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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 184

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

10. Oktober 2016
HEUTE: 1. „Wildes Berlin“ – Berliner Kabarettanstalt BKA / 2. „Der Vater“ – Renaissance-Theater / 3. Buch-Tipp: „Regisseurstheater“ von Gerhard Stadelmaier

1. BKA - Sex und Crime im Großstadt-Unterholz


Da liegt doch ein riesengroßer Turnschuh auf der Bühne. Er steckt an einem riesengroßen Rest Bein. Blutverschmiert. Dabei sind wir doch gar nicht in irgendeinem Horror-Laden, sondern im nur selten enttäuschenden, fast immer glamourösen und dabei arg witzigen Show-Brettl-Betrieb BKA-Theater hoch oben unterm Dach im altehrwürdigen Bürohaus am U-Bahn-Eingang Mehringdamm, derweil unten am Kult-Döner eine sagenhafte Schlange aus einem Halbhundert Touristen geduldig nach einem weltweit als Kult annoncierten Döner (auch nix besseres als anderswo ohne Schlange) ausharrt.

 

Zurück zum toten Bein im Blut am Schuh. Das Requisit ist deshalb riesig, weil es erspäht wird aus Perspektive von vergleichsweise kleinen Großstadt-Tieren, die sich so herumtreiben und ihre Nester haben im Görlitzer Park. Dort kämpfen Hase Rammler, Füchsin Faye, ein aus Kanada eingewanderter Waschbär Wash sowie die schwangere Türkentaube Ülker ums Überleben unter bösen Menschen (Drogendealer) und guten (Tierschützer). Zu einem solchen guten Hirten namens Peter Hirtenberg gehört das tote Menschenfleisch, was sich alsbald herausstellt.

 

Ein Mord, klarer Fall. Denn den Beweis liefert – märchenhafter Zufall – das Youtube-Video „Rabbit fucking Faye“. Es zeigt die gleichfalls märchenhafte Unzucht des Langohrs namens Rammler mit Füchsin Faye; eine einschlägige Görli-Drogenspritze machte den Hasenfuß unfreiwillig geil. Und im Hintergrund ist erkennbar: Mord an Hirtenberg. Doch wer ist der Mörder?

 

Das ist nun leider nicht erkennbar auf dem animalischen Filmchen. Gott sei Dank! Ansonsten nämlich hätte das liebe Vieh im Görli-Unterholz keinen bühnenwirksamen Job in der irren, frechen Fantasy-Show. Die vier herrlichen Schauspieler Lars Kemter, Konstanze Kromer, Christian Näthe und Emma Rönnebeck mit mehr oder weniger rauer Singstimme hätten keine dankbaren Rollen und Autor Robert Löhr hätte keine komische Story für sein mit Klischees, Vorurteilen und Witz um sich schmeißendes Berlin-Musical „Wildes Berlin“ , das natürlich auch den Tiermusical-Klassiker „Cats“ parodiert und überhaupt dickes Komödiantentum kräftig saftig ausstellt. Regisseur Denis Fischer hat die Chose mit vielen schönen, dabei oft ganz einfachen, aber immer überraschenden Einfällen mit ordentlich Tempo inszeniert, dass es wahrlich eine Lust macht zuzuschauen. Dabei gibt’s flotte Liedeln zu hören (Kompositionen: Wolfgang Böhmer). Das allerflotteste freilich - sozusagen das Sahnehäubchen sind die wirklich witzigen Songtexte des kabarettistischen Super-Talents Tom van Hasselt (nebenbei bemerkt, er hat auch das hinreißende Alma-Mahler-Musical „Alma“ gedichtet; s. Spiral-Block 116 oder 173).

 

Klar, dass die vier phantasievoll wie im Weihnachtsmärchen von Jenny Dechene kostümierten Spieler noch in allerhand andere Tierhäute schlüpfen (etwa ein Marder, ein Biber, eine Katze), bevor sie die besagte Bluttat am braven Naturschützer aufklären. Der Täter wird hier freilich nicht verraten. Nur so viel: Er bekommt seine Strafe und endet als Verkehrstoter, der irgendwo zwischen Kreuzberg und Mitte unter die Räder klatscht. Sie gehören einem Bus der Linie M29.

