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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 193

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

12. Dezember 2016
HEUTE: 1. „Tour de Farce“ – Die Vaganten / 2. „Abschlussball. Ein Lamento in Bildern“ – Berliner Ensemble / 3. Chris Dercon, künftiger Volksbühnen-Chef, schimpft über Berlin und ganz Theater-Deutschland / 4. Gedenken an Gisela May

1. Vaganten - Slapstick-Strudel im Tollhaus des Lebens


Wenn auf dem gut gefüllten Markt paartherapeutischer Fachliteratur ein Buch käme mit dem Titel „Ehe währt für immer“, wären dem professoralen Autor hohnlachende Gegen-Bücher sicher. Oder aber und womöglich zugleich: Hohe Verkaufszahlen und Waschkörbe voller Leserzuschriften. Taucht ein solches Werk mit nämlichem Titel im Theater auf oder gar auf dem wenig rutschfesten Parkett des komödiantischen Boulevards, dann ist eins sonnenklar: Die Schwarte wird gnadenlos dekonstruiert. Also ironisch verhackstückt und gepfeffert durch die Verwurstungsmaschine gejagt. Wie jetzt bei den Vaganten unter dem passgenauen Titel „Tour de Farce“.

 

Es ist ein dickes Ding, prall gefüllt mit Irrsinn, Dämlichkeit, Frechheit, Sarkasmus sowie jeder Menge Missverständnisse. Alles fein bissig hergerichtet von Regisseur Andreas Schmidt. Und von Cornelia Schönwald & Jörg Zuch scheibchenweise mit rasendem Tempo serviert auf dem blitzenden Silbertablett des grotesken Klamottentums. Bravo!

 

Schönwald & Zuch, die beiden Hochleistungsartisten des Slapsticks wie der Verwandlung, geben das mittelalterliche, längst einander entfremdete Ehepaar auf Lesereise. Die Rollen sind ordentlich verteilt: Der Gemahl als Autor von „Ehe währt für immer“ macht den seriösen Weichei-Klugscheißer, die frustige Gemahlin assistiert ihm als getreue Dienerin und beide sollen draußen vor der Welt leuchten als eheliches Idealbild. Doch das Herdheimchen will nicht mehr. Drinnen in einem Hotelzimmer (in wichtigen Nebenrollen: drei Türen, ein Schrank, ein Bett) kracht alles zusammen während der Vorbereitung auf eine anstehende TV-Talkshow.

 

Auslöser des Crashs sind die durcheinander wuselnden Auftritte diverser Knallchargen aus dem Vorleben der Gattin, aus dem auf Skandale erpichten TV-Gewerbe sowie dem Hotelservice. Auch eine das Hohelied der Ehe singende Nonne geistert durchs Chaos zwischen Tür auf, Tür zu, rein in den Schrank oder unters Bett und raus und wieder rein und raus und zurück... Der große Knaller: Die Großkomödianten Schönwald & Zuch spielen all die Rollen – jeder hat fünf! auf einmal: Perücke auf, Perücke ab, Hose, Bademantel, Kleid, Kittel, Nonnen-Tracht an und wieder aus. Alles in fliegendem Wechsel wie die Situationen, die in 90 Minuten des Lebens verrückt flutschende Fülle komprimieren. Dabei die Charakteristiken der Klischee-Figuren werden stets stramm behauptet, die Pointen, Requisiten und Klamotten nie verwechselt einfach toll, wie perfekt die beiden das hinkriegen; super Logistik, super Spieltechnik.

 

Aber eben auch mit einer vom Hollywood erprobten US-Autoren-Duo Philip LaZebnik und Kingsley Day raffiniert ausgeklügelten Komödienmechanik und witzsprühendem Text nebst gehörigen Seitenhieben auf verlogene, selbstbetrügerische Doppelmoral, politisches Korrektsein und miesen Sensationsjournalismus. Klasse übersetzt von Daniel Call, der selbst ein scharfer Komödienschreiber ist.

 

Herrliche Unterhaltung mit saftiger Lust am niederen sowie dem feinen Sinn für höheren Blödsinn und hinterrücks tragische Untertöne. Eine Tour de Farce als Tour de Force durchs Tollhaus des Lebens. Ein ätzender Blick auf Absurdistan, das uns sehr viel näher steht, als wir zu glauben wünschen. Ein super Silvesterknaller. Und mehr als nur das.

