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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 213

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

2. Mai 2017
HEUTE: 1. Theatertreffen, 54. Ausgabe: Die zehn vermeintlich besten Inszenierungen der Saison 2016/17 in Berlin / 2. Eröffnung Theatertreffen: „Drei Schwestern“ – Theater Basel / 3. „Die 10 Gebote“ – Deutsches Theater / 4. Der Tipp für Ungewöhnliches: Kaleidoskop-Opern(!)-Air-Performance auf dem Kudamm

1. Theatertreffen - Das „Best-Of“ der Szene auf dem Laufsteg

Es liegt am Wissen, an der Charakterstärke und nicht zuletzt am Geschmack der siebenköpfigen Jury professioneller Theaterkritiker, was da als „Best-Of“ an Inszenierungen der Saison 2016/17 aus dem deutschsprachigen Raum gilt. Man sollte bedenken, dass Jury-Beschlüsse immer – bei allem redlichen Bemühen der Juroren (insgeheim wird aber auch gedealt und gehypt) zu einem beträchtlichen Teil subjektiv und mithin ein bisschen-ziemlich ungerecht sind. Allgemein unstrittige Entscheidungen sind eher die gefeierte Ausnahme.


Diesmal wurden 666 Voten abgegeben über 377 Inszenierungen in 63 Städten. Hier sind die zehn, die das Glück hatten, ein Ticket nach Berlin zu bekommen, das für die betreffenden Künstler wie Institute als stark „marktwerterhöhend“ gilt. Also auf jeden Fall: Ruhm!


„Die Räuber“ nach Schiller, Bayerisches Staatstheater München, Regie: Ulrich Rasche. Die Produktion ist technisch derart aufwändig, dass sie nicht nach Berlin transferiert werden kann; es gibt aber die 3Sat-Filmaufzeichnung bei freiem Eintritt im Festspielhaus am 21. Mai um 19.30 Uhr. Das Himmel- und Höllenspiel „Die Vernichtung“ von Olga Bach, Regie Ersan Mondtag, Konzerttheater Bern. Von Mondtag läuft im Berliner Gorki „Ödipus und Antigone“ nach Sophokles (5., 6. Mai). – „Five Easy Pieces“ (Thema: Kindsmissbrauch) mit Kindern vom Campo-Theater Gent, Regie Milo Rau, ein Koproduktion u.a. mit den Berliner Sophiensaelen (lief dort bereits) und den Münchner Kammerspielen. – „Borderline-Prozession“ , Regie Kay Voges, Theater Dortmund. – „Der Schimmelreiter“ von Theodor Storm, Regie Johan Simons, Thalia Theater Hamburg. – „Traurige Zauberer“ , Regie Thom Luz, Staatstheater Mainz. – „Real Magic“ , Konzept-Gameshow von Forced Entertainment, PACT Zollverein Essen. „Pfusch“ von Herbert Fritsch (er bekommt auch am 07. Mai den Theaterpreis der Preußischen Seehandlung), Volksbühne Berlin. – „89/90“ nach dem Wende-Erinnerungsroman von Claudia Bauer, Regie Peter Richter, Schauspiel Leipzig. – „Drei Schwestern“ nach Anton Tschechow, Regie Simon Stone, Theater Basel.


Der TV-Sender 3Sat veranstaltet bei freiem Eintritt Public Viewing im Sony Center, Potsdamer Platz. Am 12. Mai, 18 Uhr: „Drei Schwestern“ (Basel). Am 13. Mai, 16 Uhr: „89/90“ (Leipzig). Am 14. Mai, 16 Uhr: „Traurige Zauberer“ (Mainz).

2. Theatertreffen-Eröffnung - Regie-Star und Klassiker-Neudichter Simon Stone aus Basel unentwegt im Höhenflug

 © Sandra Then
© Sandra Then

Eine Reise nach Basel macht‘s möglich vorab zu gucken, was dann abends am 6. Mai im Festspielhaus in der Schaperstraße zur großen TT-Eröffnungsgala mit „Drei Schwestern“ zu sehen sein wird.


2016 war ein Glücksjahr für Simon Stone, diesem Bengel Anfang 30, der fast alles schon drauf hat, was zur großen Bühnenkunst gehört. Seine Inszenierung des Ibsen-Stücks „John Gabriel Borkman“ eine Koproduktion Wiener Festwochen/Burgtheater/Basel – schleuderte den Schweizer, der in England und Australien aufwuchs, ins internationale Rampenlicht und brachte jede Menge Preise und 2016 die Einladung zum 53. Theatertreffen. A star was born. Da grüßt auf seine Art ein neuer Luc Bondy, ein neuer Frank Castorf – was für eine Mischung!


