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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 94

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

1. September 2014


Neue Saison, neues Spiel, neues Glück!! Ferien adé, und wir starten mit unerschütterlichem Optimismus voll durch in die neue Spielzeit. Und in die Fortsetzung der Bloggerei. Ich hoffe, der geneigten Leserschaft ein Füllhorn von vor Begeisterung strotzender Theaterbetriebsnotizen ausschütten zu können…

 

Schaubühne

 

Pech gehabt! Gleich als erstes kommt ein Dämpfer mit Katie Mitchells Weltkrieg-Eins-Drama „The Forbidden Zone" an der Schaubühne, der Berliner Heimat dieser britischen Multimedia-Künstlerin. Hier inszenierte sie bereits „Die gelbe Tapete“, eine verrückte Psycho-Gruselstory von Charlotte Perkins Gilmans aus dem Jahr 1892, die als Klassiker frühfeministischer Literatur gilt, sowie „Atmen“, ein ironisch gefärbtes Konversationsstück von Duncan Macmilan aus dem reinlichen Milieu hysterisch-gestrenger Öko-Freaks von heute (wieder am 29. September im Programm).

„Forbidden Zone“ nennt man das verbotene Gebiet hinter den Schützengräben. Dort, in Flandern 1915, errichtete die reiche Amerikanerin Mary Borden auf eigene Kosten ein Feldlazarett. Zunächst sollte Borden im Zentrum dieser dokumentarischen Anti-Kriegs-Geschichte stehen, doch dann rückte bei Mitchells historischen Recherchen Deutschlands erste promovierte Chemikerin, Frauen- und Menschenrechtlerin Clara Immerwahr samt deren Familie in den Mittelpunkt der Story (im TV lief kürzlich ein starkes Biopic über Clara mit Schaubühnenstar Katharina Schüttler).

Clara war die Ehefrau des jüdischen Chemikers Fritz Haber, der unter anderem mit Chlorgas experimentierte, um daraus eine Massenvernichtungswaffe zu machen, die dann im Ersten Weltkrieg zum grauenvollen Einsatz kam, wofür Haber mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet wurde; später kam aus dem Haber-Labor das Massenmordmittel Zyklon B. Aus Protest gegen ihren Mann Fritz, den Giftgaskrieger, beging Clara Immerwahr Selbstmord, so wie auch Claire Haber, deren Enkelin, die später, kurz vor dem Zweiten Weltkrieg, in den USA an einem Chemiewaffen-Gegenmittel forschte. Als sie erfuhr, dass diese Forschung eingestellt wird zugunsten der Atombombenforschung, brachte sie sich aus Protest dagegen! um.

Ein Wahnsinns-Stoff; so menschlich-tragisch wie politisch packend und entsetzlich beziehungsreich. Zwei Mal Frauenweisheit, Frauenwut, Frauenohnmacht, Frauentod - der feministische Impetus ist unüberhörbar. Ein erschütternder Abend hätte aus all dem werden können. Doch leider ging es übers raffiniert Illustrative kaum hinaus, was an der sehr speziellen Inszenierungskunst von Katie Mitchell liegt.

Mitchell gilt als weithin bewunderte und gefeierte Großmeisterin eines äußerst aufwändigen (und kostspieligen!) High-Tech-Theaters, das die Bühne in ein Filmset für eine Live-Filmproduktion verwandelt. Diese Manier, die gespielten Vorgänge auf der Bühne aufzuspalten in filmisch vergrößerte Einzelszenen für die Videowand, bringt dem Publikum kaum Mehrwert hinsichtlich Gefühl oder Erkenntnis. Vielmehr schaut man allzu interessiert zu, wie da auf der Bühne eine tolle Filmproduktion entsteht. Perfekte Schauspieler und noch viel mehr perfekte Techniker aller Arten wuseln durcheinander. Eine hybride Verfremdungstechnik, die sich verselbstständigt und ablenkt vom dramatischen Geschehen. Doch das faszinierend organisierte Hin und Her zwischen Kino und Theater, Einfühlung und Abstraktion verwirrt, nervt und führt am Ende zur ungewollten Distanz zum Stoff. Der monströse Apparat stranguliert also die von der Regie freilich mit heiligem Ernst angegangene Tragödie – und ihren politisch brisanten Hintergrund dazu; auch aus dem Off eingespielte schöne kluge Texte von Virginia Woolf, Hannah Arendt oder Mary Boden wirken hier nicht aufrüttelnd. Die extrem manieristische, zuweilen plakative, immer aber formal faszinierende Mitchell-Ästhetik, wahrlich in ihrer Art meisterlich umgesetzt, versackt letztlich der Fragwürdigkeit.

