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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 238

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

2. Januar 2018

HEUTE: 1. Spruch zum neuen Jahr von Peter Hacks / 2. „Les Misérables“ – Berliner Ensemble / 3. „Die Glasmenagerie“ – Theater am Kurfürstendamm

1.Empfängliches Vergängliches

„Coriandoli und Nüsse, Fackelschein und Lieder. / Empfanget meine Küsse, gebt sie auch mal wieder. / Empfanget meine Liebe, bin da selbst empfänglich. / Was immer von uns bliebe, Liebe ist nicht unvergänglich.“ (Peter Hacks, „Saturno“) - Prosit Neujahr!

2. Berliner Ensemble: - Elend lang

 © Matthias Horn
© Matthias Horn

Frank Castorf als neuerdings „freischaffender Dienstleister“, der über Land reist, bemerkte so beleidigt wie zynisch, nur eine tote Volksbühne sei eine gute Volksbühne für das Berliner Ensemble. Denn dort machte er in Berlin erstmals jenseits der Volksbühne Station (pro Kalenderjahr hier jeweils eine Inszenierung). Dabei tat er das, was er schon immer gern tut: Rekorde sprengen. Was ein Geniegigant wie Richard Wagner mit der „Götterdämmerung“ sich traute, nämlich je nach Dirigent zirka 300 Minuten Musikdrama (plus zwei Pausen, in Bayreuth jeweils eine Stunde), das stellte Genie Castorf mal eben locker in den Schatten. Mit sieben Stunden plus 30 Minuten Pause für eine Meditation über Victor Hugos Riesen-Roman „Les Misérables“ („Die Elenden“).

 

Doch es kommt noch besser für Liebhaber: An ausgewählten Wochenenden gibt’s eine Acht-Stunden-Version nebst Begleitprogramm (erstmals am 3. März). Ansonsten verzichtet Castorf auf Druck der BE-Intendanz sowie des flüchtenden Publikums aufs Premierenformat und präsentiert künftig eine „Kurz-Fassung“, mit der er in höchstens sechs Stunden einschließlich Pause fertig werden will.

 

Trotzdem: Was für eine Tour – und Tortur. Eine kreischende, brüllende, schwindelerregende Achterbahnfahrt. In ihren Kurven saftige Szenen aus dem Auf- und Abstieg des Galeerensträflings Jean (Andreas Döhler packend bullig, dabei schwer gebrochen) sowie den sexuellen und sonstigen Überlebenskämpfen wie -krämpfen der um ihn herumtobenden Figuren (u.a. Valery Tscheplanowa, Stefanie Reinsperger, Sina Martens, Aljoscha Stadelmann, Wolfgang Michael). Dann wieder vertrödelte Geradeausfahrten mit länglichen Erörterungen der sozialen Frage (Ausbeutung, Sklaverei, Aufstand, Revolution) sowie weit gespannten philosophischen, psychologischen, kultur- und kunsttheoretischen Exkursen auf den vielen, vielen Rastplätzen. Dazu reichlich Video, weniger Popmusik, dafür umso mehr Latino-Rhythmen. Denn Castorfs albtraumhaftes Zickzack durch Hugos politisch-ethisch grundierte Monumental-Soap findet kaum in Frankreich statt, sondern überwiegend auf Kuba. Dafür hat Castorf einen Klassiker der lateinamerikanischen Literaturmoderne ins französische Liebes-und Abenteuerspektakel implantiert: nämlich den Roman „Drei traurige Tiger“ von Guillermo Cabrera Infante. So werden Hugos Figuren vom nachrevolutionären Paris der Restauration von 1848 versetzt ins vorrevolutionäre Havanna von 1958. Tollkühn gedacht, aber letztlich ohne sonderlichen Erkenntniszuwachs bezüglich der programmatischen Bemerkung Hugos, dass soziale Verdammnis künstlich Höllen schaffe inmitten der Zivilisation.

 

Die Location von Aleksandar Denic auf Drehbühne ist ein auf zwei Etagen getürmtes Chaos aus Stuckfassade, Stacheldraht, Salon, Polizeistation, Knast, Kneipe, Kramladen – immerhin ein signifikantes Stück Welt. Da hinein kippt Castorf jede Menge tolle szenische Einfälle, hetzt seine Spieler bis dicht ans Koma. Wahnsinnsarien, Kampf-Duette, wüste, auch witzige Extempores. Und Momente der Innigkeit, der Trostlosigkeit. Immerzu Entgrenzung, mal ins Schöne, meist ins Schreckliche. Man hätte in vier Stunden locker damit fertig sein können – es wäre womöglich grandios geworden. Doch dann eiert der ach so beträchtliche, schier ins Unendliche wuchernde Rest nur noch so dahin mit kryptischen Ausflügen durch die Höhen und Tiefen vom Castorf-Hirn. Oder mit Wiederholungen, Plattheiten, Agitprop-Tiraden. Also quälende Redundanz. Und Pustekuchen hinsichtlich Sinnzusammenhang, Verständlichkeit, Figurenzeichnung.

