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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 191

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

28. November 2016
HEUTE: 1. Kinderrevue „Verrückte Sonne“ – Friedrichstadt-Palast / 2. Märchen in der Monbijou-Familien-Holzhütte sowie im Pfefferberg-Glaspalast / 3. Tipp: Chris Dercon zum öffentlichen Gespräch in der Botschaft Belgiens / 4. Heute: Strövers Talk-Show mit Christoph Nix, Intendant, brisanter Buchautor und Bewerber für die Direktion der Busch-Hochschule. In der FVB-Montagskultur, 19.30 Uhr Ruhrstraße

1. Friedrichstadt-Palast - Herr Hitzeheiß gegen Herrn Schneemann und wie die Hasen-Kompanie dazwischen hopst


Noch ist der Riesenhimmel des Friedrichstadt-Palastes in eisiges Nachtblau getaucht – mit Sternengefunkel. Dann wird’s ganz dunkel, die Sterne verschwinden, der proppenvolle Saal (an einem gewöhnlichen Dienstagnachmittag) schreit auf und los geht's: Das Weihnachts-Jahresend-Kinder-Spektakel „Verrückte Sonne“. Und was ist los auf der fußballfeldgroßen Panoramabühne? Überraschung, der Sommer! Im gleißend hellen Sommersonnenlicht paradiert schwungvoll die große Schar (vom Palast-Kinder- und Jugendclub) der Spiel- und Tanzkameraden einschließlich eines schwitzenden Schneemanns und stürzt sich in die krachende Sommer-Disko.

 

Doch da kommt auch schon der Störfaktor. Hereingeschwebt von hoch droben aus dem Palast-All. Es ist der böse Zaubermeister Hitzeheiß, und der hat gerade die liebe Sonne aus ihrer Achse verrückt, damit die irdischen Party-Gören im Finstern sitzen, seinem Hitzeheiß-Reich aber der ewige Sommer blühe. Die kessen Kleinen jedoch wissen das auf freilich abenteuerliche Weise abzustellen und hauen nach allerhand nicht ungefährlich zirzensischem Einsatz im Großkollektiv zum glücklichen Finale ordentlich hopsend auf die Pauke. Das Publikum, ganz aus dem Häuschen, haut kräftig mit.

 

Klar, dass beim Zurechtrücken der verrückten Sonne der grandiose, nicht nur kindliche Gemüter überwältigende Apparat des weltweit größten Revuetheaters voll in Aktion tritt. Da rollen erregt die Kinderaugen, der Saal kocht und staunt über die geheimnisvollen Kunststücke der wundersamen Bühnentechnik. So was hat man selbst auf tollsten Kindergeburtstagen noch nicht erlebt.

 

Auch ist es prima, dass dies Happening eben niemals peinlich ins Kindertümelnde fällt (Buch: Michael Sens, Regie: Andreana Clemenz) . Die Show ist ein schmissiger Mix aus Fantasy und Gegenwärtigkeiten. Sie spießt beispielsweise IT-Alltäglichkeiten auf (die Gören hängen ja beständig am Display), spitzt Umweltprobleme witzig zu (etwa den Umgang mit IT-Schrott, der hier bizarr kostümiert umhertänzelt) und tritt, natürlich, Party-Seligkeiten los und verquirlt alles gewitzt mit Märchenhaftem, Zauberischem und obendrein mit einer Quiz-Show, bei der die Kids selbstredend wesentlicher Teil der Lösung sind. Poesie mit Coolness-Faktor. Es regnet Sternenstaub, Konfetti, Luftschlangen. Lichtstrahlen rocken, exotisches Unterwasser-Getier verpackt in wahrliche Kostümkunstwerke wabert, ein wirres automatisches Weihnachtsbäumchen trällert Häppchen aus Weihnachtsliedern, computergesteuerte Hasenhorden rollen mit glutroten Augen durch die Lasershow (kreischender Sonderapplaus). Und dem mit Sonnenschutz imprägnierten mutig fürs Wieder-Zurechtrücken der Sonne kämpfenden Schneemann kann kein Herr Hitzeheiß auf seinem magisch schwebendem Hochsitz (wie geht das bloß?) wirklich was anhaben. Verrücktes Wunder-, Mitmach- und Mitklatsch-Theater. Das junge Volk lässt sich da nicht lange bitten – in Europas aufwändigster Produktion für diese so dankbare Zielgruppe. Und draußen vorm schick illuminierten Kassenhäuschen schimmert Berlins schönste Christbaumskulptur.

