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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 237

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

18. Dezember 2017

HEUTE: 1. Dem legendären Kritiker Alfred Kerr zum 150. Geburtstag / 2. Siebzig Jahre Komische Oper – Blick mit Joachim Herz zurück in die Ära Felsenstein und Vorausschau mit Barrie Kosky / 3. Zum Ende des Jahres

1. Alfred Kerr: - Erstens, das Knappere


Berliner Tageblatt, 1. März 1925. Über „Coriolan“ von Shakespeare: „Dieses Stück hat für die Schwächeren den Nachteil, Ideen zu bieten. Für die Anderen den Nachteil, falsche Ideen zu bieten. In der Mitte kann – ich empfehle das – die Behauptung schwimmen, es handele sich gar nicht um Ideen, sondern um Leidenschaft. Die wäre der Ausweg. Wider den sich höchstens einwenden ließe, dass er falsch ist.“

Würde unsereins heutzutage, falls einem denn derart Geistreiches einfiele, mit solchen Sätzen eine Theaterkritik starten, tippte sich die Redaktion wohl an den Kopf. Zu kryptisch.

Alfred Kerr, sein Pseudonym wurde zum Synonym für Theaterkritik überhaupt (tatsächlich heißt er Alfred Kempner), Kerr schreibt wie sein Name klingt: Sätze wie Schüsse. Und jeder Schuss ein Kunststück. Fast immer ins Schwarze treffend. Manche freilich nehmen von den Kerrschen Salven nur die Knallerei wahr: Krr, Krr. Von römisch eins bis XV durchkapitelt.

Der Autor – Wahlspruch: „Das Knappere“ – pflegte nämlich seine Schießerei durchzunummerieren. Römisch. Möglichst kurze Sätze jeweils (wird einem auch heute auf jeder Journalistenschule eingehämmert). Das rahmt, um vom Militärischen endlich wegzukommen, die Kerrsche Poesie, seine meist verrückt witzigen, abenteuerlich komprimierten Gedankenkonstrukte und furiosen Wortgeburten. Kerr schrieb eigentlich nie über eine Inszenierung, immer aber über seine Erlebnisse, Eindrücke, Erinnerungen, die ihn im Dunkel des Parketts beglückten oder heimsuchten. Seine Arbeiten sind, möchte man vage meinen, Prosagedichte. Ein Dichter dichtet über anderer Künstler Stücke.

Schulmeister sagen, vor lauter Dichtung verlören die Rezensionen ihre „Bindung an den Gegenstand“. Ja schon. Vielleicht. Ach was. Papperlapapp!

Außerdem: Künstler Kerr war Kämpfer, Krieger, Schimpfer, Beleidiger, Bewunderer, Liebender, Hasser, Vernichter. Ein Streithammel, nur ein Traumtänzer war er nicht. Er ging harsch vor beispielsweise gegen Brecht und Reinhardt; hingebungsvoll aber war man gegen Hauptmann und Brahm. Er war für Zeitstücke mit der „richtigen“, gegen Zeitstücke mit der „falschen Tendenz“ – das heute gängige Links-Rechts-Schema aber wollte schon damals nicht passen zum Richtig und Falsch. Was „Ewigkeitszug“ in sich trug, wusste Kerr anzubeten. Ja, es gäbe immer wieder Menschen, die für „diese Erdsippe“ ihr Leben einsetzen. „Ich tät’s nicht. Nur die Zärtlichkeit für solche, die es immer wieder tun, stirbt nicht aus.“

In der Weihnachtsnacht, am 25. Dezember 1867, wurde Alfred Kerr in Breslau geboren, studierte dort Philologie und befand, ihm liege die Rolle als journalistischer Schriftsteller, denn er wolle unbedingt unterhalten, aber auch scharf auf Wirkung zielen. Die Pointe war ihm (fast) alles. „Sätze meistern“ und „Krach machen“, das war seins (manische Streitlust); sachliches Für und Wider eher weniger. Als Kritiker wollte Kerr immer auch Künstler sein.

