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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 422

Kulturvolk Blog | Sibylle Marx

von Sibylle Marx

9. Januar 2023

Heute: Deutsches Theater – „Das Himmelszelt“ / 2. Schlosspark Theater – „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ / 3. Vagantenbühne – „Gelbes Gold“

1. Deutsches Theater - Geballte Frauenpower

"Das Himmelszelt" / Ensemble © Arno Declair

Das ist ein Theaterabend, wie er nicht (mehr) oft zu erleben ist: Eine packende Geschichte mit Krimipotential, ein hochkarätiges Ensemble und eine Ästhetik, bei der einem die Luft wegbleibt.


Traumhaft und knallhart zugleich


Die Bühne von Florian Lösche: ein riesiger Bretterverschlag. Durch die Ritzen zwischen den wie von Ruß schwarzen Holzlatten dringt das Licht ein und zerschneidet den Raum. Wenn die Rückwand nach oben fährt, verwandelt sich der Raum; eine scheinbar grenzenlose Weite in orange wird nicht nur sichtbar, sondern zu einem geradezu körperlichen Erlebnis. Nebel wabert, lässt alles immer wieder für Momente wie einen Traum erscheinen.

Aber was hier verhandelt wird, ist kein Traum, sondern dreht sich im wahrsten Sinne des Wortes um Leben und Tod. Im Jahre 1759 ist in einem englischen Dorf eine junge Frau des Mordes angeklagt und zum Tode verurteilt. Sie behauptet schwanger zu sein.
Da das Gesetz vorschreibt, die Hinrichtung im Fall einer Schwangerschaft auszusetzen, muss eine 12köpfige, ausschließlich mit Müttern besetzte Jury einberufen werden, um diese Behauptung zu bestätigen oder als falsch zu entlarven.

Die Jahreszahl ist
1759 wichtig für die Handlung, denn in diesem Jahr zeigte sich ein Komet, heller als andere, der nur alle 74 bis 79 Jahre von der Erde aus sichtbar ist. Dieses Ereignis, von den Dorfbewohnern fasziniert und furchtsam zugleich verfolgt, schwebt wie der Theaternebel über der Auseinandersetzung zwischen den 13 Frauen.

Bevor die Jury zusammentritt, erfährt das Publikum etwas über das Leben im Dorf, in dem offenbar die Frauen für sämtliche Arbeiten zuständig sind. Das geschieht nicht mit Worten, sondern unter hämmernder Musik, in einer Art Tanz in der orangen Weite, in dem die Frauen, auch sie in orange gekleidet, nicht nur Wäsche schrubben, sondern Holz hacken und schwere Schubkarren bewegen. Realistisch und stilisiert, wundersam und erschreckend.


Individualität unter der Robe


Die Frauen der Jury tragen alle das gleiche Kleid: Mieder und langer Rock und schwarze Hauben mit seitlichen Scheuklappen, eine ihrer Aufgabe entsprechende „Berufskleidung“.
Die anfangs wie ein Block anmutenden Figuren entblättern sich immer mehr. Stück für Stück werden Teile abgelegt, zeigen sich die Frauen in ihrer Alltagskleidung, unter der Robe in orange (Kostüme: Andrea Schraad).

Die Dialoge des Stücks von Lucy Kirkwood sind präzise gebaut. Jette Steckel hat klare Vorgänge gefunden, und so gelingt es, im Zusammenspiel der Darstellerinnen die Figuren in ihrer Individualität sichtbar und in ihren Widersprüchen nachvollziehbar und vor allem lebendig zu machen. Pantomimische Bewegungen lassen Bilder entstehen, die Schauspielerinnen finden zu Formationen zusammen, die nicht illustrieren, sondern ihr Ringen miteinander auf eine höhere Ebene jenseits der Worte heben.

Beobachtet vom Gerichtsdiener, der zwar nicht sprechen darf, aber alles genauestens verfolgt und unter dem Druck der johlenden Menge vor dem Gericht, tragen die Frauen ihre Kämpfe miteinander, gegeneinander und auch gegen sich selbst aus.
Ihr Urteil fällt am Ende zugunsten der Angeklagten aus.
Aber i
n einer Gerichtsbarkeit, die von Männern bestimmt wird und in einem System, das den Mächtigen gestattet, ihre Interessen entsprechend ihren Wünschen durchzusetzen, gab und gibt es eben doch keine Gerechtigkeit.