 

Klar ist auch, dass es bei einem Musical nicht nur um Crime, sondern auch um Sex geht, um ein lustvolles Happy End einer Lovestory zwischen Fuchs und Hase, die sich nicht nur in aller Stille Gute Nacht sagen. Man staunt immer wieder, was da im kleinen BKA an erstklassiger Unterhaltungsware mit eigentlich bescheidenen Mitteln produziert wird. Da sollte sich so manch aufgeblasener, hoch subventionierter Staatsbetrieb der darstellenden Kunst eine dicke Scheibe abschneiden. Ich hab mich lange nicht so amüsiert wie hier. Mein schönster Auftakt zur neuen Theatersaison.

(wieder 2.-6. und 9.-13. November)

2. Renaissance-Theater - Betuliche Hirnauflösung

Ein Alzheimer-Stück, und es soll sogar komisch sein – da zuckt man erschrocken zurück. Und staunt. Der Autor Florian Zeller, 1979 in Paris geboren, hat einen internationalen Hit gelandet mit seinem Konversationsstück „Der Vater“ ; über Österreich (deutschsprachige Erstaufführung war in Hamburg) kam es via London bis zum Broadway mit Frank Langella in der Titelrolle.

 

Schön und pfiffig, dass sich jetzt das löblicherweise stets um Entdeckungen bemühte Renaissance-Theater diese Novität für Berlin gesichert hat; an Nachspielen sollte es nicht fehlen, gibt es doch eine dankbare Paraderolle für reife Charakterdarsteller. Hier ist es Walter Kreye als Vater André, ein pensionierter Ingenieur gut über 70, graumeliert, sportlich und noch fest im Fleische, wären da nicht die kleinen Löcher im Kopf, die unheimlicherweise langsam größer und größer werden. Wie immer in solchen Fällen, will der Betroffene die Verwirrungen und Verluste von Wirklichkeit zunächst nicht wahrhaben. Doch zunehmend dämmert es ihm, dass da im Hirn und schließlich auch im ganzen Körper immer mehr folgenschwer aus dem Ruder läuft. Kreye spielt das ganz nüchtern und bleibt selbst da noch unsentimental sarkastisch, als die entsetzliche Ahnung sich verfestigt, auf was für eine Tragödie er da unaufhaltsam zusteuert. Denn was anfangs noch situationskomisch sich darstellt (die Vergesslichkeiten, das Nichterkennen vertrauter Personen, die grotesken Überlagerungen von Realitäten mit Erinnerungen), das alles wird schließlich überwuchert von der Dramatik seiner fatalen Lage – ihr grauenvolles Ende spart der Autor freilich aus; wir alle wissen ja…

 

Der dramaturgische Trick des Autors ist, diese Zerfallsgeschichte mit den Kontakten des Vaters zur Tochter (Anna Thalbach) , ihrem Partner (Ingo Naujoks) sowie zum bestellten Pflegepersonal von Anfang an aus der Sicht des Kranken zu erzählen. Wir befinden uns quasi in Andrés Kopfkino – in 15 kurzen, schnell aufeinander folgenden Szenen. Einem uninformierten Zuschauer mag das sprunghafte Chaos im Hirn Andrés zunächst irritieren – ein Problem der arg betulichen Regie von Guntbert Warns. Die hätte das Irrlichternde, Flackernde im Kopf szenisch zu verdeutlichen.

 

Stattdessen wirkt das Set ganz „normal“ realistisch; das zunehmend Gespenstische, der wachsende Wahn, der das Stück regiert, bleibt unbelichtet und begrenzt auf Walter Kreyes Spiel. Da hilft auch Bühnenbildner Momme Röhrbeins ganz in Weiß getauchter Leer-Raum nicht weiter. Womöglich hätte eine raffinierte Lichtregie das Irrewerden optisch und nicht zuletzt stimmungsmäßig imaginiert. Und deutlich härtere Schnitte beim Wechsel der Szenen, die viel schneller, überrumpelnder hätten erfolgen sollen, womöglich gestützt durch beispielsweise Stroboskop-Effekte, die dann wohl den jeweils nervenden Zwischenbeifall verhindert hätten. So aber prägte dieser 90-Minuten-Abend (plus die den erforderlichen Sog arg störende Pause) eine gewisse Gemütlichkeit.