(wieder 30., 31. Dezember, 3.-7. Januar)

2. Berliner Ensemble - Dadaistische Bilderflut, surreale Materialschlacht, grotesker Totentanz

Vergleichbares hat man kaum jemals gesehen. Oder vielleicht doch, sehr lang, fast ein Halbjahrhundert, ist‘s her: Da prunkte der unvergessliche Horst Sagert am Deutschen Theater mit kindlich verspielten, dabei hoch artifiziellen Ausstattungs-Orgien. Jetzt jedoch wuchtete der virtuos mit Abstraktionen jonglierende Multimedia-Meister Achim Freyer leichthändig ein dadaistisches Großkunstwerk auf die BE-Bühne. Es heißt „Abschlussball. Ein Lamento in Bildern“ .

 

Man darf getrost feststellen: Eine derartige Materialschlacht ward in dieser Stadt lange nicht gesehen; allein schon die Anforderungen an Licht-, Ton- und mechanische Technik der Bühne, an Kostüm und Maske (und Ankleider) sind singulär. Eine logistische Schwerstarbeit, die massenhaft Beteiligten dürften entsprechend lamentiert haben beim Einstudieren.

 

Zunächst der neubarocke Zuschauerraum: Ein süß schimmernd oder auch gruselig dämonisch illuminierter, mit rotierenden Riesenspiegeln versetzter Traumpalast. Zuweilen wird es stockfinster, dann wieder huschen vorn auf dämmriger Bühne Schatten, formen sich zu einem Reigen skurriler Fabelwesen, grotesk kostümierter Menschen, possierlicher Tiere. Da summt und zirpt, singt und kracht es. Da fliegen Wortfetzen, Puppen und Masken, Kraftprotze und Elfen, Zwerge, Kinder, Greise hin und her und gelegentlich sogar durch die Luft. Überwältigend. Sehr zum Staunen gemacht, weniger zum Verstehen. Kein wirklicher „Text“, vielmehr eine Springflut poetisch sinniger oder verkopft kryptischer Bilder. Wer will und kann assoziiert Bruchstückchen aus dem hochkulturellen Erbe der Mythen und Allegorien, die sich wiederum vermischen mit Fetzen von banalem Alltagssprech. Das Ganze schließlich ein Mix aus Lust und Horror, Überwältigung und Überforderung, Betäubung und Anregung. Ein Überangebot an Raffinesse und Fantasie, vielfach erinnernd an die so entsetzlichen wie auch komischen Eingebungen des niederländischen Renaissance-Meisters Hieronymus Bosch dem titelgebenden Lamento entsprechend.

 

Dieser Mummenschanz vornehmlich für Augen- und Gefühlsmenschen in dem zur Wunderkammer hergerichteten BE ist, was alsbald klar ist, das suggestive Sinnbild einer Menschheitsdämmerung. Eine Art surreale Weltuntergangsfantasie. Ein liebevoll ziselierter Albtraum von Abschlussball, vom schönen, schön komischen, schön bösen und grotesk schrecklichen, zuweilen gar kriegerischen Tanz ins Nichts. Vielleicht das Schlusswort des 82 Jahre alten Achim Freyer. Mit Verve, Grandezza und Witz aber eben auch klagend hingeworfen. Alles ein grinsend Weh und todtraurig Ach.

(wieder am 13. Dezember)

3. Reaktionäres Theaterdeutschland - Chris Dercon erregt sich und sagt noch immer nicht, was er wirklich will in Berlin mit der Volksbühne

Der schöne Herr Chris, Belgier, Jahrgang 1958, mit der grauen Löwenmähne und der klugen schwarzen Brille hatte kürzlich einen seiner so seltenen öffentlichen Auftritte in der Botschaft Belgiens, also auf heimatlichem Boden in ihm offensichtlich noch immer fremden oder besser: befremdlichen Berlin (angekündigt in Spiral-Block 192).