Deutsches Theater, 7. und 21. Februar. Hier geht’s zu den Karten.


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2. Schlosspark Theater - Amerikanische Tragödie

v.l. vor dem Spiegel Igor Karbus, Fabian Stromberger, Judith Rosmair, Peter Kremer © DER DEHMEL / Urbschat
v.l. vor dem Spiegel Igor Karbus, Fabian Stromberger, Judith Rosmair, Peter Kremer © DER DEHMEL / Urbschat

Eines langen Tages Reise in die Nacht“, ein Klassiker des amerikanischen Theaters, seit seiner Uraufführung 1957 vielfach aufgeführt, erzählt die Geschichte der Familie Tyrone anhand eines einzigen Tages. Eine Familie, die bereits zu Beginn kaputt ist, sich am Ende des Tages aber völlig zugrunde gerichtet haben wird.


Verachtung statt Verantwortung


Der Vater James, gespielt von Peter Kremer, ist ein mittelmäßiger Schauspieler und Alkoholiker, dazu krankhaft geizig, der sein Leben lang auf Tourneen unterwegs war und sich viel auf seinen Erfolg und seine Karriere einbildet. Für seine beiden erwachsenen Söhne James jr. (Igor Karbus) und Edmund (Fabian Stromberger) hat er kaum mehr als Verachtung übrig. Beide haben seine Erwartungen, in seine vermeintlich erfolgreichen Fußstapfen zu treten, nicht erfüllt. Mary, die Mutter (Judith Rosmair), ist seit Jahren morphiumsüchtig. Alle wissen um ihre Krankheit, lange wird sie aber totgeschwiegen oder bagatellisiert, genau wie Edmunds Tuberkulose, die als Sommergrippe verharmlost wird.

Diese Familie ist von Brutalität geprägt: Als Ehemann hat James seine Frau jahrelang gezwungen, ihn auf seinen Tourneen zu begleiten und ihr ein eigenes Leben verwehrt. Als Vater demütigt er seine Söhne bei jeder Gelegenheit. Mary wirft ihrem ältesten Sohn vor, als siebenjähriges Kind seinen Bruder absichtlich mit Masern angesteckt zu haben, worauf das Baby starb.


Gespiegelte Tragödie


Im Schlossparktheater bewegen sich diese vier Menschen in einem schwarzen Raum (Bühne und Kostüm: Herbert Schäfer und Vasilis Triantafillopoulos). Er wird beherrscht von einem überdimensionalen Spiegel, der von einer Leuchtstoffröhre umrandet ist und an einen Spiegel in Theatergarderoben erinnert. In ihm doppeln sich die zwar die Figuren in ihrer Tragik, als Spielelement wird der Spiegel allerdings wenig eingesetzt. Nach der Pause ist er, bevor die Handlung weitergeht, so auf der Bühne platziert, dass sich das Publikum in ihm sehen kann.
Ein graues Sofa in der Bühnenmitte, ein einzelner Sessel, ein Tablett mit Whiskyflasche und Gläsern. Gesoffen wird hier schon am Vormittag. Eine grelle Scheinwerferleiste beleuchtet den Raum von hinten,
Spots von allen Seiten tauchen den Raum in diffuses Licht und geben der Szene etwas Unwirklich-Entrücktes, was durch Nebelschwaden noch verstärkt wird. Ganz hinten, fast nur in Umrissen zu erkennen, ein Flügel.

Die latente Aggressivität, die im Stück herrscht, hat Torsten Fischer in eine naturalistische Spielweise übersetzt, die häufig äußerlich wirkt und eine Identifikation mit einer der Figuren, wie sie sich der Regisseur im Programmheft wünscht, nur selten ermöglicht.
Die Schauspieler werfen sich in ihre Rollen, es wird viel und laut geredet. Das Sofa wird hin und hergeschoben. Die Männer gehen sich an die Gurgel, Mary tanzt im schwarzen Negligè auf Highheels und setzt sich den Schuss auf offener Bühne.

Wirkliche Emotionen ruft die zweistündige Aufführung hervor, wenn sich die Schauspieler zurücknehmen, wenn es leise wird. Dann ist auch die Sehnsucht dieser Menschen, die sich in all ihrer Kaputtheit doch Liebe und Verständnis von den anderen wünschen, mit Händen greifbar.


Schlossparktheater, bis 19. Februar. Hier geht’s zu den Karten.


