frauen, vier Männer) sichtete und diskutierte wie immer angeblich heftig bis aufs Messer insgesamt 432 Inszenierungen (in 56 Städten) aus Deutschland, Österreich und der Schweiz im Zeitraum 21. Januar 2019 bis 26. Januar 2020. Zum opulenten Begleitprogramm des Festivals gehört u.a. ein „Stückemarkt“, der neue Werke in (teils szenischen) Lesungen vorstellt. Die Auswahl hierfür wird Ende Februar bekannt gegeben. Der Gesamtspielplan des 57. Theatertreffens (1.-17. Mai) wird am 3. April veröffentlicht.

 

Vorverkaufsstart: Freitag, 17. April 2020. Punkt 10 Uhr.

 

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3. TV-Rederei über Theater

Frank Lüdecke © Derdehmel/Urbschat
Frank Lüdecke © Derdehmel/Urbschat

Heute, Montagabend, 20.15 Uhr, die 60. Sendung „Montagskultur unterwegs“ aus dem Alex- Fernsehstudio in der Friedrichshainer Rudolfstraße 1-8 (nahe S- und U-Bahnhof Warschauer Straße). Mit Alice Ströver  sowie den Kritikern Arno Lücker und Reinhard Wengierek. Der besondere Gast ist diesmal Frank Lüdecke, Künstlerischer Leiter vom Kabarett „Die Stachelschweine“. ‑ Kritisch betrachtet werden die Premieren „Drei Mal Leben“ von Jasmina Reza, Berliner Ensemble; „Lehman Brothers“ von Stefano Massini, Die Vaganten; „A Midsummer Night’s Dream“ von Benjamin Britten, Deutsche Oper. Später auch im Netz auf YouTube.

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