 

Zunächst einmal stellt er sarkastisch klar, er komme aus London, aus dem Kunstmarkt, sei folglich (wegen London) schuld am Brexit (und am Klimawandel) und werde beschimpft als Neoliberaler, stehe mithin für Eventkultur. Dabei stehe er doch ganz auf der Höhe der Zeit mit seinem erweiterten Kulturbegriff, für den Berlin (die Volkbühne) offensichtlich nicht bereit sei. Vor zwei Jahren noch sei die Stadt kosmopolitisch; jetzt sei sie wie das Athen von heute – fünf Schritte vor und vier nach hinten. Dercons Berlin ist also nicht arm und sexy und kein intellektuelles Zentrum mehr, sondern rückschrittlich. "Nicht innovativ."

 

Wie überhaupt die deutsche Theaterszene regressiv sei, und Berlin nicht bereit für seinen ach so weiten Kulturbegriff. Und jetzt erst wisse er, es gebe gewisse Theaterkritiker und Theatermacher, die in Deutschland nur deutsches Theater machen wollen für deutsche Städte und deutsche Kultur. Er hingegen sei nicht derartig identitätssüchtig und wisse nicht, ob er da Berlin noch helfen könne. Denn er stehe für das Motto „Think global and fuck local“ .

 

Aha, ich begreife: Deutschland mitsamt seiner überreichen einzigartigen, alle Provinzen überspannenden Theaterlandschaft ist provinziell bis reaktionär. Chris Dercon sollte bitte begreifen, dass dieser flächendeckende, wesentlich vom Steuerzahler finanzierte und Identität stiftende Theaterbetrieb für eben diesen Zahlmeister da ist und für ihn spielt. In der Meinung, Identität zu stiften heiße nicht Volkstümelei.

 

Außerdem sollte unser hochmögender Kosmopolit nur mal auf die Vielfalt der Spielpläne schauen, sowohl auf die der öffentlich als auch der privat finanzierten Spielbetriebe von Staatstheater bis Off. Da steckt reichlich „global“ drin! Und gottlob gleichermaßen „local“, was ja jede Kunst überhaupt erst groß macht. Und „fuck“ sowieso. Denn ohne „fuck“, ich meine ohne kritischen Impetus und nicht einen Scheiß auf alles konkret lokal Verortete, geht gar keine Kunst – schon gar nicht im Theater.

 

Was also soll das ganze Schmäh-Theater? Was wird das Berliner Dercon-Global-Theater wirklich wollen in oder neben der Volksbühne? Oder will er - fuck local! - etwa nicht mehr? Vorhang zu und immer noch alle Fragen offen.

4. Brecht-Röhre mit Lippenstift und TV-Muddi in Kittelschürze - Gisela May

Die Krawatte gehörte zu ihr wie die Zigarre zu Brecht. Und noch der Hosenanzug im korrekten Diseusen-Schwarz, mit Pony und keck wippendem Rotblond. So triumphierte Gisela May, es begann in den 1960er Jahren, auf den heiligsten Konzertpodien aller Kontinente: Als „weltbeste“ Brecht-Weill Sängerin (das Signum „Deutschlands beste Diseuse“ hatte sie längst). Umjubelt, mit Preisen überhäuft. Ja, die May genoss den Glanz dieser Welt und die Privilegien einer DDR für den Weltstar aus Ostberlin gab es keine Mauern. Und immer dachte sie links, vielen auch viel zu links, verehrte Tucholsky und Ossietzky und tat sich schwer mit dem Elend dieser Welt.

 

Natürlich war Gisela May ein Aushängeschild des DDR-Kulturbetriebs; wofür sie einschlägig als „Schönsängerin des Stalinismus“ beschimpft wurde. Sie war DDR-konform; zugleich aber eben immer auch – im geziemenden Rahmen DDR-kritisch. Sie hielt fest zu ihrem einstigen Lebensgefährten, dem Philosophen Wolfgang Harich; auch, als der Dissident für seine Pläne zur politischen DDR-Reform jahrelang im Bautzener Zuchthaus litt. Nicht das System des Sozialismus sei falsch gewesen, vielmehr dessen „kranke Auswüchse“, sagte sie immer wieder, es ist noch nicht lange her. So gesehen hatte sie nichts gegen das Etikett „sozialistische Nachtigall“.