Die Stars der vergangenen Saison

Das berühmte (für mache auch berüchtigte) Ranking des Best-Od im deutschsprachigen Schauspiel, alljährlich veranstaltet vom Fachmagazin „Theater heute“, rief 44 Kritiker auf, ihre jeweils Favoriten auszurufen. Die Kronen, Sparte Schauspiel, bekamen Bibiana Beglau (mit 10 Stimmen) und Stefan Kurth (mit 5 Stimmen). Bester Schauspieler-Nachwuchs: Katharina Knap (Stuttgart) und Dimitrij Schaad (Gorki Berlin). Beste Inszenierung wurde Karin Henkels (meiner Meinung nach alberne) Züricher Kleist-Adaption „Amphitryon und sein Doppelgänger“, bester Bühnenbildner Aleksandar Denic (Residenztheater München), beste Kostümbildnerin Victoria Behr (Volksbühne). Bestes Gegenwartsstück: „Es sagt mir nichts, das so genannte Draußen“ von Sibylle Berg (Gorki).

Ich sag an dieser Stelle fix mal mein Votum durch: Ursina Lardi (Schaubühne), Chrisopher Nel (BE), Katharina Knap und Dimitrij Schaad, Nina Wetzel (Bühne und Kostüm, Schaubühne), Inszenierung des Jahres Ostermeiers „Kleine Füchse“ an der Schaubühne. Neues Stück: Falk Richters „Small Town Boy“ am Gorki.

Mit 15 Stimmen (einschließlich meiner) wurde unser Berliner Gorki das „Theater des Jahres“! Und wahrlich: Es steht glänzend da, ist gut verankert in der Mitte der Stadt, fast immer volles Haus, viele junge neugierige Leute, also deutlich neues Publikum (wo war es vorher???), aber auch das ältere angestammte kommt erstaunlich gern; seltener Glücksfall. Die Auslastungsquote steht auf Anhieb bei sagenhaften 95 Prozent. Die meisten Produktionen sind echt sehenswert; auch wegen des völlig neu formierten, sensationell starken Ensembles. Der Mix der Formen und Themen ist optimal (kein Radikalinski-Neustart). Besonders großes Bravo für die Gesamt-Dramaturgie von Jens Hillje; er ist der schlaue Kopf des ganzen Apparats! Und der ist eben, um Missverständnisse auszuschalten, kein Migrantenstadel-Theater und auch kein poppig aufgemotzter Alternativ-Schuppen. Dabei geht es schick zu im Haus, klasse Gastronomie, feiner Service. Und immer ist die Stimmung wunderbar (bemerkenswert konzentriertes Publikum!). – Gratulation! Dazu die hehre Verpflichtung: Weiter so!

Das Problematische des Theater-heute-Rankings: Mit nur relativ ganz wenigen Stimmen kann man der Größte werden. Und da liegt der Hase im Pfeffer, da lauert das Problem der Manipulation durch geheime Absprachen. Außerdem: Offensichtlich spiegelt die Jury-Auswahl zum Theatertreffen zugleich das Votum der 44 Kritiker. Was damit zusammenhängt, dass der Termin für die Abgabe des Stimmzettels gleich nach Beendigung des Treffens ansteht, so haben alle das dort Gesehene noch frisch vor Augen. Spricht das nun für die Jury oder gegen uns, die 44 Kollegen?

Berliner Ensemble - zwiespältig

Im frühen Sommer, noch kurz vor Saisonschluss, rackerte sich Manfred Karge ziemlich schwächlich ab an Bertolt Brechts kraftmeierischem, aber unfertigen Stück „Untergang des Egoisten Johann Fatzer" , an dem B.B. zwischen 1926 und 1931 händeringend werkelte und das er schließlich als „unaufführbar“ beiseitelegte – immerhin kamen 500 Seiten zustande. Die Rede darin ist von vier Soldaten im Ersten Weltkrieg, die desertieren, sich verstecken, um besseren Zeiten entgegen harren. Dabei träumen sie von Revolution, Klassenkampf, von Menschen-Erneuerung und Menschheits-Verbesserung und disputieren heftig über individuelle Freiheit und kollektive gesellschaftliche Verantwortung – allen voran der hedonistische Egomane Fatzer.

