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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 312

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

21. Oktober 2019

HEUTE: 1. „Orlando“ – Schaubühne / 2. „Giovanni. Eine Passion“ – Neuköllner Oper/ 3. Tipp: „Gelogene Wahrheiten“ – Kabarett-Theater Die Wühlmäuse

1. Schaubühne - Ein Mann wird zur Frau

Schauspielerin Jenny König spielt
Schauspielerin Jenny König spielt "Orlando" © Stephen Cummiskey

Könnte es nicht ein bisschen – oder gar ganz anders sein, das Bild, das wir von uns selbst haben? Schöne Frage. Wohl jeder hat sie sich gestellt, gelegentlich, ganz insgeheim. Oder lauthals und ständig. Denn nichts ist gewiss auf dieser Welt. Und mit unsereins, uns Menschenkindern, gleich gar nicht.

 

Vom Verwischen, Verrutschen, vom Verlust alter und Erhalt neuer Gewissheiten, vom Schwanken, vom Hin und Her und von den sich damit ändernden oder wechselnden Lebensumständen, Lebensansichten, Daseinsmöglichkeiten, von Freiheitsgewinn oder Einschränkung, von all dem erzählt die englische Autorin Virginia Woolf in ihrem 1928 erschienen Roman „Orlando“, der sie berühmt machte.

 

Ein höchst intelligentes, raffiniert komponiertes, ein sprachlich so feines wie starkes, ein witzig-ironisches und obendrein aufklärerisch-kühnes Wunderwerk. Es nimmt die Ängste und Zweifel mit unserem Selbst-Bild durchaus ernst. Und macht uns zugleich locker, die Auflösung starrer Kategorien, Zuschreibungen, Einbildungen, Fixierungen bis hin zum Geschlechtlichen mutig zuzulassen, zumindest aber lustvoll damit umzugehen.

 

Virginia Woolf (1882-1941) eine charmant frivole Mutmacherin für Freigeister, für vorurteilsfreie Selbstbefragung, für Aufbrüche zu neuen Ufern, die seelische oder soziale Einbrüche freilich nicht ausschließen; denn alles hat seinen Preis. Doch die Autorin singt weise das optimistische Hohelied siegreicher Selbstbefreiung.

 

Schließlich ist „Orlando“ ein fantastisches Buch: Nämlich die Biografie eines nie wirklich alternden englischen Edelmanns über vier Jahrhunderte hinweg, den es zu spektakulären Schauplätzen und in ebensolche Liebschaften durch die Welt treibt und der schließlich zur Frau wird. Er/Sie erlebt an sich selbst Prozesse der Wandlung ‑ und die nämlichen zugleich an seinen Mitmenschen, an Regimen, Denksystemen, Sitten und Gebräuchen, am Zeitgeist, am Wetter oder am politischen Klima. Er erfährt, was eine Frau darf und ein Mann nicht und umgekehrt. Alles fließt, ist divers und entsteht neu in unseren Köpfen – heutzutage erst recht ein dominantes Thema.

 

Das wie geschaffen ist für die Regisseurin Katie Mitchell, die zusammen mit Alice Birch „Orlando“ für die Bühne neu gefasst hat. Denn Mitchells Spezialität ist, diese Bühne in ein milieugerechtes Filmset zu verwandeln, womit das Publikum zum Beobachter wird, wie die Schauspieler (Jenny König sympathisch durchtrieben und schlau in der Titelrolle), wie die ganze famose Truppe zurecht gemacht und vor die vielen Kameras in den zahlreichen Szenenbildern positioniert wird. Dann wird das Gemachte von Videoleuten kunstvoll gefilmt. Das perfekte Ergebnis kann man zeitgleich auf einer hoch über allem gespannten Leinwand betrachten. Wie im Kino.

 

Eine frappierend possierliche Verfremdung die demonstriert, dass eben alles hergestellt, alles arrangiert von Menschenhand ist. Wir kapieren: Es könnte alles auch anders sein. Nichts ist gewiss. Und – im gegebenen Fall – voller Witz, Allotria, Scherzhaftigkeit. Toll. Einerseits.

 

Anderseits: Die Tollheit und auch Abgründigkeit des Romans wird bloß angetippt. Sensible Betrachter mögen gelegentlich stöhnen über das Gefriemel und Gewusel der Filmerei, das eine gewisse Betulichkeit verbreitet und dem Woolfschen Sound das Scharfe und Spitze nimmt. Das stört nicht grundlegend das Amüsement über die präzise fliegenden Wechsel der historisch korrekten Kostüme (Sussie Juhlin-Wallén) und Kulissen (Alex Eales), der Zeiten und Schauplätze, aber es entspricht bei weitem nicht der Tiefe, Komplexität und Dynamik der literarischen Vorlage, die zur Hand zu nehmen man nicht versäumen sollte.

