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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 314

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

4. November 2019

HEUTE: 1. „Die Möglichkeit einer Insel“ – Berliner Ensemble / 2. „Lear + Die Politiker“ – Deutsches Theater / 3. TV Theatertalk

1. Berliner Ensemble - Lust- und Albträume vom Verschwinden der Menschheit

Peter Moltzen © JR Berliner Ensemble
Peter Moltzen © JR Berliner Ensemble

Geilheit auf Koitus und Weltuntergang, beides treibt den französischen Romancier Michel Houellebecq um. Weltuntergang schon deshalb, weil dann endlich Schluss wäre mit dem unendlich quälenden Trieb ‑ und gleich noch dazu mit der vermeintlich ohnehin kaputten Menschheit samt ihres alles zerstörenden Betriebs. Davon ist immerzu die Rede im zynisch funkelnden Werk des hellwach depressiven Einsamkeitsapostels; und selbstverständlich auch in seinem 2005 erschienenen Science-Fiction-Roman „Die Möglichkeit einer Insel“, den der Regisseur und Bühnenbildner Robert Borgmann bruchstückhaft für die BE-Bühne adaptiert hat.

 

Der Roman spaltet sich auf in zwei zeitlich unterschiedliche Sphären: In der gegenwärtigen bastelt eine Art Wissenschafts-Club an der menschlichen Unsterblichkeit durch Klonen. Die derart Vervielfältigten brauchen keinerlei Nahrung, keinen Sex, kennen keinerlei zwischenmenschlichen (Körper-)Kontakt und auch keinerlei Gefühle, keinen leiblichen oder seelischen Schmerz. „Es ist gut, das metaphysische Loch, das entstanden ist durch die materialistische Weltsicht, mit der Idee zu füllen, dass die Unsterblichkeit des Körpers biologisch machbar ist.“

 

In Sphäre Nummer zwei, einem fernen Futurum, beschäftigen sich die Klone nach einer globalen ökologischen Großkatastrophe mit ihren Vorfahren, also den Ahnen/Ursprüngen ihrer jeweiligen Klon-Reihe. „Früher, als die Menschen zusammen lebten, verschafften sie sich mithilfe körperlicher Kontakte gegenseitige Befriedigung.“

 

Soviel kurz gesagt zur „Story“, die der Regisseur freilich ungeniert beiseiteschiebt zugunsten einer immerhin suggestiv bildmächtigen Performance diverser aus dem Roman herausgebrochener Textbrocken. Das erinnert gelegentlich an Bilderrätsel – in der Ecke ein Erdhäufchen, daneben ein Pandabär; aha. Man starrt fasziniert auf kunstvoll verpuppte, in feinste Abstufungen von Weißlicht getauchte Figuren (Licht: Carsten Rüger, Kostüme: Bettina Werner), bleibt sich aber oft im unklaren, warum man fasziniert ist. Da war Borgmann schon mal triftiger mit seiner opernhaften Show zu Rainald Goetz‘ Triptychon „Krieg“; gleichfalls im BE (s. Blog 259).

 

Aber: Da ist ja noch der eisig das glimmend, glühend oder lodernd Destruktive unseres Daseins sezierende Text! Zwar assoziieren die Textfetzen keine „Handlung“, ätzen sich aber als bedenkenswerte Statements des Autors in die Publikumshirne. Das mag entsetzen, anwidern, verstören oder betören – letzteres besonders durchs provozierend aseptische Ambiente, das eine aus dem Bühnenhimmel sanft herabschwebende riesengroße, blassblau-rosa leuchtende, Blütendolde dekoriert. Eine meditative Stimmung zu entsprechender Musik (Rashad Becker) breitet sich aus. Melancholie, streckenweise aber auch vornehme Langeweile, über die gelegentlich pornographisch angehauchte Exerzitien nicht wirklich hinweg kommen ‑ Peter Moltzen, Constanze Becker und Cynthia Micas müssen sich abrackern.

