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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 190

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

21. November 2016
HEUTE: 1. „Frau Luna“ – Tipi am Kanzleramt / 2. Tipp für Seltenes: Klassik-Balladen Theater im Palais / 3. „Untergang des Egosisten Johann Fatzer“ – Kammerspiele des Deutschen Theaters

1. Tipi - Prosit mit Pulle Bier aufs neue Berliner Luna-Kindl!


Anno 1994, lang-lang ist’s her, da gab’s im kuscheligen Spiegelzelt von Lutz Deisinger und Holger Klotzbach, dem fabelhaften Unterschlupf der Bar jeder Vernunft, Ralph Benatzkys berlinernden Singspiel-Jux „Im Weißen Rössl“. Ein Überraschungs-Coup! Er wurde im Handumdrehen zum großen Kultstück des Hauptstadt-Entertainments – unvergessen mit Walter Schmidinger, Gerd Wameling, Otto Sander, Max Raabe, Meret Becker und – auf der Startrampe ihres Ruhms mit den Geschwistern Pfister. Längst Legende…

 

Und jetzt gibt‘s, daran anknüpfend (Klamotte, Stars und super Musike), doch nunmehr im weiten Rund von Deisinger-Klotzbachs Tipi-Zelt, Paul Linckes „Frau Luna“ . Die piefkehaft kalauernde Berlin-Burleske über fantasiebegabter kleiner Leute Mondfahrt, die der sagenhafte Paule mit seiner genialen Parade der (Berlin-)Hits in die Berliner Luft, Luft, Luft warf, hinauf bis in die Unsterblichkeit.

 

Vor drei Jahren trieb Herbert Fritsch, unser Großmeister fürs absurd Aberwitzige, den Lincke-Klassiker an der Volksbühne nahezu in den totalen Nonsens. Da ist man diesmal unter Regie von Bernd Mottl deutlich braver, kompatibler für den Massentourismus in Reichstagnähe. Doch das kompositorische Meisterwerk ist unkaputtbar wie seine schlichte Story mit der immergrünen Daseinsregel, nach der es bei Muttern daheim in der Miets-Mansarde allemal besser ist als bei einer schicken Lady weit draußen oben im Mond. So erfreut man sich denn unermüdlich an den komischen, freilich familientauglichen Fremdgeh-Versuchen und artig erotischen Abenteuerlichkeiten nebst - Augenschmaus! Ballett-Einlagen.

 

Die wilhelminische Fantasy-Chose, auf sämtlichen medialen Kanälen übereifrig schon Wochen vor der Premiere annonciert (man spielt schließlich durch bis Ende Januar), ist heute kein Coup mehr. Auch wenn wieder die Pfisters dabei sind und die gefühlt komplette Kreuzberg-Charlottenburger Kleinkunstszene hopst und trällert was das Zeug hält. Deshalb hier endlich die gesamte Promi-Liste: Die Geschwister Pfister (Andreja Schneider echt klasse in der Titelrolle, Christoph Marti als mühselig kleinkarierte Tunte Pusebach und Johannes Roloff diesmal als exquisiter musikalischer Leiter); dann weiter Gustav Peter Wöhler, Benedikt Eichhorn, Thomas Pigor, Cora Frost, Gert Thumser, Max Gertsch, Ades Zabel, Sharon Brauner und Anna Maria Scholz. Diese sächselnde Anna Maria aus Dresden ist die umwerfende Komödiantin mit einer Riesenröhre zum kräftig Töne schmettern. Eine echte Neuentdeckung für Berlin, dabei hat sie bereits drei renommierte Kunstpreise kassiert, einen davon in Salzburg. Barrie Kosky bitte hinschauen und hinhören! Ach, und dann gibt es noch die neun zauberischen, neun tollen, neun klassisch durchtrainierten sexy Mondelfen (Choreographie Christoper Toelle).

 

Inszeniert hat die Traumreise eines Kollektivs von peinlich holpernd Berlinernden (alles Zugereiste) auf des Weibes Mond ein Großer der Brettl-Kunst: Bernd Mottl. Handwerklich ist selbstverständlich alles ganz in Ordnung; aber doch: Andernorts hat mich dieser im eher Abwegigen so herrlich bewährte Regisseur deutlich mehr begeistert. Dafür prunkt die Ausstattung von Friedrich Eggert (Szene) und Heike Seidler (Kostüme) sehr schön im Glamour. Heinz Bolten-Baeckers sorgt mit seiner unaufgeregt kalauernden Textfassung für ordentlich Lacher. Schade nur, dass die feine, ja geradezu elegante Orchestrierung immerzu überlappt wurde durchs Humpta-Humpta-Geklatsche eines übertrieben enthusiasmierten Publikums.