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3. Vagantenbühne - Gekommen um zu bleiben

v.l. Hannah von Peinen, Sarah Maria Sander, Felix Theisen, Sibylle Gogg © Niels Wehr
v.l. Hannah von Peinen, Sarah Maria Sander, Felix Theisen, Sibylle Gogg © Niels Wehr

Eine Frittenbude in einer heruntergekommenen Plattenbausiedlung, die nach und nach verschwindet, ein Block nach dem anderen fällt dem Abrissbagger zum Opfer.
Unbeirrt, ja trotzig stellt sich Fritz (
Felix Theissen) – früher hatte er gar keinen Namen, jetzt nennen ihn alle Fritz, wegen der Fritten – dem Verschwinden entgegen. Er hat ein Ziel: Er will ein besonderes Pommes frites-Rezept kreieren, das die Kartoffelstäbchen einmalig schmecken lässt.
An seiner Seite Mimi (
Hannah von Peinen), die eigentlich Floristin ist und früher mal die Frau von Fritz’ bestem Freund Frank war. Mimi liebt Fritz, und Mimi will das Bratfett aus ihren Klamotten und von ihrer Haut kriegen und zusammen mit Fritz eine neue Wohnung finden.
Ana, Fritz’ Tochter
(Sara Maria Sander), die vor Jahren zum Studium in die große Stadt abgehauen, aber dort auch nicht glücklich geworden ist, kommt überraschend zurück und sorgt für einen Wirbel, der ihren Vater, Mimi und sie selbst erfassen wird.
Und dann ist da noch Anas Kindheitsfreundin Juli (
Sibylle Gogg), die in einem der Reihenhäuser am Rande der Plattenbauten lebt. Juli liebt ihren Beruf als Kita-Erzieherin, will aber weg und trinkt zu viel. Aber sie hat es geschafft, nach Jahren ihren tyrannischen Ehemann rauszuwerfen.


Berührend und unsentimental


Der Dramatikerin Fabienne Dürr, deren Texte in den letzten Jahren mehrfach ausgezeichnet wurden, gelingt es, in „Gelbes Gold“ Menschengeschichten zu zeichnen, die ans Herz gehen, kitschfrei und ohne sentimental zu sein. Dabei bedient sie sich einer knappen Sprache, die im Stücktext außer Fragezeichen ohne Satzzeichen auskommt. Die Figuren begegnen sich, sprechen miteinander, aber oft aneinander vorbei und hören sich scheinbar gar nicht zu. Worte hallen nach umd bleiben in der Luft hängen, genau wie Gedanken in den Köpfen des Publikums.
Was hier verhandelt wird, ist zeitlos und allgegenwärtig. Menschen stecken in ihren Leben, fragen nach dem Sinn, wünschen sich Veränderung. Manchmal gelingt es. Wenigstens ein bisschen. Auch wenn man bleibt.


Tristesse in Blau


In der Inszenierung von Bettina Rehm gelingt es dem Ensemble nur bedingt, eine Spielweise zu finden, die es den Zuschauern ermöglicht, zwischen die Texte zu kommen. Die Figuren auf der Bühne wirken nicht authentisch, was sie sagen, passt oft nicht zu dem, wie sie es sagen.

Dass man trotzdem gern zuschaut und der Geschichte mit Neugier und Spannung folgt, liegt zu großen Teilen am Bühnenraum und daran, wie die Schauspieler sich den Raum aneignen.
Clara Wanke hat ein blaues Wunder gezaubert, das der Handlung einen adäquaten Rahmen gibt und die Geschichte zusammenhält.
E
in Blau wie in Schwimmbädern, aber viel kräftiger, greller. Hier ist wirklich alles blau und lässt frösteln: Nicht nur der Boden, und die Wände der Pommesbude, auch der Stehtisch mit Serviettenbox, die Kühltruhe, sogar die Wäscheleine, an der die Fritten an blauen Wäscheklammern trocknen, der Kaktus mit Gießkanne und die Dartscheibe. Eine – natürlich blaue – Hollywoodschaukel quietscht erbärmlich und liefert den passenden Sound.
Auf einem übergroßes Schwimmtier in rosa, auf dem es sich fläzen lässt und dem im Laufe des Abends langsam die Luft ausgeht, kann sich das Auge ausruhen. Es ist nicht alles blau.

Vagantenbühne, 7., 8. und 9. Februar. Hier geht’s zu den Karten.

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