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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 200

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

30. Januar 2017
HEUTE: 1. Zweihundert mal „von beschränkter Wichtigkeit“ – Grüße zum Jubiläum von Marcel Reich-Ranicki, Gerhard Stadelmaier, Alfred Kerr / 2. Ulrich-Wildgruber-Preis für DT-Schauspielerin Kathleen Morgeneyer


1. Zweihundert Theater-Betriebsnotizen und ein Riesenpapierkorb gefüllt mit vollgekritzelten Spiralblöcken. Die erste Nummer erschien – auf Initiative von Alice Ströver – am 17. September 2012; und seither immer montags neu. All die Jahre hindurch, abgesehen von sommerlichen Pausen. Muss erst mal einer nachmachen, liebe Kollegen und Freunde. Blumentöpfe und Sektflaschen sind an der Garderobe abzugeben… Und: Frische Spiralblöcke für weiterhin unterwegs in den Theatern liegen parat. Also auf zu neuen Erkundungen im Berliner Bühnen-, Brettl-, Showbetrieb. Danke für Ihre Aufmerksamkeit!

 

Instinkt, Kopfbühne, Alleinsein...

Bei dieser Gelegenheit ein paar Bemerkungen aus höchst berufenen Mündern über den Job als Kritiker: – Marcel Reich-Ranicki meinte: „Sie müssen eitel sein, sonst können sie gleich Buchhalter werden. Sie müssen überzeichnen, um verstanden zu werden – und ihren Instinkten vertrauen.“

 

Wie man Kritiker wird? „Ganz einfach: Man setzt sich hin – und ist’s. Kein Diplom, kein Schein. Keine vorgeschriebene Ausbildung. Man lernt das Gewerbe durch die Praxis. Ein so genannter offener Begabtenberuf. Jeder kann Kritiker werden. Aber: Man ist mit sich sehr allein. Nur die wenigsten halten das aus“, weiß Gerhard Stadelmaier, Hauptkritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung; inzwischen pensioniert. Und weiter: „Den Kritiker unterscheidet von seinen Lesern nur eins: dass er laut darüber redet, was ihm gefallen oder missfallen hat. Er hat die Hochmögenheit und die Anmaßung eines Subjektes, tausend anderen Subjekten vorzuspielen, wie er das, was er gesehen hat, auf seiner Kopfbühne zusammensetzt.“

 

Alt- und Übervater Alfred Kerr schoss Artikel 1 des Grundgesetzes der Theaterkritik mal fix in Reime:

 

„Zum Kugeln, wer ein kritisch Ämtchen

Gottsbitterlich pathetisch nimmt.

Zum Kugeln, wer im Priesterhemdchen

Das Rampenholz zum Fetisch nimmt.

Das Ding, worum man raunt und schreit,

Ist von beschränkter Wichtigkeit.“

2. Das Extra zum Jubiläum

Was könnte da besser passen als ein Porträt der wunderbaren Schauspielerin Kathleen Morgeneyer, unsere Berliner Nina, Eboli, Iphigenie am Deutschen Theater. Sie bekam just vor zwei Tagen, am vergangenen Samstag, mittags um 12 Uhr im Hamburger St.-Pauli-Theater den Ulrich-Wildgruber-Preis. Er ist mit 10.000 Euro dotiert und wird seit 17 Jahren im Gedenken an den 1999 verstorbenen Schauspieler Ulrich Wildgruber zur Förderung junger Schauspieler vergeben. Wir gratulieren!

 

„Das Ordentliche musst du nicht spielen. Das kommt von allein.“

 

Sie kuschelt in meinen Armen, grapscht nach meiner Nase und will – oh Gott! – das Schreibpapier sich in den Mund stopfen. Es ist Fehnja, acht Monate alt, frisch gestillt, putzmunter. „Übernehmen Sie doch bitte, ich muss mal – nein, nicht ans Handy, Toilette“, sagt Kathleen Morgeneyer. Sie reicht mir ihre Tochter übern Tisch. Im gemütlich abgewetzten „Felix Austria“ in der Bergmannstraße. Mutter Morgeneyer mit dem märchenhaft langen Haar wohnt ums Eck, die große Tochter Maya, drei Jahre, steckt in der Kinderbetreuung. Ihr Mann vorm PC. „Geht ganz gut“, findet sie. „Eckhard in der IT-Branche, ich – abgesehen vom Babyjahr – im Theater; ihre Stücke im DT laufen trotzdem weiter mit ihr.