 

Trotzdem, auch wenn der Schrecken, das wachsende Entsetzen, die dräuende Tragödie eher vornehm angedeutet und ziemlich aseptisch blieben: Eine Beklemmung hakt sich fest. Eine Nachdenklichkeit über die schlimmen Schläge des Schicksals, die jeden treffen können.

(wieder 11.-14., 16. Oktober)

3. Schmökerecke - Auf den Bühnen des Zeitgeists mit einem wütenden Gerhard Stadelmaier, dem letzten Starkritiker der Branche

Er nannte Regisseure schließlich meist nur noch verachtungsvoll „Spielvögte“. Weil sie nur das auf die Bühne brächten, was ihnen just so durch die Rübe rauscht. Also nicht das, was die Autoren, sonderlich die klassischen, im Kopf hatten und zu Papier brachten. Ich rede von Gerhard Stadelmaier, inzwischen pensionierter Theaterkritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

 

Doch der aus Schwaben stammende Mann konnte auch lieben und anbeten: Beispielsweise die Regisseure Luc Bondy, Michael Grüber, Peter Stein oder Andrea Breth. Aber auch den radikalen Stücke-Eindampfer Michael Thalheimer goutierte er erstaunlicherweise. Ansonsten waren ihm die Stückezertrümmerer, Fremdtextverfüller, Postdramatiker und Performer ein Gräuel. Das waren ihm diejenigen, die das Theater abschaffen. Diese verhöhnte, ja bekämpfte GSt. nach allen Regeln der journalistisch-poetischen Kunst. Sein Markenzeichen war ein strenger, teils eben auch vorurteilsvoller, pauschal (ver)urteilender Konservatismus. Er hasste, und das immerhin meist zu Recht, den Performer-Zirkus, das Diskursgeplapper und Projektgemache. Viele neue Formen, darunter auch jene, die womöglich neue Horizonte erschließen und so neue Publikümer ansprechen, die tat er flink (und vorschnell) ab als Modegeschrei.

 

Andererseits feierte er auf den Knien seines für die „wahre“ Kunst lodernden Herzens das große schöne, hinreißend seligmachende, psychologisch-realistische Einfühlungs-Menschengeschichtentheater. In den höchsten und, ja das auch, den feinsten und seligsten Tönen. Er vermochte tiefer als viele seiner Kollegen in die Seele der Schauspieler und ins Geheimnisumwitterte ihres Könnens oder Fehlens zu schauen. Er wusste um das Wesen der Kunst.

 

Jetzt hat er, aus dem Ruhestand und aus der erinnernden Wut heraus, ein Pamphlet gegen die Verlotterung der Theaterkunst-Sitten geschrieben. Wuchtig schimpfend, wuchtig witzelnd. Eine Abrechnung. Brillante Polemik. Gern auch rechthaberisch. Es geht ihm gegen die „große Betrügerin Aktualität“, gegen das „Auskotzen der Gegenwärtigkeit“ und gegen die „Dealer des Augenblicks“. Und gegen die Versetzung der großen, himmlischen, höllischen Shakespeare-Figuren aufs Wohnküchensofa der Allerwelts-Hempels. Da schäumt es geistreich und böse und auch bitter in diesem mit „Regisseurstheater. Auf den Bühnen des Zeitgeists“ betitelten Abschiedsbüchlein eines lange Zeit die öffentliche Meinung dominierenden Theaterkritikers. Die Regisseure mit den egomanisch durchrauschten Rüben sind die Feinde des Stadelmaier-Theaters. Mittlerweile aber gibt es (das Internet!) keine Meinungsführerschaft mehr in diesem Gewerbe. Das Stadelmaier-Theater hat ausgespielt. Kritiker seins Schlag auch. Kann man als befreiend empfinden oder nicht. Stadelmaiers Abgesang auf seine Branche, auf seinen Beruf berührt und befremdet zugleich. Da stöhnt ein zärtlich und streng Liebender mit gebrochenem Herzen. Unsereins stöhnt gelegentlich – mit ihm aus vollem Herzen.

(Reihe zu Klampen Verlag, Springe, 2016, 136 Seiten,16 Euro)

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