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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 35

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

13. Mai 2013

Berliner Theatertreffen


Die Bühne im Schauspielhaus zu Frankfurt am Main ist fürchterlich wie die Düsternis eines eiskalten Morgens. Und im Hintergrund eine elende Mauer aus Beton als mächtiger Riegel gegen alles Helle, Warme, Schöne (Bühne: Olaf Altmann). Das Dunkel gähnt, Schreie gellen, Entsetzliches dräut: Michael Thalheimer inszeniert die „Medea“ des Euripides, lässt mit unaufhaltsamer Wucht die zerstörerische Kraft verratener Liebe ins Bühnenleere stürzen. Fundamentalistischer Menschenwahn rast vom hohen Kothurn ins Menschenvernichtende. Constanze Becker (Medea) und Marc Oliver Schulze (Jason) spielen so nüchtern wie schmerzverzerrt das Ur-Grauen, das gewaltig sehnende oder gewaltig blutende Herzen zu entfachen vermögen. Ein archaisches theatralisches Monument. Das ferne, aber auch vertrackt nahe, deshalb umso verstörendere Schreckensbild eines Irrsinnskriegs, der nie wirklich aufgehört hat wie auch immer unter uns zu wüten.

Ein unvergesslicher Paukenschlag, mit dem die Frankfurter (unter Intendant Oliver Reese, einst Deutsches Theater) das 50. Theatertreffen grandios eröffneten. Und wir sahen in Constanze Becker (zuvor Deutsches Theater) eine der gegenwärtig stärksten, wenn nicht DIE stärkste Tragödiendarstellerin im deutsches Sprachraum.

 

Wer es noch nicht weiß: Das alljährliche Theatertreffen im Festspielhaus an der Schaperstraße ist das größte, sicherlich wichtigste Schauspielfestival (plus Branchentreff plus Karrierebörse plus Talentförderungszentrum) der drei deutschsprachigen Staaten. Eine Jury mit sieben teils jährlich wechselnden Theaterkritikern erwählt seine zehn „bemerkenswertesten“ Inszenierungen der Saison für den Laufsteg der Best-of-Gastspiele in Berlin. Gesichtet wurden insgesamt 423 Produktionen in 69 Städten. Doch nur Häuser aus sieben Städten sind in der Hauptstadt vertreten: Berlin selbst mit Volksbühne und HAU, Frankfurt, Hamburg, Köln, Leipzig, München, Zürich. Mit den Provinzen - aber auch mit Wien - scheint die Jury sich schwer zu tun.

 

Zum Treffen gehören zahllose Diskussionen und Foren, der opulente Stückemarkt (diesmal 35 Texte!) in prominent besetzten szenischen Lesungen; gehören Autorengespräche, eine breit gefächerte Akademie für junge Künstler, Theaterleute, Kritiker; gehört das Public Viewing im Sony Center Potsdamer Platz („Medea“ am 17. Mai 19 Uhr, „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ aus Zürich am 18. Mai 16 Uhr); gehört die öffentliche Jury-Schlussdiskussion im Festspielhaus am 20. Mai um 14.30 Uhr. Da kann man seine Begeisterung oder seinen Unmut gegenüber Jury-Entscheidungen loswerden.

 

Mein Urteil bis zur Halbzeit ziemlich zwiespältig; viele lange Abende, wenig große Kunst, aber allerhand Brillanz im Formalen, Aristischen. Toller Auftakt wie gesagt mit „Medea“, dann die beiden Groß- und Langzeitproduktionen „Jeder stirbt für sich allein“ von Fallada, Regie Luk Perceval (Thalia Hamburg, knapp viereinhalb Stunden) und „Krieg und Frieden“ von Tolstoi, Regie Sebastian Hartmann (Centraltheater Leipzig, knapp fünfeinhalb Stunden). -- Das komplexe Menschenpanorama inmitten der NS-Zeit, das der Fallada-Roman packend ausbreitet, schrumpfte mit freilich starken Schauspielern zum teils comichaften Panoptikum. Tolstois Riesenroman geriet im überwältigend monumentalen und zugleich frappierend luftig-schwebenden Bühnenbild (Tilo Baumgärtel hat das tolle Ding ersonnen zusammen mit dem Regisseur) zum artifiziell arrangierten Aufsagetheater, dessen Inhalte (Konflikte, Katastrophen) hinter den betörenden Abstraktionen der Schwarz-weiß-Bilder verschwand. Die Regie wollte nicht billig nacherzählen, sondern war darauf aus, den komplexen Stoff durch destillierte Motiv-Folgen auszubreiten, was schwer nachvollziehbar war. Langeweile breitete sich aus, auch durch grassierende Textunverständlichkeit; es wurde gnadenlos genuschelt.

Die „neue Sprachkollektion aus dem Hause Jelinek“ (so die Ankündigung der Münchner Kammerspiele) heißt „Die Straße. Die Stadt. Der Überfall“ (Regie Johan Simons, drei Stunden). Der Titel bezieht sich auf München, auf die Luxusmeile Maximilianstraße, an der die Kammerspiele liegen, und auf den von einem Stricher ermordeten urbayerischen Modekönig Rudolph Moshammer. Es gibt keine Rollen, keine Dialoge, nur Tiraden und Monologe, die man beliebig gewissen Figuren oder Gruppen zuordnen und auch kürzen (!!) kann. Doch sind diese schier unendlichen Textströme zugleich tolldreiste Sprachspiele ernsten Inhalts. Es geht um Individualität, um die Masken-Moden, mit denen Persönlichkeit gewonnen, unterstrichen oder entstellt wird. Es geht um Konsumwahn, um das Denken in Marken, um Original und Plagiat, Werte, Unwerte – um den großen grellen Jahrmarkt der Eitelkeiten, hinter dessen Glitzerfassade Trostlosigkeit gähnt. Und es geht um sensationelle Großauftritte eines Stars: Sandra Hüller gibt die große schöne Königin im atemberaubenden Jonglieren mit den sarkastischen Jelinekschen Sprachbällen und -bildern. Nach der Pause dann noch eine Stunde bleierne Tragikomik: das ätzend gestreckte Moshammer-Sterben (mit Benny Claessens). Alles in allem eine zwiespältige Veranstaltung zwischen Supertoll und Superdoof: Schauspielerinnenglanz, witzige Spielereien mit Tief- und Flachsinn. Daneben verkopftes Gelaber. Der Abend zwischen Leichtigkeit und Schwerfälligkeit breit getreten. Und unnötig verlängert mit von Hanns Eisler inspirierter (geklauter) Musik.

