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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 209

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

3. April 2017
HEUTE: 1. / „Fehler im System“ – Schlossparktheater / 2. „Gespenster“ – Deutsches Theater / 3. Erinnerung an den Theaterprofessor Ivan Nagel / 4. TV-Tipp Kulturvolk-Theatertalk

1. Schlosspark Theater - Ein Mann wird zur Frau, eine Maschine zum Menschen

 © DERDEHMEL/Urbschat
© DERDEHMEL/Urbschat

Gerade jetzt wieder schwirrte die Meldung durch die Medien, dass man kurz davor stehe, Apparate mit künstlicher Intelligenz zu haben – was deutlich mehr ist als das, was Roboter heutzutage intus haben. Es ist ein ziemliches Kunststück, aus dem freilich uralten, philosophisch hochkontaminierten Thema „Künstlicher Mensch“ eine gar nicht so ferne, dennoch frappant gegenwartsgriffige, in keinem Moment platte oder gar peinlich angeschaffte Komödienfantasie zu filtern: Dem so erfahrenen, für die Erfindung guter, also spannender Geschichten bekannten und deshalb viel gespielten Autor Folke Braband gehört das Ruhmesblatt! Er selbst besorgte auch die deutsche Erstaufführung von „Fehler im System“ Uraufführung war vor einem Jahr in Österreich – jetzt im Schlosspark.

 

Oliver 4.0. heißt die künstliche Intelligenz, den die hübsche Emma über die Agentur Partnercook.com engagiert hat – als Haushaltsroboter, der in Windeseile ungeahnt hilfreiche Fähigkeiten entwickelt und zudem überrumpelnde Ähnlichkeit mit Emmas ruppig sprödem Liebhaber gleichen Namens hat. Der echte Oliver aus Fleisch und Blut (Tommaso Cacciapuoti) gelangt da (kuriose Szenen!) zunehmend ins Hintertreffen gegenüber Oliver 4.0 (auch: Tommaso Cacciapuoti); der – ein Fehler im System! – mit der Zeit Gefühle inniger Zuneigung und einfühlsames Verständnis für Emma (Jasmin Wagner) entwickelt, die von so viel Empathie schwer beeindruckt ist. Wird es womöglich gar Liebe auf beiden Seiten? Geraten die Gefühle außer Kontrolle? Oliver 4.0 ahnt die Katastrophe (Katastrophe?) und fährt sich, also sein System, am Ende herunter auf null.

 

Parallel dazu erzählt Brabands schöne witzige Geschichte von einer in gewisser Weise zwar ähnlichen, aber letztlich doch ganz andersartigen Transformation: Emmas Vater befindet sich im Prozess einer Geschlechtsumwandlung vom Mann zur Frau. – Da werden ein gestandener Ex-Familienvater zur Dame und eine Maschine zum Menschen. Ein enorm heikles Konstrukt, das Braband als Autor und Regisseur, aber vor allem der Star des Abends, Jürgen Tarrach, mit Eleganz, Ironie, Charme und Herzensgüte hinreißend meistern; selbstredend ohne auch nur einen Anflug von Peinlichkeit und Charleys-Tante-Tunterei. – Wir haben mit „Fehler im System“ ein Stück intelligentes Unterhaltungstheater vom feinsten. In jeder Hinsicht perfekt gemacht, amüsant, melancholisch verschattet, nachdenklich machend über den Tag hinaus. Ich bin begeistert.

(4.-9. April)

2. Deutsches Theater - Psycho-Trip und Albtraum-Show – so schmerzlich wie lachhaft

 © Arno Declair
© Arno Declair

Die Annonce flunkert ein bisschen und schielt auf Werbewirksamkeit. Angesagt ist der Titel „Gespenster“. Doch von Henrik Ibsen gibt’s bloß ein paar Häppchen, dazu einige Bissen August Strindberg (aus „Der Vater“) und obenauf ein Schuss Heinrich Heine (Verse aus dem „Wintermärchen“ berückend expressiv in den Saal gerotzt). Ein Sampling also, ein ganz in schwarz verpackter Traumata-Reigen. Eine entsetzliche, gruselige, groteske, verzweifelt irrlichternde Revue einiger ewiger Widergänger im Konfliktfeld der Menschen.

 

„Nicht nur, was wir von unseren Eltern geerbt haben, geistert in uns herum. Nein, auch alte, längst begrabene Überzeugungen, Ansichten, Aberglaube - all das. Es lebt nicht mehr in uns; aber es steckt in uns, und wir werden es nicht los“, schrieb Ibsen.

 

Regisseur Sebastian Hartmann nimmt die Last, die wir mit Geerbtem, Überkommenem haben, das wir zwar verdrängen, das aber weiter grummelt, gärt und in unseren Seelen wütet, Hartmann nimmt diesen Vergangenheits-Ballast und wirbelt ihn suggestiv durcheinander – es ist so, als entfessele er ein wahnsinniges Herumtollen mit Bällen. Und als wären diese Spielbälle beklebt mit einschlägigen Text-Stellen der beiden nordischen Klassiker also Szenen aus Ehekrach, Geschlechterkrampf, Generationskampf. Ein spukhaftes Nocturno, ein Psycho-Trip, eine Albtraum-Show. Schmerzlich und lachhaft zugleich.

 

Große Performance-Kunst des Ensembles in schwarzromantisch schauerlicher Nacht-, Nebel- und Videostimmung nebst an Herz und Nerven zerrendem, sägendem oder gar geheimnisvoll zirpendem, innig süß summendem Soundtrack (großartig: Ben Hartmann und Philipp Thimm an Cello und E-Gitarre).