(noch bis zum 27. Januar 2017)

2.1. Monbijou-Märchenhütte - Kuscheln mit Rotkäppchen & Co.

Im feinen Kontrast zum grandiosen, familientauglichen Breitwand-Überwältigungstheater steht in Nachbarschaft des monumentalen Friedrichstadt-Palastes die kleine, kuschelig familientaugliche Märchenhütte, die winterliche Schwester vom sommerlichen Monbijou-Freiluft-Theater gegenüber dem Bode-Museum. Die Berliner Vielfalt, hier nachbarschaftlich beieinander auf engstem Raum.

 

Bis zum Februar nächsten Jahres wird eine fleißige Spieltruppe seine sagenhaft-komisch-grotesk-bös-albern-gewitzte Vorstellungen in die als Original aus Ostpolen importierte Holzhütte setzen – mit den Gebrüdern Grimm als hauptsächliche (freilich zurechtgestutzte) Klassik-Hausautoren. Hier die diesjährigen Neuinszenierungen unter Christian Schulz' Direktion: Schneewittchen, Der gestiefelte Kater, Die Bremer Stadtmusikanten, Gevatter Tod. Dazu aus dem ruhmreichen Fundus (s. Spiral-Block 154): Rotkäppchen, Kaiser Trojan, Der Wolf und die sieben Geißlein, Das tapfere Schneiderlein, Der Tannenbaum, Hänsel und Gretel, Fischer un sin Frau, Hans im Glück, Hase und Igel. Was für eine Fülle bei liebevoll kulinarischer Umsorgung!

 

2.2. Pfefferberg-Glaspalast: „Grimmis“ für alle

Was die Leute in der Märchenhütte am Ufer der Spree treiben, tun neuerdings gleichermaßen erfolgreich ihre Kollegen am Pfefferberg an der Schönhauser Allee. Beide Truppen entstammen ursprünglich dem tollen Off-Schuppen Hexenkeller-(Hinter)Hoftheater vom Prenzelberg. Das zog dann in den Monbijou-Park, um dort sagenhafte Erfolge zu feiern. Nun hat sich das Hexenkessel-Monbijou-Ensemble getrennt und jede Truppe geht ihren Weg für sich; schade eigentlich.

 

Die Pfefferberger um Jan Zimmermann (Regisseur, Autor) bespielen jetzt ein fein ausstaffiertes ehemaliges Altberliner Sommer- und Ausflugslokal am Schönhäuser Tor. Extra für die winterliche Märchensaison haben sie dort noch einen herrlichen kleinen Glaspalast errichtet – für ihre „Grimmis“ mit Schneewittchen, Rapunzel, Hänsel und Gretel, Hans im Glück, Frau Holle Dornröschen und wie sie alle heißen. Was für ein toller Märchenberg im Glashaus mit den herzigen, gestrengen, lustigen und teils auch schlimmen Grüßen der Gebrüder Grimm. – Daneben gibt’s noch Shakespeare und Moliere. Und allerhand zu futtern und zu schlürfen.

3. Chris Dercon, designierter Volksbühnen-Intendant, stellt sich erstmals der Öffentlichkeit

Der Direktor der Tate Modern in London, eines der berühmtesten Museen für zeitgenössische Kunst, wird nach fünf „Tate“-Jahren als weltweit tätiger Kurator und Ausstellungsmacher zurück blicken und voraus schauen auf seine neue, beispiellos umstrittene Herausforderung in Berlin als Intendant der Volksbühne. Im Dialog mit dem Kunsthistoriker Walter Moens. Dazu hat der Generaldelegierte der Regierung Flanderns, Koen Haverbeke, in die Belgische Botschaft zu einem öffentlichen Gesprächsabend eingeladen.