 

Geradezu genialisch durch und durch hingegen Herbert Fritschs 80-Minuten-Entertainment mit dem sinnfreien Text des Schweizer Aktionskünstlers Dieter Roth (1930-1998) „Murmel Murmel“. 176 Seiten nichts als die Wiederholung des Wortes „Murmel“. Regisseur Fritsch bildet aus dieser seriellen Seltsamkeit, seinem raffiniert die Bonbonfarben wechselnden Bühnenbild sowie seinen elf akrobatisch-gelenkigen Showspielern einen musikalisch fein grundierten Kosmos von Charakteren, Konflikten, Stimmungen. Treffliche Splitter aus dem Füllhorn des Daseins. Tatsächlich ein Theaterwunder in der Volksbühne (bleibt als Hit im Repertoire).

Zum Theatertreffen gehören traditionell auch Auszeichnungen. Gleich zu Beginn etwa der „Theaterpreis Berlin“ (20 000 Euro) der Stiftung Preußische Seehandlung, einem monetären Relikt aus friderizianischer Zeit. Er ging an den Schauspieler Jürgen Holtz.

Mit ihm, Jahrgang 1931, stand ein Halbjahrhundert Theatergeschichte auf der Festspielhaus-Bühne: Ein bisschen wankend und mit Stock; denn die Zeiten im geteilten Land haben ihn hin und her gerissen, ihm übel mitgespielt – wie auch seine vielen Rollen. Holtz war schließlich nie bloß Zuschauer oder Mitmacher. Er hat sich stets und mit störrischer Lust gegen alle Zwänge gestellt; ob politische, finanzielle, ästhetische. Das zehrt, bringt Leid, das kann auch stark machen – auch wenn man mit dem Stock nachhelfen muss. Das Glück großer Kunst kriegt man nicht zum Nulltarif. Kunst sei „Kärrnerarbeit“, davon hat uns der große Schauspieler in seiner Danksagung einiges erzählt.

 

Es wurde eine von Wut und Bitterkeit durchwehte, vermächtnisstarke Rede. Da ging es um den zunehmenden Abfall vom Glauben an die Kraft des Theaters, an die spielerische Fantasie, an die Wucht der Sprache. Skeptizismus sei die moderne, gefällige Religion, wachsende Sinnentleerung unser Daseinszustand. „Wir tanzen nicht mehr im Theater, wir tanzen nur noch auf ihm herum.“ Auf den Akademien lernten Regisseure und die Holtz so verhassten Dramaturgen, dass Stücke nichts mehr taugten, also würden sie umgeschrieben und eingedampft: Eine alles Talent vernichtende „Seuche“. Wie das Wirklichkeit imitierende TV, das mit seiner Macht des Banalen in die Theater hineinregiere, Quotendruck entfache und dazu führe, Rollen nicht mehr zu spielen, sondern nur noch zu verwalten. --- Kunstvernichtung, Theaterzerfall, ästhetisch geduldet. Theaterabbau politisch initiiert. Holtz hackt dagegen, ob gegen stramme Genossen einst im Osten oder über linksdrehende Eiferer und Ignoranten später im Westen. Holtz hackt egomanisch, sendungsbewusst, sich kühn und widerspruchsstark als eherner Solitär sehend in einem kollektiven Gewerbe. „Die so genannten Ensembles hüten heilige Kühe in ungesunden Ställen; sie pflegen ansteckende Krankheiten wie Hochmut, Besserwisserei, Selbstgefälligkeit und Fremdenhass; oder sie sitzen im Kunst-KZ.“

Dagegen beschwört er „seine“ Toten, die ihm Vorbild, Lehrer, Freund waren: Adolf Dresen, Heiner Müller, Einar Schleef, den Brecht, die Weigel, die Giehse. Holtz sieht sich als deren einsamer Erbe. Stehender Beifall.

 

Selten geschah es, dass die Feier eines Preisgekrönten so schwer war vom Klagen und Fragen. Dennoch kam Freude auf: Als Corinna Harfouch Holtz‘ Lieblingsmärchen von des Kaisers neuen Kleidern vorlas und Klaus Maria Brandauer eine trotzig zärtliche Liebeserklärung stammelte. Und Hermann Beil vom Berliner Ensemble, wo Holtz eine späte Heimat fand, mit Goethe gratulierte, der den rechten Spieler einen „fantastischen Riesengott“ nannte. So sei Holtz, der mit gewiefter Lust und völlig uneitel spiele; ob Hamlet, Kreon, Motzki oder den Firs im „Kirschgarten“ (gegenwärtig am BE). Nie würde es diesem tollen Kerl passieren, „aus einer komplexen Figur eine plumpe Missgestalt zu machen“, was auch gegen gewisse Regisseure ging. Ein seliger Moment der reinen Schönheit schließlich Angela Winklers Lied „Im wunderschönen Monat Mai, / Als alle Knospen sprangen, / Da ist in meinem Herzen / Die Liebe aufgegangen…“

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