 

(wieder 25., 26., 27. Oktober)

 

***

2. Neuköllner Oper - Der gierige Wüstling, die begehrlichen Frauen

GIOVANNI. Eine Passion  © Matthias Heyde
GIOVANNI. Eine Passion © Matthias Heyde

Ein kleines freches, dabei einfühlsam herzbewegendes, also überraschend großartiges Mozart-Fest hoch über den Dächern von Kreuzberg schenkte uns jetzt die unverschämt mutige, so verrückt innovative Neuköllner Oper ausgerechnet mit einer Neufassung des wohl wundersamsten menschlich-fantastischen Werks des musikalischen Theaters: Mit „Don Giovanni“.

 

Mozarts kongenialer Librettist Lorenzo da Ponte (s. Blog Nr. 288) nannte das lustige Drama (Dramma giocoso) im Untertitel „Der bestrafte Wüstling“; Regisseurin Ulrike Schwab und Dramaturg/Intendant Bernhard Glocksin titelten „Giovanni. Eine Passion“. Das entspricht – wie alles bei dieser kühnen Klassiker-Adaption – dem Geist dieser genialen Geschichte aus Verzweiflung und Glückseligkeit, aus Verführung, Verbrechen, Lust, Leid und Strafe, aus Opferbereitschaft und freiheitlich emanzipatorischer Entgrenzung sowie zugleich hemmungsloser Gier nach Selbstverwirklichung, nach rücksichtsloser Macht – vornehmlich männlicher Macht.

 

So wird denn gleich am Anfang der mit dem Höllentod bestrafte, mörderische Wüst- und Lüstling zu Grabe getragen und am Schluss ein grotesk ins Übermenschliche aufgeblasener Phallus lustvoll zerfleddert, dass die derart „ejakulierten“ Schaumstoffwolken den Frauen und dem Publikum nur so um die Ohren fliegen.

 

Frauen an die Macht, das klingt so auch bei Mozart und da Ponte. Aber auch in der Neuköllner Oper leiden beide Geschlechter unterm herrlich-schrecklichen Krieg der Triebe, unter den schon bei Mozart-da Ponte nicht unkritisch gesehenen diktatorischen Rollenzuschreibungen im Sozialen. Gerade deshalb ist das dunkel-grell, frivol und bitterernst schillernde Werk so unsterblich, weil es, ja doch, auch politisch ist – sein Aufrührerisches (auch das eine Passion!) verkleidet im Komischen. Dramma giocoso…

 

Im Mittelpunkt der ziemlich korrekt nacherzählten Geschichte steht also ein Frauenversteher und Frauenvernichter im Clinch mit der Konvention, der Moral, die freilich auch seine Freuen (wie überhaupt alle Frauen) nicht gepachtet haben. Komplexe Sachlage, die allerdings nicht durchweg derart komplex gezeigt wird in der geschickt auf zwei Stunden gerafften Fassung. ‑ Doch im Prinzip stimmt alles.

 

Was hier aber sonderlich fasziniert ist der kollektiv erarbeitete Umgang mit dem musikalischen Material – diesem Reichtum! ‑ durch das einzigartige, hinreißende, unglaublich kreative und spielwütige, seit vier Jahren Furor machende Berliner STEGREIF.orchester. Das vom fabelhaften Juri de Marco dirigierte Solisten-Ensemble mit 30 jungen Menschen aus aller Welt, die ihre Instrumente beherrschen, die singen und spielen können und ohne sichtbaren Dirigenten und ohne Stühle auskommen und in der dadurch gewonnenen Freiheit sich den Raum schaffen für bildnishafte Bewegung. Der ganze Saal wird somit zur Bühne, auf der Akteure und Zuschauer sich bedrängend nahe kommen.

 

Doch neben der auch im performativen Schauspiel nicht unüblichen szenischen Entgrenzung betört eben die geradezu sensationell musikalische: Da ist zum einen die originelle kammermusikalische Neu-Instrumentation, zum anderen die frappierende Verwandlung Mozartscher Erfindungen in zeitgenössische Formen wie Folk, Jazz, Blues oder Rock und wieder zurück zu Mozart. Unerhört!

 

Das Wolferl hätte sich diebisch gefreut über die Unverwüstlichkeit, über die Macht seiner Musik, die noch nach mehr als zwei Jahrhunderten durch gekonnt heutige Verfremdungen ganz neuartige, teils sogar seltsam gesteigerte, dabei zutiefst unser Gemüt bewegende Wirkungen entfesselt. Was für eine faszinierende Sache. Was für ein spannendes, singuläres Unterfangen. Was für ein zwar aufwändiges und kompliziertes (man vermutet: schwerste Probenarbeit!), im Grunde jedoch ingeniös-demütiges, hoch artifizielles „Bearbeiten“, frei von banaler Besserwisserei. Eine Feier Mozarts, und wir feiern seine Brüder und Schwestern im Geiste: Das unvergleichlich passionierte Ensemble STEGREIF.orchster mit ihrem jüngsten Coup: Giovanni. Eine Passion.

