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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 79

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

24. März 2014

Neuköllner Oper


Drei anglikanische Pfarrerstöchter von vor 165 Jahren und zwei türkischstämmige Abiturientinnen mit ihrer jungen lesbischen Deutschlehrerin aus dem Kreuzberger Kiez von heute zusammengepackt in ein Musical über Emanzipation. Eine so originelle wie verrückte Sache, die der berühmte Professor Peter Lund sich da ausgedacht und an der Neuköllner Oper inszeniert hat. Mit den diesjährigen Absolventen seines UdK-Studiengangs Musical.

Da werden unter der Überschrift „Schwestern im Geiste“ zwei Geschichten parallel erzählt: Zum einen die der aufmüpfigen Schwestern Bronté, die inmitten viktorianischen Muffs unter vorsorglich männlichen Pseudonymen spektakuläre Romane schreiben, welche den bürgerlichen Vorstellungen, wie frau zu leben hat, den Stinkefinger zeigen. Zum anderen die der drei Berlinerinnen mit und ohne Kopftuch, die halt auch ihre freilich vergleichsweise harmlosen Schwierigkeiten haben mit einem selbstbestimmten Dasein. Zwar liegen Welten zwischen den Jahrhunderten, doch gewisse Schwierigkeiten mit der Frauenemanzipation quälen auch heutzutage. Soweit die unfrohe Botschaft, die unglücklicherweise in eine dramaturgisch arg verkrampfte Szenenfolge gepresst und von Thomas Zaufke musikalisch dürftig überzuckert wird. Das so gut gemeint Ausgeklügelte, die Verschränkung von Historischem und Heutigem, will nicht wirklich zünden, weil schon die beiden Stories für sich genommen blass und konstruiert sind und obendrein durch die fatale Biederkeit der Regie nicht szenisch noch an Kraft gewinnen. Schade für die jungen Talente, die durch ihre anämischen Figuren nicht recht rauslassen können, was sie womöglich drauf haben. Ein unerwartet schlichter, überraschend routinierter, zäher und leicht muffiger Abend.

Kleines Theater

Sie wurde berühmt als griffig aus dem prallen Volksleben schöpfende Illustrierten-Kolumnistin sowie durch ihre sympathische TV-Literatursendung mit dem so herrlich imperativen Titel „Lesen!“. Doch Elke Heidenreich schreibt auch lebenskluge Bücher. Und das nicht nur allein, sondern, wie zuletzt, gemeinsam mit ihrem Ex-Ehemann Bernd Schroeder (beide sind seit langem geschieden und sich dennoch einander gut); sinniger Titel „Alte Liebe“.

Klar, es geht um Mittsechziger, die als zähe Eheknochen nun klar kommen müssen mit den probaten Verknöcherungen, mit dem Ende des Berufslebens, dem Rentnerdasein, dem Schwinden der Libido und dem Anfang diverser Zipperleins, dem beginnenden Sterben im Freundes- und Bekanntenkreis – dem bevorstehenden Ende überhaupt. Fragt sich also: Wie weiter? Wie bisher? Im Ehetrott? Oder ein Neuanfang? Aber wie? Und: Wie überhaupt war das mit ihnen beiden all die vielen Jahre? Etwa ein Missverständnis? Routine? Ein satter Fragenkatalog! Nicht einfach zu beantworten. Oder ist es besser, überhaupt nicht darauf zu antworten und es still weiter laufen zu lassen? Wenn da nur nicht in den geheimen Winkeln der Seele etwas bohrte – nämlich die Sehnsucht, der finalen Lebensphase, der alten Liebe, doch noch einmal auf die Sprünge zu helfen in einem dann zumindest etwas erneuerten Leben.

 

Im traditionsreichen Theater am Friedenauer Südwestkorso – es steht in der 40. Spielzeit, nunmehr unter der so rührigen Leitung von Karin Bares –, in diesem nach wie vor äußerst beliebten Kiez-Theaterchen konzentriert man sich zum einen auf die illustre Nacherzählung berühmter Lebensläufe (Knef, Kennedy, Sinatra, Streisand, Massary, Cash oder Michael Jary) sowie zum anderen auf Berliner Erstaufführungen. Wie eben jetzt „Alte Liebe“, eine so amüsante wie nachdenklich stimmende Szenenfolge aus Dialogen und Monologen der, wie sich’s herausstellen wird, eben doch noch nicht gänzlich verknöcherten Eheknochen Lore und Harry, die da mit Geschick aus dem bittersüßen, komischen und auch von Tragik umflorten Roman von Heidenreich-Schroeder gefiltert sind. Zwei Stunden, wie man so sagt, gepflegte Unterhaltung, die diverse Alltags- und Zweisamkeitserfahrungen (beileibe nicht nur von Senioren) auf den Punkt bringt. Wobei die Regisseurin Karin Bares durchaus etwas mehr aufs Tempo hätte drücken sollen – doch man kann ja noch nacharbeiten. Trotzdem viel einvernehmlicher Beifall im auch unter der Woche ausverkauften Parkett. Wir feiern besonders den saftig-sarkastischen Brummbär Martin Gelzer (als Harry) und wünschen der fragilen, spitzzüngigen Gudrun Gabriel (als Lore), sie möge ganz schnell ihre öligen Sprachmanierismen ablegen. Dann wäre es perfekt mit diesem süffigen Konversationsstück.

