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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 169

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

18. April 2016
HEUTE: 1. „Die wilden Weiber von Neukölln“ – BKA-Theater / 2. Erich Kästner wieder im Theater im Palais und – dicker Tipp! Erich Kästner in einem Buch von Michael Bienert / 3. Shakespeare-Memory im BE zu Williams 400. Todestag

1. Berliner Kabarett-Anstalt


Brigitte, Edith und Jutta sind ein Damen-Trio handfester Bauart. Sie bevorzugen ein herzhaftes Getränk namens „Futschi“ – korrekt im Verhältnis 80 zu 20 gemischt aus Cola und Weinbrand, je nach Stimmungslage und Tageszeit bescheidene 20 oder forsche 80 Prozent vom Gebrannten. Wie auch immer man mixt, man muss gestärkt sein für den Überlebenskampf in Nord-Neukölln. Da sollten Betonfrisur-Perücke wie BH fest sitzen, die Röcke ungeniert kurz, die Hochhackigen extrem high sein und die Klappe riesengroß. Dann klappt’s auch (halbwegs) mit den Nachbarn sowie der Selbstbehauptung als Hardcore-Individualistinnen in der rauen Gegend am Hermannplatz. Und das gelingt der Hartz-IV-Königin Edith Schröder (Ades Zabel), der Kneiperin Jutta Hartmann vom „Jutta’s Inn“ (Bob Schneider) sowie der Leggins-Boutique-Besitzerin Brigitte Wuttke (Biggy van Blond) nun schon seit – kaum zu fassen! – mehreren Jahrzehnten. Denn derart unverschämt lange schon tobt und tänzelt und stöckelt, säuft und singt, brüllt, heult und tuntet sich dieses unkaputtbare Emanzen-Trio über die Runden und durch die Zeiten. Aber jetzt ist einiges anders: Neukölln ist in und Liebling Buschkowsky nicht mehr im Amt. Smartphone-Hipster, Soja-Latte-Muttis und vegane Blogger bestimmen den Ton im Kiez, das Damen-Trio fühlt sich out und in jeder Hinsicht abgehangen. Doch da wird nicht lange gefackelt und umgebaut: Juttas Kneipe wird zur Lounge mit Vintage-Verkauf für Ediths Lieblings-Sperrmüll aus der Jugendzeit mit angeschlossenem Strumpf-Store für Brigittes Beinkleider. Und alle drei Alt-Neuköllnerinnen versuchen sich als Neu-Neuköllner Hipsteretten – nicht ganz einfach, wovon sie in ihrer neuen Show „Wilde Weiber in Neukölln“ die verrücktesten Geschichtchen erzählen und zwischendurch eifrig populäres Liedgut schmettern – die Nord-Neukölln-Show…

 

Was die drei Herren da treiben unter dem Kult-Label Zabel & Co., ist ordentlich unkorrektes Volkstheater. Ist quasi die deutlich Entertainment-gestützte Ergänzung der gleichfalls saftigen und kultigen und überhaupt nicht zimperlichen Sitcom „Gutes Wedding, schlechtes Wedding“ vom Prime Time Theater in der Müllerstraße (oder die mehr theatrigen Primetimer sind die Ergänzung der mehr revuehaften Zabels). Und wie die Weddinger lauschen aber auch die Neuköllner mit ihren gewöhnungsbedürftig schrägen Figuren ungeniert und sehr genau in des Volkes Ur- und Abgrund, fassen das dort Aufgeschnappte in gewitzt pointierte Texte voller Rotzigkeit nebst ein paar weggesteckten Gefühlstränchen. Regisseur Bernd Mottl inszeniert die rasende, mit klasse Video-Einspielern garnierte Chose, die schon wie ein Berlin-Musical klingt, mit Perfektion und feinem Sinn fürs Grobe. Das dann in seinen gezielten Auswüchsen ins Geschmacklose doch wieder herrlich herzhaft schmeckt.

 

Ja, es wird übel - aber auch immer wieder geistreich - gewitzelt und gesketcht. Disco-Knüller krachen. Geschwoft wird bis die Absätze knicken. Wild eben. Und gelegentlich sentimental, von Weibern eben. Großer Spaß! Einiges gelernt; noch mehr gelacht, auch unter Niveau, aber nie bereut.

(wieder am 20., 22.-24. April, 4.-8. Mai)

2. Erich Kästner endlich wieder im Theater im Palais. Dazu das Buch von Michael Bienert „Kästner in Berlin“ als super Lese-und-Fotos-Gucken-Tipp

„Er glaubt an den gesunden Menschenverstand wie an ein Wunder, und so wäre alles gut und schön, wenn er an Wunder glaubte, doch eben das verbietet ihm der gesunde Menschenverstand. Es steckt jeder in seiner eigenen Zwickmühle“, sagte Erich Kästner über Erich Kästner (1899-1974), diesen so überaus fleißigen, vielseitigen Feuilletonisten, Dramatiker, (Kinder-)Bücher-, Sketche- und Gedichte-Schreiber, der mit massig Humor, Menschenliebe und Lebensweisheit („Es gibt nichts Gutes, außer, man tut es!“) unermüdlich gegen die Trägheit der Herzen und die Unbelehrbarkeit der Köpfe ritt. Würde man versuchen, so Kästner, sein Schreiben sinnbildlich zu fassen, käme ein Strauß heraus der aussähe „wie ein Gebinde aus Gänseblümchen, Orchideen, sauren Gurken, Schwertlilien, Makkaroni, Schnürsenkeln und Bleistiften“.