Doch Stone ist nicht nur begnadeter Schauspiel-Regisseur (mit Fest-Engagement in Basel), er ist ein so sensibel wie erfindungsreich tätig im Fach Opernregie. Und: Er ist ein geistreicher Autor. Er dichtet die zu inszenierenden Stücke neu. Zwar folgt er genau deren dramatischer Struktur, doch die Sprache ist von heute, von Stone. Also noch ein Betreiber der neuerdings massenhaft üblichen „Überschreibung“. Da klingt dann alles wie im Fernsehen. Doch bei diesem Ibsen klingt es wie sehr, sehr gut gemachtes Fernsehen. So hat alles gepasst: Starkes Drama (Ibsen), starkes Script (Stone), starke Regie, starke Schauspieler (Caroline Peters, Birgit Minichmayr, Martin Wuttke). Ein Glücksfall. Da muss einfach alle Welt Bravo rufen.


Der Ibsen-Knaller verdrängte ein bisschen, dass die Fachpresse Stones Basler Inszenierung von Tony Kushners „Angels in America“ frenetisch feierte ein markerschütterndes Schwulen-Stück. Zugleich ein grandioses, schmerzlich-kritisches US-Gesellschaftspanorama; nicht „überschrieben“, aber neu, sagen wir: gegenwartsgriffiger übersetzt. Großartig.


Nun hat sich unser Autor-Regisseur Anton Tschechows „Drei Schwestern“ vorgenommen; also inszeniert und überschrieben. Mit dem Alltagsgelaber einer grün-links drehenden Ferienhaus-WG, die besetzt ist mit von wem auch immer alimentierten, ein bisschen wohlstandsverwahrlosten Leuten zwischen 20 und 30. Die quasseln über Politik, Job, Knete, Beziehungsknatsch, Business-New-York und Party-Berlin. Die hängen, genervt von der Welt und vom Leben, ab auf dem Sofa. Bruzzeln am Grillset, rocken bisschen rum auf der E-Gitarre, kleben an Smartphone, kiffen, zanken oder entspannen sich bei Schnellsex überkreuz.


Es geht chaotisch zu in dieser Datsche, die unentwegt auf der Basler Drehbühne um sich selbst kreist, um den rasenden Stillstand zu verstärken in diesem schicken Glasgehäuse, in dem Stones bunte Truppe gelangweilter Träumer, cooler Schlaffis, depressiver Alkis, geiler Möchtegern-Abenteurer oder vergeblich Liebender wie bei Tschechow träumt, sich langweilt und gegenseitig auf die Nerven geht. Ein drastisches Elendsbild von orientierungslosen Leuten, die schon an der Schwelle ihres Erwachsenenlebens ziemlich ausgebrannt sind. Ihre hochmütige Antwort aufs Dasein, das ihnen entgleitet: „Das Leben ist ein einziger Beschiss.“


Stone inszeniert das auch herzerweichend, illustriert die unbarmherzige Banalität des Lebens im auf- und abwallenden Seifenopern-Sound. Das fasziniert. Bis es anfängt, schrecklich zu langweilen. Weil: Die unheimlichen Abgründe, die unter besagter Banalität gähnen, das unaussprechliche Seelenleid, das die Ausgebrannten quält – bei Tschechow ist das in jedem Nebensatz gellend präsent , bei Stone jedoch wird alles witzig wortreich eingeseift und erstickt. Er kippt ausgeklügelt pointiertes Heutigkeitsgelaber über die Köpfe der Figuren, das die Seelen dieser armen elenden Gegenwartsmenschen überschwemmt. Simon entseelt Tschechow. Es klappt also nicht zwangsläufig mit der Überschreiberei. Schon gar nicht bei diesem schier unfassbar hintergründigen Psycho-Autor, bei dem alles wirklich Wichtige im Subtext steckt.


Man sollte es also auch lassen können, das vermeintlich „radikale“ Verheutigen, das beim direkten Ibsen eher funktioniert als beim indirekten Tschechow. Vermag doch Stone auch ohne Überschreiberei allein durch Inszenierungskunst zu packen. Durch Lebendigkeit des Spiels, die den dramatisch auf- und abstürzenden Gefühlskurven der Figuren in ihrem Mit- und Gegeneinander eine Selbstverständlichkeit gibt, die frappiert und tief in unsere Alltäglichkeit sticht.


Soll er sich also seine eigenen Stücke schreiben. Oder die allein schon im Original grandiosen altvorderen Klassikerkollegen schlicht unüberschrieben mit trefflichem Witz und präziser Eigensicht in Szene setzten. Wie just in Basel mit einem überwältigenden Ensemble Wolfgang Korngolds „Die tote Stadt“; eine Oper über die Verlust-Schmerzen und Lust-Träume eines jungen Witwers. Die Optik ganz zeitgenössisch, Libretto und Noten genau so wie in der knapp hundert Jahre alten Partitur. Ein packendes Ereignis.


Schließlich gilt noch immer: Das Holz, aus dem der Mensch geschnitzt, ist krumm. Und nur aus dem Krummen sind die Dramen und Tragödien, nicht aus zeitgeistigem Überwurf. Egal, ob er in Tunika oder Jeans daher kommt.