 

Entspanntheit „vom Hochdruck Bühne“ in der Kreuzberger Kaffeestube. Unser Treff - eine Gemütlichkeitsszene mit Baby auf rotem Samtsofa. Ihr ging eine freundlich scheue Distanz voraus, die alsbald kippte in eine Art vertrauensvolle Gelöstheit. Also Distanz und Nähe, dicht beieinander. Die Gabe, sich hingebungsvoll öffnen, sich umstandslos locker und frei machen zu können, diese souveräne Grundgestimmtheit einer gewiss immer auch heiklen Rückhaltlosigkeit ist ein starkes Fundament, auf dem diese längst zu den Großen der Zunft zählende Schauspielerin ihre Kunst baut.

 

Gerade diese „Durchlässigkeit“ ist es, die beispielsweise den legendären Regisseur Jürgen Gosch damals, gleich am Anfang ihrer bemerkenswert steilen Karriere 2005, in Düsseldorf sofort erkannte. Als kostbaren Humus, aus dem ein weit gespannter Ausdrucksreichtum erwächst; den er dann drei Jahre später in seiner „Möwe“- Inszenierung am DT – nutzte, steht noch heute im Spielplan. Er besetzte K.M. für die Rolle der ach so ätherischen und euphorischen, so trostlos lebensernüchterten und verbitterten Nina. – Das war für die 32-jährige Anfängerin drei Jahre nach Abschluss des Studiums Spitze in jeder Hinsicht: Das DT-Ensemble (mit der Harfouch als Arkadina), der Regie-Star Gosch, die Hauptstadt, der Fachjournalisten-Titel „Beste Nachwuchsschauspielerin“, das Theatertreffen, der Alfred-Kerr-Preis. „Eine Hochbegabte mit so vielen schönen Fähigkeiten, dass sie auf der Bühne nicht spielt, sondern lebt“, rief ihre berühmte Kollegin Jutta Lampe in der Laudatio.

 

„Ich sah Kathleen zum ersten Mal als Studentin im Frühjahr 2004 bei den Vorbereitungen meiner Senftenberger Intendanz“, erinnert sich Regisseur Sewan Latchinian. „Eine Kooperation mit der 'Busch' - Hochschule war geplant; ein Gegenwartsstück. Sie spielte vor. Sofort fesselte mich die schonungslose Unbedingtheit ihres Spieles, ihre expressive Entäußerung, ihr Mut zur Hässlichkeit und zugleich ihre wunderschöne, scheinbar zerbrechliche, dabei kraftvolle Weiblichkeit. Sie hatte damals schon diese Aura, die man hat oder nicht hat. Und diese dunkle, ganz fein wie von einer weggesteckten Träne gedämpfte Stimme. Unüberhörbar! Unverwechselbar! Sofort war klar: das ist eine kleine Große.“

 

Morgeneyer, ohne Weggestecktes: „Ja, ich war die Barbie. Eine Göre, die aus blinder Verliebtheit in die rechtsradikale Szene rutscht. Und es war schön und schwer früh um zehn Schülervorstellung… Herrlich, diese Theaterverrücktheit, die man wie Sewan damals ja immer selbst in kleinen Städten entfesseln kann. Ich bin ja selbst mit einer kleinen Truppe über Land gezogen. Das war nach 1994. Zuvor bin ich von zuhause raus. Raus aus dem langweiligen Gymnasium, aus dem öden Nachwendedepressions-Chemnitz. Ich trieb mich durch Berliner WGs, bewarb mich bei 'Busch', man lehnte ab: zu unbedarft, ich war ja erst 17, und vertröstete auf später. Doch ich wollte sofort unter Scheinwerfer. Da bin ich an die private Tanz- und Pantomime-Schule 'Etage'; Kosten: 500 DM monatlich. Aber eigentlich war die Sprache meins. Ich brauche Text und Bühne; ich zeige mich gern. Deshalb diese Überland-Spielwiese. Ab und raus im fahrenden Karren. Und die Leute klatschen.“

 