 

Doch da strahlt ja noch der singulär großartige Monolog mit Wolfgang Michael als übermüdeter, abgründig desillusionierter Spät- oder Endzeit-Klon wie von Beckett: „Im abnehmenden Licht sehe ich ohne Bedauern zu, wie die Menschheit verschwindet“. ‑ Der Höhepunkt dieses Seltsamkeits-Abends für Spezies des Artifiziell-Entrückten.

 

In dem freilich allemal mehr Houellebecq steckt als in dessen parallel im Deutschen Theater laufenden Adaption von „Ausweitung der Kampfzone“ von Ivan Panteleev (s. Blog 308), der mit – wie im BE – großartigen Schauspielern auf den wunden Füßen des Autors bloß albern Allotria treibt.

 

(„Insel“ wieder 13., 14. November im BE. „Kampfzone“ wieder 11., 18. November im DT)

 

***

2. Deutsches Theater - Quirlen im Prinzipienbrei

Michael Gerber, Birgit Unterweger © Arno Declair
Michael Gerber, Birgit Unterweger © Arno Declair

Man sollte sich vorher kundig machen. Denn wichtig zu wissen wäre, dass der Regisseur Sebastian Hartmann seine oft hoch schäumende, oft aber auch hoch ins Kraut schießende Fantasie nicht etwa dazu nutzt, Stücke mit Handlung, mit konkreten Figuren und ihren Konflikten erregend ins Heute zu holen, also Drama zu machen. Vielmehr, so sagt er selbst, bewege er sich frei in Stoffen, betreibe Themenverwaltung ‑ klingt erregend nach Buchhalter. „Unsere Konventionen, wie man sich Geschichten erzählt, haben uns dahin gebracht, wo wir im Moment stehen: am Rand der Klimakatastrophe, vor der Implosion von Wertesystemen, die in diesen Geschichten gleichzeitig tradiert worden sind.“ So steht es im Programmheft zu „Lear“ nach Shakespeare.

 

Nach landläufig altmodischer Sicht jagt Shakespeare einen maroden König durch alle nur denkbar irdischen Höhen und Tiefen, Natur- und Menschengewalten. Dabei wird uns ohne Verfallsdatum erzählt vom argen Weg der Erkenntnis, dass alles Streben auf Erden eitel ist, wir alle Narren sind und der Mensch umherirrt als „ein armes, nacktes zweizinkiges Tier“, dem nichts bleibt als „befleckte Erde“ sowie „der Tod als einziger Trost“.

 

Grundsätzlich stimmt Hartmann dem Kollegen Shakespeare zu; aber nur grundsätzlich; ansonsten macht er seins. Die Lear-Story interessiert ihn nicht. Ihm geht es allein um Motive, Themen, Prinzipien, die im „Lear“-Stoff stecken und die er performativ-assoziativ heftig verquirlt: Etwa Generationenwechsel (Vätervernichtung), Klimakatastrophe (die befleckte Erde), Narretei (Demenz die Alten, Größenwahn die Jungen), Wertesystem-Auflösung, Weltuntergang.

 

Hartmann inszeniert nicht die spannende, ergreifende, entsetzliche Tragödie. Er pinselt vielmehr lang und breit Endzeitstimmung. Bleibt die Frage, ob es eine packende theatralische Alternative ist, den Autor so ziemlich zur Gänze beiseite zu lassen. Ob der Bruch mit der Tradition, nämlich das präzise Erzählen einer sensationellen, das Menschheitliche fassenden Untergangsgeschichte aufregender wirkt als das effektheischend depressive Quirlen im abstrakten Themen- und Prinzipienbrei ‑ im postdramatischen Demonstrationsbetrieb.