 

Apropos übertrieben: So wahnsinnig doll wie erhofft war es eben nicht Aber sehr nett. Und gemütlich bierschäumend; sozusagen Molle mit Korn. Das gilt ja längst als originäres Berlin-Berlin. – So rufen wir denn launig ein von Rülpsern freies Prosit hinaus in die Welt auf unser neues Urberliner Lincke-Luna-Kindl!

(Bis zum 29. Januar 2017.)

2. Tipp fürs TiP - „Wer reitet so spät…“ Sex and Crime im Reim

Lang ist’s her, als im dafür zuständigen Deutschen Theater die Balladen unserer Klassiker rezitiert wurden. Zuletzt, ich erinnere mich dankbar, tat es der wunderbare Ullrich Matthes mit Schiller; und sogar die Kanzlerin ließ sich das Ereignis nicht nehmen und saß mit Familie seltsamerweise neben mir, da ich offenbar und wohl zu Recht kein Sicherheitsrisiko bin.

 

Also nun endlich mal wieder „Walle, walle, manche Strecke…“ Diesmal im Theater im Palais am Kastanienwäldchen Unter den Linden. Viele der Verse sind geflügelte Worte, und viele wissen schon nicht mehr, wer ihnen die Flügel gab. Unsere Klassiker – und nicht allein nur die. Wie schön, dass man das, was man eigentlich schon immer mal lesen wollte, nicht lesen muss. Man darf getrost zuhören! Sich einfach den tollen Texten, den verrückten, spannenden, romantischen, auch blutigen Dramen in Versform hingeben. Was für ein Erlebnis! Deutsche Balladen im dramatischen Vortrag – mittlerweile eine Rarität. Eine Kostbarkeit. Heike Jonka, Jens-Uwe Bogadke und Carl-Martin Spengler servieren sie, mit jeweils entsprechenden Untertönen vom Klavier (die Pianistin Ute Falkenau), auf dem pässlichen Tablett aus Gold und aus Eisen, mithin so glanzvoll wie rostig. Schließlich ist in dieser Dichtung aller Menschen Größe und Elend komprimiert – eben verdichtet zum grandiosen Sprachkunstwerk. Eine Preziose, eine theatralische Seltenheit (leider!), die man sich nicht entgehen lassen sollte.

(Wieder am 29. November, 19.30 Uhr)

3. DT-Kammer - Tolles Text-Puzzle als flirrende Lehrstück-Show

Ein Konvolut aus einem halben Tausend loser Blätter mit Szenen, Aphorismen, Notizen, Kommentaren, Chören und sogar Zeichnungen, das sind die „Fatzer“ - Fragmente, die sich zwischen 1926 bis 1930 angesammelt haben. Bertolt Brecht werkelte (bis er es resigniert beiseitelegte) geradezu verbissen am Drama vom „Untergang des Egoisten Johannes Fatzer“ , eines kraftstrotzenden Feuerkopfs, der als Soldat im Ersten Weltkrieg mit drei Kameraden desertiert. Die vier Illegalen, dem Blutbad entronnen, tauchen in Mülheim in der Wohnung bei der Frau des einen unter, warten dort vergeblich und in jeder Hinsicht des Lebens ausgehungert auf ihren Auftritt als Umstürzler einer moralisch total verkommenen Welt. Doch die Revolution kommt nicht! Das Kollektiv der Weltverbesserer versinkt in seinem elenden Außenseitertum. Der egomanische Anführer Fatzer lässt es schließlich in schwerer Not im Stich. Die drei übrigen liquidieren ihn als Abweichler, Verräter, Radikalinski, als individualistischen Schädling.