Er war es! War Superstar des Theaterfeuilletons der Weimarer Republik. Residierte standesgemäß mit Familie im Berliner Westen. Bis die Nazis kamen. Kerr ging, musste sofort weg, zwei Wochen nach Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, da war Kerr 65. Die Familie folgte, sein Vermögen wurde nach und nach eingezogen. Das Exil, umherziehend durch halb Europa, war elend, zutiefst demütigend. Ein unglaublicher Absturz. Und die geistige Elite Deutschlands, die ihn einst umschwärmte, ließ ihn links liegen. Nach Kriegsende versuchte er als kranker Mann skeptisch eine vorsichtige Annäherung an Deutschland (auch auf Einladungen); im Exil war es ihm nur noch „Sprachland“. Bei einem Besuch in Hamburg für eine Vorlesung starb er 1948. Gedenken wir seiner in Liebe. Und feiern seinen 150. Geburtstag ausgerechnet an Weihnachten. Doch ein Christkind wollte er nie sein; eine Taufe zog er nie in Betracht, so sehr seine jüdische Familie auch der christlich-deutschen Kultur zugeneigt war. Schalom Kerr!
(Hinweis: Vor einem Jahr erschien im Rowohlt Verlag die erste Biografie über A.K. von Deborah Vietor-Engländer, 270 Seiten, 29,95 Euro. Titel: „Alfred Kerr. Die Biografie“. Für Theaterfreunde ein Muss!)

2. Komische Oper - Die Felsenstein-Zeit: Erinnerungen von Joachim Herz oder Routine zerstört das Stück – das meint auch Barrie Kosky - Erinnerungen von Joachim Herz oder Routine zerstört das Stück – das meint auch Barrie Kosky

 © Jan Windszus Photography
© Jan Windszus Photography

„‘Pausenlos‘ sollte die Person auf der Bühne, und sei es bloß der Träger eines Tabletts, Stellung beziehen. Sollte erfüllt sein von etwas, sollte etwas wollen, sollte etwas ‚meinen‘: sofern er zu singen hatte, der Musik ‚voraus‘ diese gleichsam aus sich heraus neu gebären – in minutiösem Einklang mit Partitur und Dirigent, versteht sich! Nicht aber Musik und Text ‚aufsagen‘.

Ein Wort wie ‚intensiv‘ war ein schwerer Tadel und stand für ‚ehrgeizig aufgebläht ohne Inhalt‘; ‚Dampf‘ für seine verpönte Steigerung. ‚Opernbranche‘, ‚Vokalidiot‘ bereicherten den Wortschatz der Verteufelungen. Und zu Beginn jeder Spielzeit die ‚Regeneration‘ des gesamten Repertoires: In einem strapaziösen Parforce-Lauf alle Stücke neu geprobt. Denn ehernes Gesetz war: Jede Vorstellung eine Premiere.

Unter ‚Musiktheater‘ verstand man gern nicht etwa schlechthin Theater mit Musik, auch nicht eine Form der Operndarbietung, die das dramatische Potential der Werke bloßlegt, sondern schlicht die theoriegestützte Spielweise der Komischen Oper. Wohingegen ich das Wort ‚Realismus‘ weder von Felsenstein noch von seinen Mitarbeitern je gehört habe“, erinnerte sich Joachim Herz (1924-2010) an seine Lehrzeit beim Intendanten und Chefregisseur der Komischen Oper, Walter Felsenstein (Jahrgang 1901), dem er nach dessen Tod 1975 im Amt nachfolgte.

Herz erklärte, was Felsenstein mit „Musiktheater“ meinte. Barrie Kosky, jetzt Chef des Hauses, nennt die „theoriegestützte Spielweise“ Vision; Felsenstein sei der einzige (neben Richard Wagner), der mit einer Vision ein Opernhaus gegründet habe, sie gehöre zu dessen DNA. Deshalb stehen die Feierlichkeiten zum Gründungs-Jubiläum unter dem Motto „70 Jahre Zukunft Musiktheater“.

Die Komische Oper wurde an Weihnachten, am 23. Dezember 1947, mit der „Fledermaus“ von Johann Strauß als drittes Opernhaus im Nachkriegs-Berlin eröffnet – auf Befehl der Sowjetischen Militäradministration. In der Lizenz freilich steht „Städtisches Operettentheater“; der Auslöser eines beständigen Kampfes um die monetäre und materielle Ausstattung – in Konkurrenz (so bis heute) zur benachbarten Staatsoper. Erst nach 1961 kam der ersehnte Status „Staatstheater“. Man verstand sich inzwischen ohnehin quasi als „exterritorial“, sagte Herz. Konnte selbst nach dem Mauerbau sämtliche Mitarbeiter ‑ vom Sänger bis zum Pförtner ‑ aus dem Westen halten. „Überhaupt stand dank Felsenstein in der ganzen DDR Oper unter so etwas wie Naturschutz.“