 

Für dieserart „Bewegung im Stoff“, für diese über zwei Stunden sich im Allgemeinen hinschleppende, obendrein schwer nachvollziehbare Themenverwaltung (kaputte Menschheit im Unterganstaumel etc.) ist Hartmann – schade, schade – nichts Signifikantes eingefallen. Kein Abendfüller; da war er schon mal besser. ‑ Und so turnen denn im Dauernebel und mit Scriptfetzen im Mundwinkel Learsche Familienmitglieder (die Herren gelegentlich nackig, die Damen elegant hochhackig) um zwei moderne Krankenbetten aus der Demenzklinik. Dort lagern im Nachthemd Lear und Gloster, die verdammten Shakespeare-Oldies. Und dämmern ihrem Ende entgegen.

 

Tja, irgendwie hat das schon mit dem Autor zu tun. Doch letztlich hat ja alles auf dieser Welt mit ihren armen Zweizinkern irgendwie mit Shakespeare zu tun. Hier jedoch wenig mit der fürs Theater lebenswichtigen Kommunikation zwischen Publikum und Bühne.

 

Wie aber geht das zusammen mit Hartmanns Credo, dem Programmheft entnommen: „Der Ort Theater ist zu wichtig geworden, um ihn der Unterhaltung zu überlassen“. Folglich wäre Kommunikation unwichtig, weil unterhaltsam…??

 

Immerhin, etwa nach einer Stunde öder Themenverwaltung, Liste „Lear“, gab’s einen unterhaltsam interaktiven Akt: Ein älterer Herr (Generation Lear?) ruft entnervt vom Rang: „Wo ist Shakespeare?“ Dann hallt kurz vorm Türenknall der Ruf: „Schlaft nicht ein!“ – Damit wäre die Lage gemäß Hartmann nach Shakesppeare auf den Punkt gebracht: Generationenclinch und Traditionsbruch, dazu Aufregerei im Parkett als lebendiges Theater ganz anders.

 

Die Regie mag vorausschauend gespürt haben: Es reicht nicht mit dieser lauen Learerei um zwei Krankenbetten. Ein rasselnder Wecker, ein schrilles Wow muss her! Das liefert Wolfram Lotz mit seinem 99-Seiten-Monolog „Die Politiker“. Oder besser: Das liefert im elegant glitzernden Abendkleid die tolle Schauspielerin Cordelia Wege, Hartmanns Ehefrau, indem sie dieses wutbürgerschnaubende Wortungetüm in dreißig kochenden Minuten von der Rampe donnert. Die somit uraufgeführte Suada lästert ätzend über die chaotische Welt samt unserm irrwitzigen Drinsein und tödlichen Durchwursteln. „Die Politiker knacken Nüsse, klingt wie Schüsse.“ – Furiose Sprach- und Sprechkunst als Rausschmeißer vor giftig grellgelbem Sonnenrad als extra Hingucker auf ansonsten leerer Bühne. Zwingt zum Beifall. Deshalb am Schluss: Viel Applaus.

 

(wieder 8., 14. November)

 

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3. TV-Rederei über Theater

Zu Gast in der Sendung: Oliver Tautorat (links), Theaterdirektor Prime Time Theater © Janina Heppner
Zu Gast in der Sendung: Oliver Tautorat (links), Theaterdirektor Prime Time Theater © Janina Heppner

Heute, Montagabend, 20.15 Uhr, die 56. Sendung „Montagskultur unterwegs“ aus dem Alex- Fernsehstudio in der Friedrichshainer Rudolfstraße 1-8 (nahe S- und U-Bahnhof Warschauer Straße). Mit Alice Ströver  sowie den Kritikern Arno Lücker und Henry Arnold. Der besondere Gast ist diesmal Oliver Tautorat, Theaterdirektor und Künstlerischer Leiter vom Prime Time Theater im Wedding. ‑ Kritisch betrachtet werden die Premieren „Albirea. Nur ein Kind kann die Welt retten“ von Thomas Sutter und Sinem Altan, Atze Musiktheater; „Germania“ von Heiner Müller, Volkbühne; „Cabaret“ von Masteroff, Ebb, Kander, Hans Otto Theater Potsdam. Später auch im Netz auf YouTube.

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