Kleinstadtmief, alte fette Nazis in neuen fetten Nestern, der von den Eltern bevorzugte kleine Bruder, die kranke Mama, die doofen Ansagen im Beichtstuhl, die nervige Fürsorge der Caritas-Tante, die langen Haare, die Beatles, die Stones, die erste Freundin, die schweren Ängste, die großen Ungerechtigkeiten, die verrückten Fantasien – ein namenlos gebliebener superschlauer Überflieger im Westdeutschland der 1960er Jahre hat es mit seinen gut dreizehn Lenzen wahrlich nicht leicht mit sich und seiner Pubertät und seiner Heimat im Hessischen. Womöglich sind es solcherart Daseinsprobleme, die zur Gründung der RAF führten, als deren Erfinder sich der pickelige Pubertätling in seinen tollen, wahnhaften Fantasien sieht.
Frank Witzel, Jahrgang 1955, hat mit seinem weit schweifenden, phantastisch irrlichternden, aber auch vertrackt verschachtelten 800-Seiten-Roman „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ Privat-Alltägliches mit (Pop-) Kulturellem und Politischem aberwitzig verquickt und erzählt so, teils ziemlich berührend, teils deftig humorvoll vom verstörenden Erwachen der alten Bundesrepublik aus dem Schweldunst der deutsch-braunen Vergangenheit. Dafür erhielt er 2015 den Deutschen Buchpreis. Die Jury urteilte trefflich: Der jetzt 60 Jahre alte Autor (der seit seinem 45. Lebensjahr an seinem überbordend assoziativreichen Romankonstrukt werkelte) habe einen „spekulativen Realismus“ verfasst.
In einer Koproduktion der Schaubühne Berlin mit dem Schauspiel Stuttgart hat sich dessen Chef Armin Petras des literarischen Rundumblicks auf die „alte BRD“ angenommen; nachdem er zwei Jahre zuvor das – so seine Meinung – ostdeutsche Gegenstück inszenierte. Nämlich Christa Wolfs Roman über die „Anfänge“ der DDR „Der geteilte Himmel“, der allerdings in der Zeit vor und nach dem Mauerbau 1961 spielt (s. Spiral-Block 114 vom 19. Januar 2015).
Mit Witzels monumentalem Erzähl-Kaleidoskop ist Regisseur Petras in 140 Minuten fertig. Er schnappt sich ein paar kernige Motive und betreibt ansonsten flott unterhaltsam anekdotische Stimmungsmalerei mit kabarettistischem Einschlag. Macht gelegentlich Spaß, was aufs Konto des launigen, gern auch vehement kindertümelnden Ensembles geht. Ist aber letztlich ziemlich platt. Gefühliges Oberflächen-Entertainment, das allerhand hervorzupft, jedoch nichts wirklich anfasst. Oder gar anpackt. Die so dahin wabernde Veranstaltung lässt unberührt und bleibt weit entfernt von einem schlüssigen Epochenbild, das der formidable Autor entwirft. Allein die Schuljungen-Rockband „Die Nerven“ sorgt zwischendurch für Krach (für allzu empfindsame Ohrmuscheln werden – haha! schalldämpfende Stöpsel verteilt). Wenigstens die Bühnenbildnerin Katrin Brack setzt ein starkes Sinnbild, indem sie drei Dutzend Schaufensterpuppen mit Klamotten im Look der 1960er Jahre aufstellt. So wie in dem Kaufhaus, das einst die RAF abfackelte. Oder wie überhaupt die vermeintlich so erstarrte, verpuppte BRD-Wohlstandsgesellschaft anno 1969.
(wieder am 29. Mai; 3., 4. Juli)
Dicke Luft in Öderland. Es gärt im Volk, es motzt: Scheiß Leben, scheiß Regierung, scheiß Staat. Sogar der Staatsanwalt ist gefrustet, schmeißt hin, steigt aus mit einer Axt, hackt sich in die Revolte und findet rasch Gefolgschaft. „Herrlich sind wir und frei!“, schreien sie und stürzen, wild das Beilchen schwingend, ins Chaos. Aber ohne Ordnung kein Leben. Wird nun der Anarcho-Jurist Graf Öderland mit der Axt im Anschlag der neue Machthaber, fragt Max Frisch in seiner zugegeben arg kopfig ertüftelten Moritat „Graf Öderland“ .
