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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 196

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

2. Januar 2017
HEUTE: 1. „Endspiel“ – Berliner Ensemble / 2. „The One“ – Friedrichstadt-Palast / 3. Gregor Gysi trifft Otto Mellies – Deutsches Theater/ 4. Korkenknall

1. Berliner Ensemble - Wilsons Lichtspiele mit Becketts „Endspiel“


Herr Hamm kann nicht stehen; klebt am Rollstuhl, Knecht Clov kann nicht sitzen und läuft immerzu herum; nebenan in zwei Mülltonnen stecken Nagg und Nell, Hamms Eltern, seine „verfluchten Erzeuger“, beide ohne Beine. „Nichts ist komischer als das Unglück“, kommentiert Samuel Beckett beiläufig die vertrackte Lage der Vier, die weder miteinander noch ohneeinander können und gepeitscht werden von der qualvollen Sehnsucht, dass endlich Schluss sei mit diesem Unglücksspiel, das man euphorisch Leben nennt.

 

Aber immerhin: Sie reden! Reden unentwegt mit sich, übereinander oder aneinander vorbei und stecken fest in dieser rhetorischen Endlosschleife. Denn das Unglücksspiel mit dem seltsamen Etikett „Leben“ kreist immerzu um sich selbst ohne Ende. Deshalb der Titel „Endspiel“ für diesen Klassiker des absurden Theaters.

 

Der Amerikaner Robert Wilson (75) hat ihn im BE inszeniert, wo ihm Claus Peymann eine kostspielige Heimstatt gab für sein mit allerhöchstem Aufwand zelebriertes Bildertheater, das er einst in den 1970er Jahren erfand. Seither ist Wilson weltberühmt und gilt als Klassiker einer Schule machenden, streng stilisierten, raffiniert ritualisierten Inszenierungskunst. Zugegeben, mit der Zeit haben sich die magischen Effekte seines artifiziellen Zaubers abgeschliffen; die Kritik entdeckt da eher gigantisches Kunstgewerbe. Dennoch sind seine abstrahierenden Adaptionen großer Stoffe in Starbesetzung und musikalischer Grundierung durch Starkomponisten enorme Kassenerfolge; am BE zum Beispiel „Shakespeare’s Sonette“, „Leonce und Lena“, „Dreigroschenoper“, „Lulu“, „Peter Pan“ „Faust“ mit Musiken von Rufus Wainwright, Lou Reed oder Herbert Grönemeyer (s. Spiralblöcke 128 oder 32).

 

Und jetzt also Becketts „Endspiel“, dessen philosophische Tiraden geschickt eingedampft wurden. Damit ordentlich Platz ist fürs genüssliche Ausbreiten von Wilsons hingebungsvoll gestylten optischen Obsessionen: Die feinen Farbtönungen aus Weiß und Grau mit gelegentlich rosa Tupfer, das zuckende Blendlicht oder das Flirren durch eine auf- und niedergezogene Jalousie. Dazu die wunderbaren, freilich total dressierten Schauspieler wie witzige Aufziehpuppen (Martin Schneider – Hamm, Georgios Tsivanoglou – Clov, Traute Hoess – Nell, Jürgen Holtz – Nagg).

 

Alles brillant ausgetüftelte Form, tolle Theatertechnik. Die aber doch die Abgründe überdeckt, die da gähnen unter der Komik des Unglücks. Die von der Verzweiflung ablenkt, die das so grausam im Leben gefangene und nach Erlösung gierende Quartett quält. Wäre da nicht der große alte Herr des deutschen Schauspiels: Jürgen Holtz. Wie sein zart knirschendes Weiblein Traute Hoess nur mit dem Greisenkopf aus dem Bühnenboden ragend schleudert Holtz mit herunter gezogenen Mundwinkeln, ätzend bärbeißig und bis ins Mark böse krächzender Stimme seinen Daseinsekel heraus. Und lässt dabei tieftraurig doch ahnen, dass wohl auch ihm – ihnen beiden etwas wie Liebe oder Glück einst widerfuhr. Die beseelten, verstörenden, wirklich magischen Momente in diesem von Flimmern, Gleißen, Blitzen, Dämmern überzogenen Endspiel der Eleganz.

(als Einstieg ins neue Jahr wieder 4.-6. Januar)

2. Friedrichstadt-Palast „The One“ - Raus aus dem Alltag und rein in die riesige Gute-Laune-Show-Maschine

Die größte Theaterbühne der Welt, Feuer und Wasser, massenhafter Einsatz von Material, Maschinen, Technik. Dazu Container voller Kostüme eines Weltstars der Mode, ein schmissiges Live-Orchester und Menschen, Menschen, Menschen – mehr als 100 aus 26 Nationen. Darunter die im Showgeschäft weltweit längste Reihe Tänzerinnen. Diese Damenschaft mit sage und schreibe 64 exakt auf- und einklappbaren Beinen mit orthopädisch gerade noch vertretbar Höchsthackigem an den gelenkigen Füßen, das ist unschlagbares Weltniveau, ist Alleinstellungsmerkmal und hochtouriger Gefühlsmotor nicht nur für die Männlichkeit im Publikum des Friedrichstadt-Palastes, der für seine Show „The One“ elf Millionen Euro verbrät, verbraten muss auf seiner Fußballfeld-Bühne. Denn da hat bombastisch was los zu sein. Und die Konkurrenz auf dem übergroßen Markt der Unterhaltungsindustrie ist hart, aber eben auch nicht ohne Ideen. Da muss man origineller sein als alle anderen, muss klotzen mit einem Tsunami an Eskapismus. Aber wer hat schon elf Millionen im Portemonnaie. Und was kann bei diesem Mordsaufwand noch schief gehen in dieser zwischen Fortissimo und Piano, Party-Blitzlicht, Nebelwolken, Lasersternen und romantischer Nachtstimmung fein austarierten Schlacht der Superlative? Nichts!