Das echt Tolle dieser Aufführung ist der Einfall des Bühnenbildners Karl-Ernst Herrmann, der die Bretter mit Totenköpfen pflastert – man befindet sich im Schlachthaus Welt, welches es – Klassenkampf! Revolution! abzuschaffen gilt. Der eher literarisch oder literaturhistorisch als dramatisch interessante „Debatten“-Text ist tatsächlich sprachlich faszinierend, dramaturgisch bleibt das Stück Stückwerk. Eben „unaufführbar“, wie der Autor selbst einst befand. Immerhin, ein ingeniöser Regisseur hätte womöglich aus dem expressionistisch-erregten Wortgewitter (Heiner Müller immerhin hielt es für „epochal“) etwas Packendes machen können. Doch unter Karges Regie bleibt alles eher grimassierendes Gerede; wie eine übertrieben angestrengte Vorlesung aus Brecht-Archivalien.

Berliner Ensemble - supertoll

Mein ultimativer Tipp für den 10. September: Der exzessiv aashafte, rabenschwarz aberwitzige Putzfrauen-Schwank

 

„Die Präsidentinnen" von Werner Schwab. Des „großen Erfolgs wegen“ jetzt noch einmal!

Da hocken in ihrer Wohnküchen-Kleinbürgerhölle drei einsam ärmliche Scheuerweiber am präsidialen Küchentisch und beleben ihre traurige Verlorenheit mit rücksichtslos grausig komischen Redeschlachten: Die asketisch frömmelnde und geizige Erna mit dem Spar-Tick (Carmen-Maja Antoni), die lüsterne Grete (Swetlana Schönfeld) und das manische Mariedl (Ursula Höpfner-Tabori), Spezialistin für katholische Missionierung sowie verstopft stinkende Klobecken, die sie stolz mit bloßen Händen flüssig macht. Wie das gleichfalls gern verstopfte Leben, das eine christliche Hand braucht, um wieder froh zu fließen.

Eiskalt schürft Schwab, der so früh verglühte Schreibstar aus Österreich (1958-1994), den Kot aus den Aborten des Daseins und presst daraus seinen wortgewaltigen Text. Zugleich aber zeigt er im Banalen zynisch liebend eine Menschensehnsucht nach Zuwendung, nach glanzvoller Erhöhung, Glauben und Glück; sein kongenialer Regisseur: Günter Krämer. Im Nudelbrett-Bühnenbild von Jürgen Bäckmann, das vom Küche-Klo-Realismus ins Absurde kippt, flutscht unser Trio Infernal aus dem Orkus durch Tag und Traum sowie seelische Wechselbäder. Eine entsetzliche Klomödie der Beleidigten und Erniedrigten, die sich gern selbst gegenseitig beleidigen und erniedrigen. Tollkühnes Spiel! Nicht verpassen am 10. September.

Auf ins Junge DT!

Das so enorm fleißige Deutsche Theater leidet fatalerweise unter dem Problem, dass seine Produktionswut nicht die dementsprechende Erfolgsquote zeitigt. Eins aber ist supertoll an diesem schönen Haus: Die Sparte „Junges DT“. Familien sollten ihren Nachwuchs dazu anhalten, es heftig heimzusuchen. Sein Programm, sein auch clubartiger Betrieb (aktuelles Motto: „Wahn Sinn“) ist sonderlich in unseren eher amusischen Schulzeiten ein (nicht nur erzieherisches) Labsal für kleine und größere Gören (statt bloß emsig mit der Bier- und Colaflasche abzuhängen). Obendrein gibt’s die tolle Möglichkeit, mal selbst auf den Brettern zu stehen. Im kommenden Frühjahr werden „Alice im Wunderland“ (nach Lewis Caroll) und „Die Verwandlung“ (nach Franz Kafka) inszeniert. Für beide Produktionen werden „MusikerInnen und DarstellerInnen“ im Alter von acht bis 20 Jahren gesucht. Also hin zum Casting!

Ein erstes Infotreffen (für „Alice“) ist am 3. September im DT-Saal; Auswahlworkshop am 6./ 7. September, Probenzeitraum ist November bis Februar, Premiere am 8.2. 2015 in den DT-Kammerspielen.

Das erste Infotreffen für „Verwandlung“ (Schauspiel mit Live-Musik) ist am 17. September; Auswahlworkshop 20./ 21. September; Probenbeginn ist im Januar; Premiere am 14. März 2015 in der DT-Box.

Kontakt und Anmeldung: Telefon 030-284-41-220. info@jungesdt.de

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