3. Deutsches Theater - Maximale Sackgasse

 © Arno Declair
© Arno Declair

Zum schlimmen Schluss – ums gleich zu sagen tritt Gottvater selbst auf die Bühne als ferner Verwandter von Fozzi Bär aus der Muppert-Show und stammelt, nachdem die zehn üblichen Gebote des christlichen Ethikprogramms durchexerziert worden sind, ein ihm vom hanseatischen Entertainer Rocko Schamoni eigens gewidmetes, schöpfungskritisches elftes Gebot: „Du sollst dich nicht verheben!“ Der Schauspieler Ole Lagenpusch im weißen Zottelfell geht das Publikum fest im Blick und mit sich an der kurzen Leine ein lebendes Opfer-Schaf (nicht Lamm!) – als Oberster Hirte heftig mit sich ins Gericht. „Wieso hab ich euch zu solchen Freaks gemacht? Tschuldigung! Ihr seid die maximale Sackgasse.“


Damit hat die DT-Uraufführung der „zeitgenössischen Recherche“ zum immerhin ziemlich brennenden Thema „10 Gebote“ nach vier Stunden endlich ihr kicherndes Ende gefunden. Ein namhaftes Kollektiv von immerhin 15 zeitgenössischen Autoren liefert die durchweg blässlichen Vorlagen für dieses aufwändige Großunternehmen, das zu einem weit und tief schweifenden Denkraum hätte werden sollen, aus dem jedoch nichts weiter wurde als ein chaotischer Irrweg durchs Klein-Klein. Denn all die dichtenden Denker haben sich – gottverdammich! – elend verhoben. Oder sind abgeschmiert ins Platte, Alberne.


Gleich am Anfang, quasi als Vorspiel, legt das neunköpfige Ensemble in der eindrucksvoll monumentalen, kathedralartigen Architektur auf der kreisenden Drehscheibe einen rhythmisch bewegten Reigen hin zum kindlichen Popsong „Immer muss ich alles sollen“ von Gisbert zu Knyphausen. Das höhere Kindergeburtstagsniveau wird denn weitgehend tapfer durchgehalten in der Regie von Jette Steckel. Was sollte sie denn auch anderes tun, als ihre immerhin toll performende Spielschar kabarettistisch, ironisch-pathetisch oder grotesk-komisch durch den nachtschwarzen Sperrholz-Sakralbau zu jagen.


Zum ersten Gebot („Ich bin der Herr Dein Gott“) lieferte Clemens Meyer einen ellenlangen Monolog voller witziger oder aberwitziger oder bloß kryptischer Assoziationen, den Benjamin Lillie als immerhin technische Meisterleistung ohne einen Versprecher abspulte. „Ich bin der Wolkenmäcki. Wie man sich betet, so lügt man…“ So ging das in etwa den ganzen langen Abend hin. Dass zwischendurch auch mal Todernstes ventiliert wurde (Missbrauch eines jungen Mädchens oder Kannibalismus), fiel beim ganzen großen „Diskurs“-Durcheinander nicht weiter auf. Da konnte am Ende Fozzi-Bär nur noch sein Schaf packen und verdattert Leine ziehen. Amen.

(wieder am 6. Mai)

4. Ensemble Kaleidoskop - „Lache Bajazzo!“ Opern-Raserei auf dem Kudamm

Am Abend des 5. Mai startet im Kudamm-Karree eines der mit Sicherheit ungewöhnlichsten Performance-Experimente der Saison: „Bajazzo Road Opera“ vom für seine sagenhaften Erfindungen deutschlandweit berühmten Solisten-Ensemble Kaleidoskop sowie dem Performer und Musiker Thomas Mahmoud (Regie: Ludger Engels).


Ausgehend von einem seit der Uraufführung Ende des 19. Jahrhunderts immer wieder gespielten Repertoireliebling der italienischen Oper, Ruggero Leoncavallos musikalisch außerordentlich anspruchsvollem, obendrein reißerischem Lovestory-Hit „Pagliacci“ („Der Bajazzo“) , erschaffen die Instrumentalisten von Kaleidoskop gemeinsam mit Mahmoud ein „Gesamtkunstwerk aus Text, Musik, Performance, Video/Audio-Livestreams und physischer Raumerkundung“. Zwölf Stunden dauert die expressive Veranstaltung über den Abend, durch die Nacht sowie die Straßen bis zum Morgen. Aus dem daraus gewonnenen klanglichen und visuellen Material entsteht eine Installation, die tagsüber bei freiem Eintritt besucht werden kann. Ist doch verrückt, oder. Gucken gehen!


Gesamtspieldauer: Freitag, 5. Mai, 20 Uhr bis Sonntag, 7. Mai, 20 Uhr. Performance: Freitag 20 Uhr bis Samstag 8 Uhr. – Installation: Samstag 6. Mai, 8 bis 20 Uhr. Ort: Emmaline, Kudamm Karree; Kurfürstendamm 206-209.

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