 

Warum nur klebt dieser Regisseur so egomanisch rücksichtslos an allen zwischen genial und banal changierenden Gedanken und Einfällen. Freilich, Kunst darf und soll (fast) alles, auch gezielt überfordern ‑ aber niemals langweilen.

 

Castorf sagt, Hugos 1500-Seiten-Wälzer habe was von einem „endlosen Gedicht“. Er nahm es nervend wörtlich. Dabei kapieren wir das ewig Aktuelle spätestens nach zwei Stunden: Nämlich das Problem der Gerechtigkeit. Und das mit dem menschlichen Ego und Wahn.

 

Am Anfang, fast im Dunkel, da hockt der legendäre Jürgen Holtz (85) einem Buddha gleich und räsoniert eine gespenstische halbe Stunde lang sarkastisch über irdischen Irrsinn. Allein schon damit wäre fast alles gesagt.

(wieder 6., 7. Januar; voraussichtlich sechs Stunden Spieldauer)

2. Kudammtheater: - Wild hechelnde Seelen ersticken im Stillstand eines traurigen Daseins

 © Barbara Braun
© Barbara Braun

Tennessee Williams gelang 1944 mit „Die Glasmenagerie“ der internationale Durchbruch. Ein gestochen scharf gezeichnetes Bild einer Familie aus prekären Verhältnissen im tiefen US-amerikanischen Süden; keine Sozialschmonzette. Vielmehr ein psychologisch fein ziseliertes Kammerspiel, atmosphärisch gefärbt von den vielen Facetten einer großen Vergeblichkeit und verklemmten Erotik, die da implodieren oder explodieren im rasenden Wechsel. So gesehen passiert unheimlich viel zwischen Mutter (Anna Thalbach), Tochter (Nellie Thalbach), Sohn (Louis Held), Kumpel vom Sohn (Sven Scheele). Aber eigentlich passiert, ähnlich wie bei Tschechow, bloß erstickender Stillstand heftig hechelnder Seelen, die sich der Realität verweigern.

 

Katharina Thalbach inszeniert das zwischen Schmerz, Tristesse und Verzweiflung, Demütigung und Repression changierende, dennoch von fein komischen Momenten durchzogene Sehnsuchts- und Vergeblichkeitsstück mit bewundernswert zarter Hand, aber doch präzise zupackend. Eine Inszenierung leicht wie Aquarellmalerei, dabei die schweren inneren Spannungen der quasi permanent unter Hochdruck stehenden Figuren genau nachzeichnend. So führt sie das Personal der Beschädigten und Traurigen zu Höhen der Schauspielkunst, deren Intensität so nicht oft zu erleben ist. Diese Spannung wiederum wird kontrastiert durch ironische Zwischenspiele: Da schlüpft Sohnemann Tom (Louis Held) unversehens aus seiner Rolle und macht als flotter Bursche mit Pudelmütze auf dem Kopf und Mikro in der Hand vor dem Zwischenvorhang seine kommentierenden Ansagen. ‑ Übrigens, Held, gerade noch 21, wurde von der Thalbach als Talente-Scout frisch von der Schauspielschule weg engagiert, tourte letzten Sommer mit der Popsängerin Lina durchs Land, war Star der Teenie-Filme „Bibi und Tina“, arbeitet an seinem Debüt-Album für die Popindustrie und hat jetzt in der „Glasmenagerie“-Wiederaufnahme sein beachtenswertes Bühnendebüt. Seine Intermezzi als Entertainer, begleitet vom jazzenden Musiker Emanuel Hauptmann, sind raffinierte Aufhellung gegenüber der Tristesse, der lastenden Schwermut dieses feinsinnig-elegischen Psycho-Dramas, das bei aller Melancholie nicht ins aufdringlich Schwerblütige, schwiemelnd Gefühlige oder gar vordergründig Plakative rutscht. Nie werden die wie Glas zerbrechlichen Figuren denunziert zugunsten wohlfeil klirrender Theatereffekte. Immer bleibt ihnen in all ihrem Elend zwischen ungelebter Lust und unterdrücktem Aufbruch ein schönes Maß an – um es hochtrabend zu sagen: herzergreifender Würde.

 

Die Thalbach, eine lebensweise Herzkünstlerin, keine abgehoben verkopfte Performance-Arrangeurin, tut etwas heutzutage eher Seltenes: Den intelligent kreativen Dienst am Autor. Wohl eine ihrer stärksten Regieleistungen in den letzten Jahren. Gestützt auf den italienischen Altmeister Ezio Toffolutti und dessen ingeniöse, zugleich trefflich sinnbildliche, dabei so simple wie kostbare Ausstattung: Wehende weiße Leinenvorhänge, die kreisend konkrete Spielorte abgrenzen und sie dennoch luftig, südlich verbinden – eine Menagerie für Menschen. Ein Ereignis.

(Wiederaufnahme für nur zwei Vorstellungen in der „Kudammbühnen-Spielzeit vor dem Abriss“ am 8. und 9. Januar)

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