 

Es hat sich mittlerweile herumgesprochen, selbst bis nach New York (es stand dort in der Zeitung): Las Vegas ist auch in Berlin. Schon jetzt sind, kaum zu glauben, im Vorverkauf sieben der investierten elf Millionen eingespielt. „The One“ läuft bis 2018, da dürfte ein Überschuss drin sein. Risikobereitschaft beim gestylten Gigantismus eines prunkenden Überwältigungstheaters lohnt sich also; Intendant Berndt Schmidt hat alles richtig gemacht.

 

Erst recht war das Engagement von Modezar Jean Paul Gaultier der große (teure) Coup. Gaultier ist der ingeniöse Kerl, der für Madonna das weltbekannt ikonographische Korsett mit den beiden signifikant spitzen Tüten erfand. Und überhaupt berühmt ist für seine kühnen, frechen Spielereien mit sexy Hinguckern, ohne die kein Kostümentwurf je das Atelier verlassen darf.

 

„The One“ ist – bestens geeignet zum Einstieg ins neue Jahr! eine riesige, rockende und schlagernde Gute-Laune-Maschine (Regie: Roland Welke) , eine köstliche Frivolität und also für Jedermann der prima Ausstieg aus dem Räderwerk des Alltags hinein in eine Zauberbude voll verschwenderischer Pracht. Zum Staunen. Das Allererstaunlichste aber, das so noch nie Gesehene, das ist meiner bescheiden lüsternen Meinung nach die besagte so genannte Girl-Reihe. Das atemberaubende Breitwand-Ornament aus Frauenbeinen. Freilich, diese Einzigartigkeit gilt als weithin leuchtendes Markenzeichen des Palastes schon seit Jahrzehnten. Aaaber: Noch nie-nie-nie wurde sie derart kunstvoll zusammengesetzt und wieder auseinandergezogen, mal überkreuz, mal als Welle, mal als Kreis, mal gebeugt oder gestreckt, dann wieder stramm auf Linie, in Slowmotion oder presto, presto, klippklapp. Ein choreografisches Meisterwerk von Alexandra Georgieva. Eine Nummer, die in die Revuetanzgeschichte eingehen dürfte. Unvergesslich. Und allein das ganze Eintrittsgeld wert.

3. Otto Mellies auf einen Sonntag-Vormittag zurück im DT

Als Halbstarker mit 16 Jahren und in kurzen Hosen schlich er sich ins Schweriner Stadttheater zum Vorsprechen bei Lucie Höflich, die hier eine Schauspielschule betrieb. Großer, sogar tränenreicher Auftritt als Ferdinand („Kabale und Liebe“); die Höflich war gerührt vom kniefrei jugendlichen Helden. Und Otto Mellies ab sofort Student. Nach mehreren Kurz-Engagements in der Provinz holte Wolfgang Langhoff 1956 den Mittzwanziger ans Deutsche Theater. Dort feierte er 2006 sein goldenes Bühnenjubiläum. Mit Lessings Nathan, den er bis dato in 18 Jahren 325 Mal gespielt hatte. Inzwischen gehört Otto Mellies zu den ältesten DT-Veteranen, die unter uns sind – neben Inge Keller, die einst noch vor ihm antrat in der Schumannstraße.

 

Otto Mellies, ein stattlicher Kerl, ein grandioser Charakterdarsteller (natürlich auch in Film und TV), ist unglaublich wandlungsfähig. Eigentlich konnte er alles: Das Sensibelchen und den Herrn, den Macho, Liebhaber, Verführer, Gangster, den Tragiker, Zyniker, Komiker – und den Klassiker. In den vielen Klassiker-Produktionen des DT war Mellies mit dem tiefen, dunkel getönten, sexy Unverwechselbar-Organ eine Zentralfigur (und im Film die Synchronstimme von u.a. Paul Newman, Christopher Lee, Sean Connery).

 

Mellies, aus kleinbürgerlichen Verhältnissen in Pommern stammend, ist seit Ewigkeiten verheiratet mit einer Sopranistin, hat zwei Kinder, drei Enkel und wohnt in Grünau. Am 19. Januar feiert er seinen 86. Geburtstag. Ein paar Tage zuvor, nämlich am 8. Januar, ist er mal wieder dort, wo er einst ein Halbjahrhundert zu Hause war: Im DT um 11 Uhr zur Matinee. Mellies‘ Rückkehr (nunmehr gewiss in langen Hosen) auf die Bühne – für ein Plauderstündchen mit Gregor Gysi. Ein Ereignis!

(8. Januar, 11 Uhr)

4. Korkenknall

„Man bleibt nur gut, wenn man vergisst.“ Friedrich Nietzsche. Prost Neujahr!

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