Sieben Reifejahre später anno 2001 Kathleens Zweitbewerbung bei „Busch“; mit 24. Ziemlich spät zwar, doch dafür hat sie einiges erlebt. „Man muss ja viel wissen in diesem Beruf, vieles wollen, stets dran bleiben, sich alles trauen.“

 

„Stimmt, Kathleen ist extrem hingebungsvoll – erstaunlich. Weiß aber genau, was sie will, was sein muss. Und setzt das auch durch. Mit sanfter Energie, stiller Insistenz“, sagt Ulrich Khuon, der Intendant des DT, seit 2011 ihr Arbeitgeber. „Sie ist bei all ihrer bezaubernden Verspieltheit sehr kritisch nicht nur sich selbst gegenüber. Ziemlich ungeschützt – tollkühn.“

 

Man sollte das Lob Jutta Lampes modifizieren: Morgeneyers Iphigenie zum Beispiel erst weinerlich wehklagend, dann kühl die Lage sezierend, dann sanft bittend, zuletzt herrisch fordernd unter der Regie von Ivan Panteleev – wieder so ein Exempel an „Durchlässigkeit“ (diesmal zwischen zart und hart); oder ihre Eboli, ihre Nina, all diese Figuren mögen sehr wohl auf der Bühne leben. Doch dürfte Morgeneyer genau wissen, wie was sie da lebt, wenn sie spielt. Der beträchtlich unauflösbare Rest freilich bleibt ihr Geheimnis. Wie der unvergessliche Gosch ihr riet: „Das Ordentliche musst du nicht spielen. Das kommt von allein.“

 

Und das Un- oder Außerordentliche es kam, es kommt glücklicherweise immer wieder. Keiner weiß letztlich woher. Bauch, Herz, Hirn? In Düsseldorf mit 28 die erste reguläre Rolle: Desdemona. Dann unter Gosch eine das heiter-lustig Komödische wegsteckende, dafür eine schmerzlich entrückte Olivia in „Was ihr wollt“. „Bei Gosch habe ich wirklich begriffen, was Theater sein kann. Da war jede Probe wie Premiere. Keine Schonung. Kräftezehrend. Immer ging's um alles.“

 

Nach Düsseldorf kam Frankfurt (immer gleich große Häuser!). Hier unter Intendant Oliver Reese die Rolle der neunjährigen Isabelle in Bergmans Drama „Treulose“: Ein Kind mit zukunftsfrohem Blick und dennoch – wieder: Durchlässigkeit! – unfroh verschattet. Als ahne das Gör die ihm bevorstehenden Daseinskatastrophen: Familienzerfall, Verlorenheit. „Hat allen den Atem verschlagen“, erinnert Reese. „Danach unter Stephan Kimmig die Lulu. Unvergessen, wie sie da zerbrechlich, halbnackt, erotisch provozierend oder bloß gleichgültig, bloß innerlich längst leer an der dreckigen Hand vom alten Schuft Schigolch fest und starr (stur, tapfer, trotzig?) an der Rampe steht. Und Peter Gabriels schwermütiger Song „My Body is a Cage“ dröhnt in voller Länge. Atemstillstand im Saal. Dazu ihr bestürzend weit aufgerissenes Gesicht...“

 

Ein Antlitz, das den Zuschauer bannt, aber auch Fantasien auslöst (wieder: diese „Durchlässigkeit“). Ein Gesicht, das eine jede Figur reich macht. Romantisch gesagt: ihr wundersam, gar unheimlich Seelentiefe schenkt.

 

 

Veranstaltungshinweis / Parlamentarischer Abend:

Die Bundestagsfraktion der Partei Bündnis 90/Die Grünen lädt am 14. Februar, 19 Uhr, ins Foyer vom Marie-Elisabeth-Lüders-Haus zum Lesetheater SEPTEMBREN von Philippe Malone mit Corinna Harfouch und Kathleen Morgeneyer, Hannes Gwisdek (Sound) und Helge Leiberg (Live-Malerei). – Malones Text beschreibt die Bilder der zerstörten Stadt Aleppo und erzählt dramatische Geschichten von den Menschen, die diesen Krieg aushalten, ihn erleiden müssen. Anmeldung über ak5@gruene-bundestag.de

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