BE / CD

In Yasmina Rezas inzwischen zum Klassiker gewordenen Bestseller-Stück „Der Gott des Gemetzels“ treffen sich zwei sozial wie mental ziemlich gegensätzliche Pariser Ehepaare zur großen Aussprache: Es geht um den Sohn der Reilles, der dem Sohn der Houilles bei einer Keilerei mit einem Bambusstecken in der Großen Pause auf dem Schulhof zwei Zähne ausgeschlagen hat. Was beide Elternpaare zivilisiert verhandeln wollen (die Schuldfrage, die Konsequenzen), eskaliert unversehens zu einer rabiaten Zimmerschlacht, in der schließlich die gutbürgerliche Fassade donnernd zusammen kracht. Eine allerorten üblichen Klopperei unter Jungen löst bei deren Eltern einen donnernden Kulturkrieg aus. Ein enorm aufschäumender Kracher auf dem Boulevard mit vertracktem, geradezu unheimlichem Tiefsinn. Ein großes Fressen für Schauspieler – die legendäre Zürcher Uraufführung im Jahr 2006 unter Regie des unvergessenen Jürgen Gosch holte alsbald schon der pfiffige Claus Peymann gastweise an sein Berliner Ensemble, wo diese grandiose Gesellschaftskomödie mit eingeschlossener Tragik dankenswerterweise immer mal wieder zu sehen ist in der stets bejubelten, kostbaren Starbesetzung Corinna Kirchhoff, Dörte Lyssewski, Michael Maertens und Tilo Nest – wieder am 29. März. Sofort um Restkarten kümmern!

 

Soweit die gute Nachricht. Ich befürchte, ihr folgt auf dem Fuß eine schlechte: Es gibt keine Kartenreste mehr. Doch Achtung! Neuerdings haben wir gleichwertigen Ersatz: Eine CD. Nicht von der Zürcher Inszenierung, sondern eingesprochen von einer nicht minder spektakulären Studio-Besetzung: Corinna Harfouch, Ulrike Krumbiegel, Sylvester Groth und Udo Wachtveitl. Regie: Robert Matejka; im Audioverlag Berlin für 12,99 Euro. Eine super Scheibe. Höchster Genuss fürs Ohr. Und für das innere Auge.

Ursula Werner - Ost-Stars lesen ihre Memoiren

Sie war die erste Charlie im DDR-Kultstück „Die neuen Leiden des jungen W.“ von Ulrich Plenzdorf (Uraufführung Halle 1972). Und die Mascha in Thomas Langhoffs legendärer Tschechow-Inszenierung „Drei Schwestern“ am Berliner Gorki. Und in einem anderen aufrührerischen DDR-Kultstück, gut ein Jahrzehnt nach der Plenzdorf-Uraufführung, da war sie die Mascha zwei: In Volker Brauns Tschechow-Paraphrase „Die Übergangsgesellschaft“ wieder unter Langhoff und wieder am Gorki, wo sie jahrzehntelang engagiert war.

Jetzt hat Ursula Werner ihre Lebenserinnerungen aufgeschrieben: „Immer geht’s weiter…“ (Verlag Das Neue Berlin). Im flotten Plauderton, lakonisch distanziert und ohne viel Gewese um die philosophischen, ästhetischen und politischen Dimensionen ihres Berufs, ihrer oft großartigen, sehr oft aber auch großartig kleinteiligen Arbeit. Die Uschi, wie sie am Theater heißt, war erst in Halle, dann in Berlin an Brennpunkten ostdeutscher Theatergeschichte. Und ist bis heute Publikums Liebling; kann so schmerzlich heulen, dass der Saal erstickt, und herzbefreiend drauflos lachen, dass der Saal kracht. Denn die Prenzlauer-Berg-Berlinerin aus dem Kleine-Leute-Milieu ist ein sehr geerdeter, ungemein lebenspraktisch veranlagter Mensch – und dabei doch mit feinem Sinn für das Ungereimte, so ganz und gar Unpraktische, das in unser aller Dasein steckt. Ihre noch immer bübische, ja rotzbübische oder mädchenhafte oder eben auch plebejisch zupackende Art, ihre Vielseitigkeit und Wandlungsfähigkeit zwischen zart und herb und hart, naiv, herzig und durchtrieben führte zu Besetzungen der unterschiedlichsten Art; auch beim Film.