 

Es geht also, ganz großes Thema, um die Änderung der misslichen Weltverhältnisse und die dafür ungeeignete, grundsätzlich missliche Konstitution des Menschen: nämlich sein auf sofortige Befriedigung zielendes Ego. Brecht sagt es kurz an anderer Stelle in dem genialen Vierzeiler: „Dauerten wir unendlich / So wandelte sich alles / Da wir aber endlich sind / Bleibt vieles beim alten.“

 

Immerhin: Er sagt „vieles“, nicht „alles“ – und dazwischen steckt die Hoffnung. Er scheiterte daran, diesen Unterschied zwischen Vieles und Alles im „Fatzer“ wie auch immer deutlich zu machen. Die Ideen gehen halt traurigerweise an den Realitäten zugrunde. B.B. äußert sich so über sein Fragment: „Die „Zertrümmerung der Anschauungen durch die Verhältnisse“. Der Fatalismus der „lähmenden Geschichte“ triumphiert in der „Fatzer“- Geschichte. Was die totale Absage an kommunistische Dogmen bedeutet. Dabei dachte auch Brecht kommunistisch, stand der KPD sehr nahe… Das klassische Dilemma, die seit jeher unendliche Tragödie. Also blieb „Fatzer“ rücksichtsvoll fragmentarisch; unvollendet in der Schublade.

 

Doch was für ein Fragment! Heiner Müller, der eine, seine Stück-Fassung daraus machte, die den abgrundtiefen Pessimismus grell zynisch ausleuchtet, nannte „Fatzer“ ein Jahrhundertstück. Er hat Recht. Die poetische Kraft, die Wortgewalt dieser Textsammlung ist geradezu unheimlich. Das ist ganz große Dichtung; womöglich tatsächlich ein Jahrhundert-Gedicht. Es in neun Szenen auf die Bühne gebracht zu haben bleibt das bewundernswerte Verdienst des Regie-Duos Tom Kühnel & Jürgen Kuttner.

 

Dabei nutzen die beiden Brechts Theorie vom Lehrstück, das Publikums-Mitmache, Video-Einspieler, Karaoke, Comic, Singsang, Kabarett einschließt. Das Lehrstück sozusagen als Performance-Rummel. In jeder Vorstellung dürfen die Zuschauer (als Vorspiel, von Spielmeister Kuttner berlinernd moderiert) die Reihenfolge der Szenen von eins bis acht neu auslosen. Nummer neun bleibt immer der Schluss: Die Hinrichtung Fatzers (keine Disziplin) durch das Kollektiv (Partei).

 

Zwischendurch ist das Publikum angehalten, das Geschehen durch zuvor etwas aufwändig eingeübte Zwischenrufe zu kommentieren oder, etwa die chorischen Passagen, selbst einzusprechen der Text läuft über Schriftband. Das nervt zwar gelegentlich und erschwert die Verständlichkeit des Geschehens, macht aber den Zweieinhalbstunden-Abend locker. Unterstreicht das souverän Diskurshafte der Veranstaltung, macht deren eisern pessimistische Last erträglich.

 

Das Spielkollektiv mit Bernd Stempel, Alexander Khuon, Edgar Eckert, Natali Seelig rezitiert Brecht lakonisch, nüchtern, komisch oder eben eindringlichst todernst, derweil Andreas Döhler mit körperlichem Großeinsatz die kerlig-wilde Sau Fatzer raus lässt.

 

Das Fazit dieses „Fatzers“: Eine Reihung wahrlich überwältigender Texte als artistisch aufbereitetes, wundersam-befremdliches (ein Blick zuvor auf den Programmzettel erleichtert das Assoziieren des Plots), zugleich aber faszinierendes, philosophisch weit greifendes, freilich gallebitter getöntes Unterhaltungstheater von Momenten alberner Überdrehtheit abgesehen. Mit einem mal einschmeichelnden, mal ätzenden, mal hart schlagenden Soundtrack durchs hinreißende Musiker-Duo „Ornament und Verbrechen“ – ein echt cooler, brechtgefälliger Name.

 

Vielleicht ist das alles eine nicht unbedingt massentaugliche Show. Dafür aber eine mit Aussicht auf -- Kult für Freunde und Feinde des großen Rauchers; der hockt als Ganzkörperskulptur aus Plastik auf der von Jo Schramm mit Devotionalien diverser Brecht-Klassiker überflüssig aufwändig vollgestellten Bühne (u.a. der Galgen aus „Dreigroschenoper“, der Wagen der Courage). Womöglich aber kommen sogar die Brecht-Gegner am bösen Ende arg ins Grübeln.

(wieder am 22., 23. November, 17., 18., 29., 30. Dezember)

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