 

Die zwei Geisterstunden gleichen einer schauerlich-bittersüßen Seance. Einer melancholischen Meditation über Seelenstörungen, Prägungen, Traumata. Zugegeben, zuweilen platzt die Spannung, fällt der Sog in sich zusammen. Doch dann wieder schwillt er an, baut sich ein Gewitter auf, kommen packende Nummern für tolle Spieler wie Felix Goeser und Katrin Wichmann oder Edgar Eckert und Almut Zilcher oder Gabriele Heinz und Markwart Müller-Elmau oder das unglaublich akrobatische Ballett-Solo von Linda Pöppel.

 

Ja, es gibt viel Erregendes, viel Starkes zu erleben. Auch manch zart blühende Momente etwa mit Heines weher Sehnsucht nach Deutschland und deutscher Sprache (auch das und besonders hier eine natürlicherweise weitverbreitete Prägung). Aber immer wieder gibt es – schade, schade! Spannungsabfall, Schwächen, Auf-der-Stelle-Treterei.

 

Um es rundheraus zu sagen: Es ist dies ein elitärer, teils extrem kunstvoller, teils bloß verkunsteter Abend für Literatur-Kenner und Artistik-Liebhaber, der ohne Plot und Story auskommt, dafür exzessiv Stimmungen malt (neudeutsch: performt) – doch immerhin: zum Staunen! Da gelingen unvergessliche Momente. Und es rollt die Träne, dass die Show nicht durchweg so glanzvoll blieb, wie sie angelegt war.

(wieder 15., 26. April)

3. Keine Vasen aus der Königlichen Manufaktur! - Zum fünften Todestag von Ivan Nagel

Er wurde 1931 in Budapest geboren, floh 1948 in den Westen, begann nach seinem Studium als Kritiker, war Mitarbeiter von Fritz Kortner, wurde Chefdramaturg der Münchner Kammerspiele, Schauspielintendant in Hamburg und Stuttgart, Hochschul-Professor in Berlin, schrieb Bücher über Mozart-Opern und Goyas Malerei. Der mehrsprachige Kosmopolit initiierte das Festival „Theater der Welt“. Sein Strategie-Papier zur Neuordnung der Berliner Theater nach 1990 führte zur Intendanz Frank Castorfs an der Volksbühne.

 

Ein paar Jahre vor seinem Tod am 9. April 2012 hatte ich Gelegenheit zum Interview mit dem berühmten Theaterprofessor. Gerade im Rückblick sind seine Gedanken auch heutzutage bemerkenswert.

 

Ivan Nagel: Die jungen Regisseure begegnen der Welt nicht mit Ideologie, mit dem Willen eines Gesamtkonzepts, sondern mit Schläue, Vitalität, Genauigkeit, Witz, Neugier. Was das deutsche Theater – noch schlimmer: den deutschen Film – jahrzehntelang so leer, bald prätentiös, bald harmlos machte, war das Fehlen der Neugier – nach den Straßen und Zimmern, nach den Stimmen und Gesichtern der Menschen, die dort leben...

 

Peter Stein lernte kritisches politisches Theater bei Brecht; Claus Peymann ging von der Idee eines deutschen Nationaltheaters aus und von der großartigen bis großmäuligen Behauptung, dass nach Lessing, Goethe, Kleist dazu nun Thomas Bernhard und Botho Strauß gehörten...

 

Gegen die politische Radikalisierung, Dogmatisierung, die Stein und Peymann miteinander teilten, machten mich zwei Erfahrungen aus meiner Jugend in Budapest immun: die Verfolgung durch die Nazis und die Flucht vor dem Kommunismus. Der ideologische Absolutismus, ja die totalitären Versuchungen der Studentenbewegung kamen mir, pardon, allzu deutsch vor. Ich fühlte mehr Verwandtschaft mit drei witzigen, vernünftigen, vor Phantasie überströmenden „Ausländern“: mit Peter Zadek, Jerome Savary, Luc Bondy...

 

Theater kann zum Zufluchtsort des Lebens werden, wenn die Aufführung keiner festen Frontziehung zwischen Gut und Böse folgt. Wenn sie intern Arbeit und Spiel, also risikoreich bleibt und extern eine Wirkung schaffende Tat ist, nicht ein bloßes Gebilde. Schauspieler schuften nicht stundenlang dafür, dass ihr Abend am Ende aussieht, wie eine Vase der Königlichen Porzellanmanufaktur; wie ein Ding von interesselosem Wohlgefallen.

4. TV-Rederei über Theater

Heute, Montagabend, 20.15 Uhr, die „Montagskultur unterwegs“ live aus dem neuen ALEX TV- Studio in der Friedrichshainer Rudolfstraße 1-8 (nahe S- und U-Bahnhof Warschauer Straße). Mit Alice Ströver, den beiden Kritikern Arno Lücker und Reinhard Wengierek sowie mit einem Gast; diesmal Roger Jahnke, künstlerischer Leiter der HexenBerg Theaterproduktionsgesellschaft im Pfefferbergtheater. Kritisch betrachtet werden die Premieren „Tod eines Handlungsreisenden“ von Tennessee Williams (Deutsches Theater), „Faust“ von Castorf nach Goethe (Volksbühne), „Like Berlin. Die Show“ (Wintergarten-Varieté). Später auch im Netz auf YouTube.

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