 

Die 200 Druckseiten Wernersche Erinnerung lesen sich weg wie nischt. Und illustrieren anschaulich DDR-Künstlers Alltag; und wie es weiter ging nach dem Umbruch 1990 – immerhin bescherte der unserer nunmehr Siebzigjährigen noch eine tolle Alterskarriere (z.B. jetzt Münchner Kammerspiele oder vor kurzem erst den Sensationserfolg in Andreas Dresens Film „Wolke 9“).

Am 25. März ist Buchpremiere mit Ursula Werner. Um 20 Uhr im Kino Babylon.

Special Tipp - Tempodrom

Großer Bahnhof hinterm Anhalter Bahnhof: Das Betongebirge des Tempodroms im gleißenden Scheinwerferlicht, jede Menge roter Teppiche, jede Menge Hostessen und Security, Riesenauflauf (2000 Besucher) und überall Red-Bull-Dosen. Der mäzenatische Getränkehersteller hat eingeladen zur „Weltpremiere von ‚Flying Illusion‘“.

Elf Basecap-Jugendliche, es heißt, es sei die Weltspitze im Breakdance, liefern eine Wahnsinns-Show, die tatsächlich all den Superlativen entspricht, mit denen die PR-Maschine seit Wochen um sich wirft. Es sei die größte Produktion, die es im Breakdance je gegeben habe, sagt man. Und wirklich, was da an akrobatisch-tänzerischem Können in 70 Minuten vorüberwirbelt, macht sprachlos.

 

Breakdance ist Hochleistungssport, Rhythmus, Kraft, Schönheit, Erotik! Und doch ist diese Herrlichkeit nicht abendfüllend. Aber die künstlerische Leitung der Flying Steps Production hat den Ehrgeiz, unbedingt das Gegenteil zu beweisen. Sie verpackt zunächst den Breakdance in eine simple Story vom Kampf zwischen Gut und Böse, der allerdings ohne sonderlich dramaturgisches Interesse verfolgt wird, was wiederum nicht ernstlich stört. Denn der Clou vom Ganzen ist die Verquickung von Breakdance mit unglaublich suggestiven, hoch artifiziellen Bühnen-Bildern (massenhafter Scheinwerfereinsatz, fantastische Farb- und Lichteffekte, Video, irrwitzige Animationen, an denen wochenlang mit immerhin 200 Rechnern gebastelt wurde). Dazu ein synthetisch hergestellter Klangteppich, der wiederum symphonisch „übermalt“ wurde von einem klassischen Großorchester. Akrobatik, Tanz, Illusionismus plus modernste High-Tech-Optik und modernster High-Tech-Sound in unglaublich perfektem Zusammenspiel, das muss man erst mal nachmachen. Das dürfte in seiner Art Weltspitze sein. Da haben die Künstler, Ingenieure und Computer-Spezies alles hingezaubert, was derzeit wohl machbar ist. Bewundernswert!

 

Und doch liegt in diesem Alles die Crux der Zwei-Millionen-Euro-Show: Sie überfällt in ihrem Dauer-Fortissimo und ihrer permanenten Monumentalität das Publikum wie ein Tsunami. Man ist wie erschlagen vom Immerzu-Staccato des Vielzuviel. Den hoch talentierten Machern sind in dieser dröhnenden Pop- und Fantasy-Maschine die Talente durchgegangen wie die wilden Pferde. Doch das große Wirkungs-Geheimnis eines jeden (Show-)Theaters liegt – man hätte es wissen müssen! in der raffinierten Dynamik. Im ausgetüftelten Wechselspiel zwischen An- und Abschwellen, von Laut und Leise, Dunkel und Helligkeit, Raserei und Innehalten. Wohl erst hohe Kunst des Theatralischen könnte Breakdance wirklich zum (kopfschmerzfreien) Abendfüller machen. Also noch mal ran an die elektronischen Geräte. Es lohnt sich; erst recht bei einem solch grandiosen Reservoir an technisch-künstlerischem Können.

In Berlin nur noch heute, 24. März! Dann Frankfurt/Main (25.-27. April), Hamburg, Oberhausen, Köln, Stuttgart.

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