 

Der Kurator und Ausstellungsmacher Dercon wurde 1958 im flandrischen Lier geboren und studierte Theaterwissenschaften. Doch führte ihn seine steile Karriere allein in hohe Leitungsfunktionen im internationalen Kunstbetrieb; vor "Tate" war er beispielsweise Chef des Hauses der Kunst München. -- Jetzt im Berliner Gespräch mit Moens wird er nicht umhin kommen, endlich einen konkreteren Ausblick zu geben, was er ab 2017 mit der Volksbühne vorhat – und was wir bislang bloß ahnen. Sein Motto „Alles hat mit allem zu tun, auch in den Künsten“ ist da allzu vage, was wiederum die Gerüchteküche überkochen lässt und allgemeines Befremden auslöst.

 

Das andere, extrem Brisante ist, wie Chris Dercon mit der lauthals unseriösen Ankündigung der Berliner Kulturpolitik umzugehen gedenkt, ihm den längst unterschriebenen Intendanten-Vertrag aufzukündigen, was etwa acht Millionen Euro Schadensersatz kosten würde. Ein bislang beispielloses Ansinnen des künftigen Kultursenators Klaus Lederer, Recht und Gesetz zu verletzten. Das disqualifiziert ihn eigentlich für diese deutschlandweit bedeutende Berufung. Er muss sich nunmehr sehr anstrengen… Dercon aber auch.

(5. Dezember, 19 Uhr in der Botschaft Belgiens, Jägerstraße 52, am Gendarmen-Markt)

4. Intendant Christoph Nix und Alice Ströver im Montagskultur-Gespräch über sein provokantes Buch „Theater Macht Politik“. -- Hier ein Nix-Porträt.

„Wenn man keine Chance mehr hat, muss man sie erst recht nutzen“, sagt er. Lässt sich vom Friseur das wild wuschelnde Kopfhaar bändigen, schnappt sich Fliege und Sakko und fährt nach Konstanz ins Rathaus. Dort sucht man fürs südlichste Stadttheater der Republik einen neuen Intendanten. Zwar hat man sich schon einen ausgeguckt, lädt aber korrekterweise ein kleines Konkurrenten-Ballett zum Vortanz. Darunter diesen Nix; Jura-Professor für Öffentliches Recht und Strafvollzugsrecht (Studium in Gießen, wo er sich mit Kommilitone Frank-Walter Steinmeier befreundete). Immerhin ein mit Provinz gepuderter Intendant; erst im thüringischen Nest Nordhausen, dann in der hessischen Kleinmetropole Kassel. Außerdem ein ausgebuffter Verwaltungsprofi, ein mit schweren Wassern gewaschenes Theatertier, Regisseur, Schauspieler, Stückeschreiber, Dichter; ein einst fahrender Gesell im Off-Theater und gar – auch das! Ex-Zirkusdirektor. Aber auch ein gelernter Clown – weil: an dieser Figur fasziniere „das lustvolle Zerstören von Macht“. Also auch ein beständiger Unruheherd (für manche ein Verrückter), ein hessischer Revoluzzer vom Dorf (1954 in Herborn geboren). Ein parteilos linker Sponti.

 

Die Ratsversammlung stöhnt. Was für ein seltsamer Bewerber: Akademiker und Bohemien, der als philosophisches Maskottchen beständig Clowns-Cape und Richterrobe im Bürospind deponiert. Ein moralisierender Idealist mit kindlichem Staunen im Blick und ein gleichermaßen durchtriebener Pragmatiker. Ein Melancholiker und Kampfhahn. „Ruhiges Theater ist totes Theater“, sagt der Tausendsassa. Das hat ihn berühmt gemacht und berüchtigt. Dieser Prof. Dr. Christoph Nix ist ein Sprühender, ein Malocher und Macher, ein Träumer und Realo. Und bekam den Job als Theaterchef in Konstanz. Das war vor zehn Jahren.