 

(wieder 23.-26., 30.-31. Oktober; 1., 3., 6., 7., 9., 10. November)

 

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3. Wühlmäuse - Da kratzt sich Gott am Hinterkopp und grüßt Frank Lüdecke

Die Wühlmäuse Ensemble © Maximilian Goedecke
Die Wühlmäuse Ensemble © Maximilian Goedecke

Familienkrach in Gottes eigenem Himmel – Sohnemann kontra Papa: Der habe mit seiner Erschaffung von Adam und Eva gepfuscht und es sei hohe Zeit, da nachzuarbeiten, meint Jesus in Anbetracht der zänkisch-egomanischen Schöpfung Gottvaters. Und hat auch einen Vorschlag. Nämlich die Aussendung einer ordentlich göttlichen Plage zur Erziehung und Bewährung des Menschengeschlechts. Soviel zum Vorspiel vom neuen Programm des seit einem Jahr fest engagierten, aber längst kultigen Wühlmäuse-Ensembles; Titel: „Gelogene Wahrheiten“.

 

Und sogleich geht’s rund auf Erden. Helle Aufregung, Staatsnotstand, eine himmlische Virus-Plage grassiert. Die Opfer vergessen eine Grundlage ihrer Zivilisation, nämlich das Lügen. Und müssen auf Anhieb das Gefährlichste überhaupt tun, nämlich immerzu und jedem die Wahrheit sagen. Mit rasender Geschwindigkeit breitet sich Chaos aus. Ehen zerbrechen, Konzernpleiten drohen, die Tagesschau muss abgeschaltet werden, Horst Seehofer will Bayern in die Unabhängigkeit führen. Das Wahrheits-Virus droht alle Welt zu infizieren und dem Untergang zuzutreiben. Ausgerechnet Angela Merkel ist es, die den Kampf gegen die globale Krankheit anführt und – erste Amtshandlung ‑ sofort eine Experten-Kommission einberuft in einen Geheimbunker unterm Potsdamer Platz; schließlich würde mit dem Ausbruch der Wahrheit alles zusammen.

 

Doch das geht schief, alle Experten sind – böse Überraschung! ‑ verhindert. Gott sei Dank findet sich prompt Ersatz: Die rheinische Bienenforscherin Babette Beerendonk (Birthe Wolter), der Neuköllner Streifenpolizist Renee Orlowski (Robert Luois Griesbach), der Psychiater Dr. Malte Hinterschuster (Matthias Harrebye-Brandt) sowie die Gleichstellungsbeauftragte für Britz-Buckow-Rudow Gundula Satzberg-Strampel (Santina Maria Schrader).

 

Die tolle Truppe hat von nichts eine Ahnung, dafür nur 24 Stunden Zeit, ehe das Virus Moskau, Washington, Pjöngjang erreicht. Auch kracht es gehörig im Quartett der Weltretter unter Tage, das Gratis-WLAN fällt aus und Olaf Scholz streicht das Budget zusammen auf 56,50 Euro (plus Verpflegungspauschale).

 

Das für seine originell pointierte Rhetorik und Eloquenz berühmte Autorenduo Frank Lüdecke (zugleich Regie) und Sören Sieg entfesselt im Bunker ein Tollhaus, in dem quasi im Schnelldurchlauf ein Gutteil unseres gesellschaftlichen Wahn- und Irrsinns bloßgestellt wird. Sei es die internationale oder lokale Politik, die Bundeswehr, die Verwohnungsbaugesellschaften, Pegida-Schlagida, die Pflege, die Kirchen, Schulen, Parteien, die Inklusion, das Gendern oder Nachrichten-TV (ätzend die Satire „News auf Pro 9“) ‑ es ist wirklich allerhand, was da alles eins mit Wucht und Witz auf den Deckel kriegt. Und es ist bestens gemachtes Polit-Kabarett. Als köstliche Extras zwischendurch: Das entnervte Zuschalten der eisern ihre Nerven beherrschenden Kanzelerin per Video mit der trefflich komischen Parodistin Antonia von Rumatowski.

 

Wie es ausgeht mit der Invasion vom Wahrheits-Virus, bleibt hier vorsichtshalber Geheimsache. Als Rausschmeißer aus dem Verwirrspiel mit Lügen und Wahrheiten donnert ein schmissig gemischter Chor: „Wahrheit ist Mangel an Fantasie, Tugend Mangel an Gelegenheit. Allen alles wollen nur intelligent Beschränkte erzählen, wir können das nicht empfehlen…“ Da sind wir ‑ hart gelandet (wie gereimt) ‑ wieder beim ewig Menschlichen. Und der Liebe Gott, der grinst. Kratzt sich aber dennoch ärgerlich am Hinterkopf.

 

(Wiederaufnahmen 26., 27. Oktober; 2., 15, 16., 17. November)

 

Bei dieser Gelegenheit: Gott grinste äußerst wohlwollend auf das mutige Unterfangen des großen Frank Lüdecke: Die Übernahme des Kabaretts „Die Stachelschweine“ im Europa-Center. Bravo! Immerhin: mit Geist und Kraft ist er reichlich gesegnet! Allein schon der Witz des Titels vom Eröffnungsprogramm spricht Bände: „Viel Tunnel am Ende des Lichts“. Wir wünschen toitoitoi und immer „voll Haus“.

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