 

Einem solch bizarren Gebilde gleicht tatsächlich der feine Erich-Kästner-Abend „Das Glück ist keine Dauerwurst“ mit Gabriele Streichhahn und Carl-Martin Spengler im Theater im Palais (Leitung: Barbara Abend). Er ist voller Witz und Lebensklugheit, macht auf ganz unaufdringliche Art nachdenklich, aber letztlich auch glücklich und herzensfroh. Kästner frisch und erfrischend, seine Texte wie soeben geschrieben für den Tag, auch wenn sie nun schon gut acht Jahrzehnte alt sind. Besonders gegenwärtig seine Berliner Beobachtungen. Da nimmt er den Großstadtbetrieb aufs Korn, lästert über Starfriseure, Prominenten-Kochshows, gastronomische Edelbetriebe oder avanciertes Theater, das keiner versteht, aber jeder beklatscht. Alles wie heutzutage. Man sollte seiner Seele Balsam geben, den Kopf durchlüften, das Herz aufpolieren und zu Kästner gehen. Herrlich! Auch durch die feinen Zwischenspiele von Ute Falkenau am Pianoforte mit Schostakowitschs mal ungestüm, mal melancholisch kreisendem „Karussell der Tänze“. – Jetzt endlich wieder nach längerer Zeit am 26. April um 20 Uhr im Theater im Palais Unter den Linden, am Kastanienwäldchen. Passt prima in die Jubiläumsspielzeit (25 Jahre!) dieses aparten Berliner Salontheaters. Nicht versäumen!

 

Einst haben die Kerls auf den Bäumen gehockt,

behaart und mit böser Visage.

Dann hat man sie aus dem Urwald gelockt,

und die Welt asphaltiert und aufgestockt,

bis zur dreißigsten Etage.

 

Da saßen sie nun, den Flöhen entflohn,

in zentralgeheizten Räumen.

Da sitzen sie nun am Telefon.

Und es herrscht noch genau derselbe Ton

wie seinerzeit auf den Bäumen…

 

Herrlich gekästnert! Dazu gibt es auch ein sehr unterhaltsam geschriebenes, akribisch recherchiertes, mit frappierendem Bildmaterial reich illustriertes Kästner-Buch des Berliner Literaturwissenschaftlers (und originellen Stadtführers) Michael Bienert. Er ist ein profunder Fährtensucher, der bereits den Berliner Spuren von Schiller oder Brecht nachspürte und dabei – wie jetzt wieder bei Kästner das Historische in Bezug setzt zum Heute, was seine Erforschungen besonders aufregend, aber auch so überraschend macht. Man lernt viel über das Gesicht Berlins vor dem Zweiten Weltkrieg (und danach, diverse Aufnahmen „vorher“ und „nachher“ nebeneinander gestellt, dazu entsprechende Auszüge aus Stadtplänen). Die sich daraus ablesenden Verluste, nicht nur im Menschlichen, bestürzen immer wieder…

 

Kästner, gebürtige Dresdner, der Mitte Dreißig berühmt und zugleich verboten und verbrannt war, sinnbildlich von den Nazis auf dem Opernplatz, wo man seine Bücher ins Feuer warf; dieser elegant wohlhabende Herr und Frauenverführer blieb dennoch in der Stadt, wohnte zwischen 1927 bis 1945 (!) in Wilmersdorf nahe Kudamm. Später übersiedelte er nicht zurück ins zerbombte, russisch besetzte Dresden (dort gibt es ein kleines Kästner-Museum am Albertplatz), sondern nach München.

 

Bienerts stadt-, kultur- und literaturgeschichtlich so außerordentlich spannender Text-Bild-Band beschreibt die Berliner Vorkriegsbohème in ihrem Alltag (Romanisches Cafe, Schwannekes Weinstuben), den rasenden Kulturbetrieb, listet Kästners Privatgeschichten und seine Domizile auf (Fotos, Grundrisse) sowie die Kieze, in denen seine Geschichten und Feuilletons spielen.