 

„Die Frau kann schauspielen und die kann singen“, hatte einst Hanns Eisler entdeckt. Wobei es in ihrer Branche ja nicht ankommt aufs hohe C. Was zählt, sind Charakter, Intensität. „Die May“, meinte Paul Dessau, „die singt nicht schön, sie singt richtig.“ Lassen wir das mit dem Schön beiseite. Wer je die Lieder aus dem „Schweyk“ gehört hat, erzittert vor deren Schönheit – und Tiefe. „Am Grunde der Moldau wandern die Steine… Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine...“ Gisela May ganz prosaisch: „Ich komme von den Inhalten, Brustaufreißen liegt mir nicht.“

 

Am Anfang stand die Tochter eines Schriftstellers und einer Schauspielerin aus Wetzlar noch nicht volljährig als Elevin mit einem Vertrag als Soubrette auf der Bühne: für 150 Mark im Komödienhaus Dresden. 1951 dann der große Sprung nach Berlin: erst Deutsches Theater (ein Lehrer: Wolfgang Langhoff), später Berliner Ensemble. Für sie als Frau habe sich Brecht nicht interessiert, erinnerte sich die May; leise kichernd. „Ich war ihm zu damenhaft, trug ja gern Hut und schminkte mich. Der Brecht stand auf den bäuerlich breithüftigen Typ. Ohne Lippenstift.“

 

Mehr als 700 Mal war die May in Brechts „Schweyk“, Erich Engels letzter BE-Inszenierung, die so gütige wie durchtriebene „Kelch“-Wirtin Kopecka. Als spektakulär galt seinerzeit das Gastspiel im Berliner Metropol-Theater: In „Hello Dolly“ schäumte sie die Hauptrolle auf mit ironiedurchsetztem, deftigem Humor. Legendär ihr Ausflug an die Staatsoper Unter den Linden. In „Die sieben Todsünden der Kleinbürger“ (Brecht/Weill) stellte sie als „Anna I“ selbst die als unerreichbar geltende Lotte Lenya in den Schatten – so das einhellige Urteil der internationalen Kritik. Einer anderen ganz Großen stand sie gleichfalls nicht nach. Als Mutter Courage (13 Spielzeiten lang!) beerbte sie Helene Weigel und vermochte der Figur eine bis dahin ungeahnte erotisch-verführerische Kraft zu geben. Dass die May obendrein in vielen Defa- und DDR-TV-Produktionen präsent war, versteht sich.

 

Ihr größter Theater-Erfolg, die Courage am BE, war zugleich ihr letzter, schade auch insofern, da die May das Zeug hatte zur großen Volksschauspielerin. Immerhin: Als „Mutter“ von Evelyn Hamann („Sach nicht immer Muddi zu mir!“ – „Ja, Muddi.“) in der Krimiserie „Adelheid und ihre Mörder“ wurde sie heimisch in den Stuben der Fernsehnation. Dass die May, ohne schwarze Krawatte, eine klasse Komikerin sein kann, wusste man freilich schon, bevor sie für die ARD lustvoll den bunten Kittel überzog.

 

Es war im Frühjahr vor nun schon 22 Jahren, als die BE-Ikone von der damals neu installierten BE-Direktion umstandslos „abgewickelt“ wurde. Ein „Schock“ für sie. Und eine „tiefe Kränkung“. – „Die Neuen am Schiffbauerdamm zielten auf eine andere Art Theater: kein Realismus, keine Identifikation des Publikums mit den Figuren. Man wollte etwas Gebrochenes. In übersteigerter Form sollten das Chaos, die Brutalität der Gesellschaft auf die Bühne. Sie glaubten, das rüttle die Leute besonders auf. Ich finde, das stumpft nur weiter ab. Schon Brecht verwies auf die ‚so ansteckende Krankheit der Unempfindlichkeit‘.“

 

Als dann Claus Peymann zur Jahrtausendwende als BE-Direktor antrat, holte er Gisela May als „Königin des Brecht-Theaters“ zurück für umjubelte Chanson-Abende. Alsbald aber ließ sie das Singen; müsse ja keiner hören, dass es nur noch kratzt in der Kehle. Zu ihrem 90. Geburtstag gab es eine Soiree im Berliner Kino Babylon, mit massenhaft Fans, witzigen Gesprächen, Film- und CD-Einblendungen und Ovationen. Nun ist sie, mit 92 Jahren, für immer verstummt.

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