 

Ulrich Khuon, der seine Karriere in Konstanz begann und heute Chef des Deutschen Theaters ist, sagt (eine Allerweltsweisheit), ein jeder und ein jedes Theater müsse ständig sich neu erfinden. Es gehe um die eigene Show, den eigenen Sound. So war es der mit viel Gefühl und Grips und Ego fantastisch spielende Zirkus Nix, der für Konstanz den Zuschlag brachte. Der lebenskluge, kunstverrückt missionarische Clown („die Sinnfrage stellen und an der Welt herum denken“) durchbrach provinzielle Vorurteile „zu schwierig, provokativ, unbürgerlich“. Und trat im Herbst 2006 mit dem Motto „Reisende ohne Gepäck“ an auf dem Konstanzer Bahnhof: Das Ensemble und vorweg sein Chef als Gepäckträger. Auch eine Möglichkeit, sich allseits spektakulär bekannt zu machen, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen, ihnen wenigstens das Jahresprogramm in die Hand zu drücken. Und dann die Eröffnung mit, was sonst, einem Spektakel: mit Brecht, Goethes „Faust“ sowie dem Arbeitslosen-Strip „Ladies Night“ die klassische Kombination aus Populärem und Populistischem. Dann weiter mit Schiller, Ibsen, Shakespeare, Tschechow, Aristophanes, Arthur Miller, Ravenhill, Caryl Churchill, Yasmina Reza, Fosse, LaBute; mit Orff, Henze, einem Schiwago-Projekt und Monroe-Musical – und kürzlich erst mit Tschechows „Onkel Wanja“, inszeniert vom US-Star-Dramatiker Neil LaBute – eine Sensation. Da schaut denn schon mal Freund Steinmeier vorbei, mit dem zusammen, das am Rande, Nix seit Jahren soziale Projekte in Afrika betreut.

 

Dann war da die Feier zum Jubiläum 400 Jahre (!) Theater in Konstanz (Jesuiten machen den Anfang). Dazu die Tour des zur Drehorgel singenden Intendanten durch die Region, um 400 Abonnements für das Haupthaus mit seinen 400 Plätzen zu werben. So was hat man hier noch nie erlebt. So was macht beliebt – wie auch der Intendanten-Auftritt im Kindermärchen als Lindwurm. Nicht nur der Kulturbürgermeister ist hingerissen. Da gibt es schon mal eine Aufstockung des Etats. Das Extra-Geld ging an die architektonisch wie inhaltlich toll ausgebaute Jugendtheater-Spielstätte am See (200 Plätze), an die tief in die Stadt greifende Theaterpädagogik mit drei Theaterjugendclubs, an das Studio „Werkstatt“ (100 Plätze), an die Sommerspielstätte im Nachbarort Überlingen. Nix avancierte zum Liebling Konstanz. Auch seine einstigen Gegner gratulieren ihrem professoralen Theater-Striese.

 

„Völlig neues Lebensgefühl: Alle sind begeistert“, konstatiert Familienvater Nix fast ein bisschen irritiert von derart viel öffentlicher Zuneigung. Er ist, mit großem Tamtam und zäher Kleinarbeit, gut verankert in der so schwer auszumachenden Mitte. Inzwischen gelte in Konstanz und rund um den Bodensee: Wer nicht ins Theater geht, ist out. „Ich stamme ja selbst aus der Provinz und weiß, wie die tickt. Wir werden zwar dafür bezahlt, Gewohnheiten infrage zu stellen, wenn es sein muss, heftig infrage zu stellen. Doch niemals würden wir die Leute in ihrer Seele beleidigen.“ – Und trotzdem: Nach einem Jahrzehnt Konstanz sei Zeit für den Wechsel, für was Neues. Und so bewirbt sich Nix für die frei werdende Stelle des Chefs der Ernst-Busch-Theater-Hochschule Berlin.

 

Außerdem schrieb Nix quasi nebenher (er ist Extrem-Frühaufsteher) in genialischer Fixheit mit seinen 61 Jahren nach der juristischen eine zweite, diesmal eine theaterwissenschaftliche Doktorarbeit, Titel. „Theater_Macht_Politik. – Zur Situation des deutschsprachigen Theaters im 21. Jahrhundert“ . In diesem Werk höchst anspruchsvoller und nicht zuletzt ziemlich brisanter Thematik fragt er nach dem Rollenverständnis deutscher Intendanten und schaut kritisch auf die Kulturangestellten neuen Typs, „geboren in den Werkstätten des Kulturmanagements und den Curricula des Deutschen Bühnenvereins“. – Auch davon wird heute Abend in der Ruhrstraße sehr bissig die Rede sein. Wird spannend!

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