(M. Bienert: Kästners Berlin. Literarische Schauplätze. Verlag für Berlin und Brandenburg, 160 Seiten, 24,99 Euro)

3. Zu Williams 400. Todestag - Shakespeare Memory im BE. Dazu der Lesetipp

Vor einem Jahrzehnt hatte Claus Peymanns (nicht unumstrittene) Inszenierung von Shakespeares Königsdrama „Richard II.“ Premiere; zum Todestag des Autors am 23. April ist sie jetzt noch einmal im BE (eine Zusammenarbeit mit dem Burgtheater Wien) in ihrer Starbesetzung zu sehen. Im Anschluss gibt es ein „Fest im Hof“; Ehrengast ist der britische Botschafter. Dazu Gesänge aus der BE-Produktion „Shakespeare’s Sonette“. Zum Fest bei Regen im Foyer ist der Eintritt frei nebst Getränk(en).

Über Peymanns „Richard II.“: Er ist größter Schurke und Schöngeist zugleich, dieser verdammte Richard. Dieser selbstverliebte Renaissancedandy und niederträchtige Reichsruinierer, dieses Unglück Englands, das weg muss und mit seiner Entthronisierung zum melancholischen Philosophen wird, der die Moderne und allen künftigen Singsang vom Verhängnis des Menschen Einsamkeit!, Tod! poetisch vereinnahmt. Schauspieler Michael Maertens in der Titelrolle ist kein entfernter Verwandter Hamlets oder Richard III. Er kommt flapsig als schicker Entertainer daher, der die bildstarke Poesie und dabei frappierend gegenwärtige Lakonie der Sprache Thomas Braschs souverän zelebriert.

Dahinter steckt Peymann, der sein bestes Pferd im Stall in eine flotte böse Nichts-geht-mehr-Show schickt statt in eine Tragödie. Dahinter steckt wohl der notorisch aufklärerische Impetus eines „politischen Regisseurs“, der immerzu das Finale eines Endspiels behauptet: Regieren nämlich sei nichts anderes als kontinuierlicher Mord und Totschlag. Und Richard fungiert als dessen witziger, zuweilen zynischer oder trauriger, immer aber eloquent triumphierender Kommentator. So gesehen erfüllt sich Polgars Bemerkung über Richard vom „Sturz in die Tiefe hinauf“. Nur bleibt die Fallhöhe uninszeniert. Bleiben die Gegenspieler des starken Protagonisten schwach und blass. Sonderlich Bolingbroke, der Richard zum Herausrücken seiner Krone zwingt. Veit Schubert, der immerhin auch ein Rächer unverschämt Enterbter ist, mimt einen bloß kleinkarierten Emporkömmling. Und Manfred Karge als Herzog von York wurstelt sich als opportunistischer Beamter mit gestapogleicher Gier auf Menschenvernichtung sowie fieser Fistelstimme durchs Stück. Das wird ansonsten bevölkert von grimmig dreinschauenden Kriegern und widerlich schleimenden Höflingen. Nichts zwischenmenschlich Ernstzunehmendes wird da gestattet. Nur Kreischen und Zetern, in Ohnmacht oder auf die Knie fallen. Langweilig. Und das bei einem Stück, das bei allem wundersamen Geheimnis um seine Titelfigur doch immerhin eminent politische Fragen stellt. Etwa, wie weit Widerstand gegen eine gesetzesbrecherische Regierung gehen darf, um im Recht zu bleiben. Aber auch das Bühnenbild von Achim Freyer, ein horizonthoher Pappkarton mit aufklappbaren Fenstern, verführt zur Eintönigkeit: Klappe auf, Auftritt, Abgang, Klappe zu. Doch der Karton ist abwaschbar für das notwendige Quantum Action. Erst wird aus dem Off gegen Richard mit Lehm geschmissen, dann spritzt Bolingbroke als neuer Saubermann den Dreck weg. Mit kräftigem Wasserstrahl. Huch, da wird’s aber nass.

 

Büchertipp

Wer immer nach den ersten und letzten Dingen fragt, mag Antworten darauf bei Shakespeare finden, denn außer in der Bibel scheint nirgends sonst das Angebot an Welt- und Sinnzusammenhängen reicher. Nach Gott, so sagte es Alexandre Dumas, habe W.S. am meisten erschaffen. – Ein sehr handlicher, bestens lesbarer Einstieg in den Kosmos des großen Elisabethaners ist der 600-Seiten-Wälzer „Shakespeares Welt“ von Isaac Asimov. Da steht alles drin, was man wissen muss, um den englischen Riesen sagen wir einigermaßen zu verstehen. Dazu die fein anschauliche Auflistung der historischen, mythologischen und literarischen Bezüge von Williams wichtigsten Werken.

 

Asimov ist studierter Biochemiker und erfolgreicher Sachbuchautor, richtig berühmt und höchst geehrt wurde er jedoch erstaunlicherweise als Science-Fiction-Autor; bezüglich Shakespeare ist der Mann, geboren 1920 in Russland, gestorben 1992 in New York, ein Seiteneinsteiger. Und die können bekanntlich meist trefflicher und amüsanter erzählen als die (frech gesagt) hoch gelehrten Fachidioten.

(Im Alexander Verlag Berlin, 34,90 Euro – auch gut für später in den Sommerferien…)

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