Das holprige Ding über die Dialektik von Freiheit und Verantwortung von 1951 wurde kein Hit, sondern eingelagert. Regisseur Volker Lösch hat’s fürs Sächsische Staatsschauspiel ausgegraben, versehen mit dem so segensreichen, just aber gerade von „besorgten Bürgern“ in Dresden neu und fluchbeladen herausgebrüllten Motto „Wir sind das Volk“ als Zweittitel – und der ist das Konzept der Show.
Volker Lösch ist der große Schocker unter unseren Spielmeistern, der mit geradezu teuflischer Lust ästhetische Mauern nieder- und alte Stücke aufreißt, um sie vollzustopfen mit möglichst entsetzlichen, zumindest höchst fragwürdigen, aber auch traurigen oder gar tragischen Dokumenten, die er nach fleißiger Feldforschung im Sozialen, Politischen und Moralischen zusammen mit Dramaturgen aus der akuten (nicht nur lokalen) Realität gefiltert hat. Um das Authentische noch zu steigern, lässt er das Kompendium vox populi von einem Laienensemble chorisch von der Rampe schleudern. Denn: Löschs journalistisch geprägtes Aus-, Auf- und Anschrei-Theater soll das Publikum vom Hocker und in den kritischen Diskurs mit sich und seinen Wirklichkeiten stürzen.
Dresden mit seiner schönheitstrunkenen Fassade, hinter der zynischer Demokratie-Abbau und hasserfüllter Feindbildaufbau schwelen, bietet für solcherart Polittheater eine Steilvorlage. Pegida hat das weltberühmte, mit Kunst vollgestopfte Elbflorenz weltberüchtigt gemacht. Und der tollkühne Lösch stellt jetzt das faschistoide Öderland als politikverachtendes, lebensunzufriedenes, fremdenhassendes und zukunftsverängstigtes Pegida-Elbödland rigoros bloß. Doch nicht nur das. Regie und Dramaturgie waren klug genug, mit dokumentierten Aussagen aus der schweigenden, politisch sich wegduckenden, heimlich wutbürgerlichen Mehrheit aufzudecken, was da so an Ressentiment, Angst, Aggression, Hass und Neid herum spukt in den wohlfrisierten Köpfen aller Schichten, Lager, Milieus der Gesellschaft angesichts einer in CDU-SPD-Berlin wie CDU-Dresden diffusen Regierungspolitik, die allzu viele sorgenumwölkte Fragen an die Zukunft feig beiseiteschiebt. Lösch liefert – weit ausholend ein Zustandsbild von deutschem Geist und Politkverständnis, deutscher Seele und Moral, dass einem angst und bange wird um den Bestand der Demokratie. Viel Stoff zu nachhaltigem Nachdenken, bravourös geformt im wilden Wechsel zwischen rasender Farce, greller Groteske und gellendem Kabarett.
Zum Finale noch ein wuchtiges Menetekel: In der dicken braunen Luft von Öderelbeland eskaliert die Wutbewegung zum Bürgerkrieg. Stehende Ovationen. Dazu die Wutworte von der Rampe: Klatscht Euch bloß nicht frei von Verantwortlichkeit! Forscht nach dem korrekt verdrängten Fascho in Euch selbst! Werdet wachsam! Soviel Imperativ, soviel Agitprop muss mal sein. Von hehrer Kunst hat Dresden allemal im Übermaß, von Zivilcourage eher nicht.
(Eine der brisantesten Inszenierungen der Saison: Am 4. Juni, 18 Uhr, im DT.)
1. Staatsballett Berlin Fremd bin ich
2. Deutsches Theater In einem kranken Haus
3. Maxim Gorki Theater Armenien: Zukunft ungewiss
1. Komische Oper Requiem für einen Lebemann
2. Kriminal Theater Rettung durch Mord?
3. Hans Otto Theater Triumph des Scheiterns
1. Theater an der Parkaue Ionesco weitergedacht
2. Berliner Ensemble Auf der Strecke geblieben
3. Kabarett-Theater Distel Wo man singt
1. Deutsches Theater Sei ein Mensch
2. Distel Lachen ist gesund
Stiftung Stadtmuseum Berlin Geschichte und Erinnern
1. Berliner Ensemble Was Covid mit den Menschen machte
2. Gorki Das Monster in uns
3. Staatsoper Gedämpfte Freude am Belcanto
1. Deutsches Theater Disruption und Wohlfühlwimpel
2. Theater im Palais Terzett mit Paul Linke, Dorothy Parker und Marlene Dietrich
3. Schaubühne Dreier in der Schlacht auf der Couch