Ist heutzutage bisschen anders; nach der Wiedervereinigung stand die Komische Oper sogar zur Disposition, womöglich durch Fusion mit der Staatsoper. Demnächst, spätestens ab 2022, muss das Haus geschlossen und saniert werden, dafür hat die Politik das Schiller-Theater als Ausweichquartier vorgesehen. Doch Barry Kosky will nicht an die Bismarckstraße. Er will „ins Exil in die Stadt“. Will an den unterschiedlichsten Orten jeweils dafür passende Inszenierungen herausbringen, ein Aufwand, der ziemlich teuer wird, teurer als das jahrelange Ausweich-Domizil im Schiller-Theater, das nach Koskys Meinung höchstens geeignet sei für eine Wintersaison Musical-Betrieb. Ansonsten sei die Immobilie Schiller-Theater „tödlich“ für die Komische Oper. Will die Stadt den finanziellen Mehraufwand des „Exils“ nicht tragen, dann müsse sie für die Zeit nach 2022 einen neuen Intendanten suchen. „Wenn ich soll bleiben, dann give money“, so Kosky kürzlich sehr ernst im ALEX-TV zu unserer Kulturvolk-Talkshow.

Interessant übrigens, wie die DDR-Führung hinterrücks über den hochprivilegierten Felsenstein mit österreichischem Pass sprach (er hatte beispielsweise die Idee, von seinem Anwesen am Stadtrand Ostberlins mit einem vom Militär freilich auf eigene Kosten beständig zur Verfügung gestellten Hubschrauber an seinen Ferienort Vitte auf Hiddensee geflogen zu werden). – Anlässlich eines Gastspiels der Komischen Oper Ende 1959 in der UdSSR schrieb der hohe Kulturfunktionär Alfred Kurella nach Moskau an den DDR-Botschafter, den „lieben Genossen Dölling“: „Felsenstein hat etwas von jenen Söhnen der Familie, die, wenn sie zu Besuch sind, einen großartigen Eindruck hinterlassen…, die aber zu Hause die größten Sorgenkinder, oder besser gesagt, einfach unausstehlich sind.“ Dann werden weitere Misslichkeiten beschrieben, hinter denen meist „die Gattin“ stecke. W.F. sei spießig, habe teils „erpresserische Forderungen in Bezug auf Gagen, Sonderzuschläge, Reisegelder. Immerhin jedoch wisse W.F. genau, „nirgends in der Welt wird er je die Bedingungen bekommen, die wir ihm geschaffen haben“.

Die Quelle meiner Auslassungen und Zitate ist ein hübsch illustriertes Büchlein, herausgegeben von der Musikwissenschaftlerin Ilse Kobán, die, einst noch von W.F. persönlich berufen, das Felsenstein-Archiv gründete (heute Akademie der Künste) und es bis Mitte der 1990er Jahre leitete. Das delikat anekdotische Taschenbuch „Routine zerstört das Stück. Erlesenes und Kommentiertes aus Briefen und Vorstellungsberichten zur Ensemblearbeit Felsensteins“ erschien 1997 zum 50jährigen Bestehen der Komischen Oper im Märkischen Verlag Wilhelmshorst (ISBN 3-931 329-13-5). Eine so amüsante wie hoch informative Fundgrube, die vor allem den tagtäglichen Kampf gegen Anarchie und Lethargie auf und hinter der Bühne aufregend anschaulich macht. Heute leider nur noch und mit Glück antiquarisch zu haben (über Verleger Klaus-Peter Anders).

3. Schlussstrich 2017

Blog Nummer 237 ist der letzte in diesem Jahr. Mit Schmökereien über Vergangenes, das freilich weiter wirkt. Der Rausschmeißer aus 2017 diesmal wehmütig mit dem österreichischen Dichter Heimito von Doderer. Dazu zwei erbauliche Bonmots für die Zukunft. Der nächste Blog erscheint Neujahr 2018. Doch zunächst: Frohe Weihnachten!


Wenn die Blätter auf den Stufen liegen / herbstlich atmet aus den alten Stiegen / was vor Zeiten über sie gegangen. / Mond darin sich zweie dicht umfangen / hielten. Leichte Schuh und schwere Tritte / die bemooste Vase in der Mitte / überdauert Jahre zwischen Kriegen. – Viel ist hingesunken uns zur Trauer und das Schöne zeigt die kleinste Dauer.

„Man sagt immer wieder, das Theater sei in der Krise. Aber das Theater ist die Krise.“ George Tabori

„Wenn man sich darauf einigen könnte, wo die Grenzen des Theaters liegen, bräuchte man keins.“ Edgar Selge

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