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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 161

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

22. Februar 2016

Deutsches Theater


Monsieur Oscar hat die Nacht durchgesoffen. Und wie! Teufel Alkohol hat ihn in die Hölle geritten. Am nächsten Morgen weiß er nicht mehr, ob er noch dort ist oder schon im Himmel oder gar zu Hause auf Erden bei Weib und Kind. Identitäts- und also Realitätsverlust durch Drogenmissbrauch. In Oscars Brummschädel tobt ein Albtraum, der Panik auslöst, Mord und Totschlag – aber ach und Gottseidank: ein Albtraum nur. Eugène Labiches Vaudeville-Klassiker „Die Affäre Rue de Lourcine“ ist nicht wirklich eine Affäre, sondern bloß echte Sinnesverwirrung.

 

Der Franzose Labiche (1815-1888) warf in 45 Jahren 175 Stücke aufs Papier, also pro Jahr vier; ein Fließbandproduzent wie heutzutage TV-Serien-Schreiber. Obendrein engagierte er, so die Saga, ein Halbhundert Schreibgehilfen, die seiner Factory zuarbeiteten. „Die Affäre“ kam 1857 in Paris heraus. Weil die Labiche-Ergüsse so schön mechanisch funktionieren und obendrein Spießersatiren sind und dabei diverse Abgründe hinter der Gutbürgerlichkeit offenlegen und auch noch (für uns heutzutage) postmoderne Identitätskrisen beschreiben, werden die flutschenden Klipp-Klapp-Dinger gern gespielt. Von ambitionierten Regisseuren werden sie tiefen-philosophisch aufgemotzt, wofür man besonders gern die Übersetzungen respektabler Literaten wie Botho Strauß oder (wie bei der „Affäre“ ) Elfriede Jelinek nutzt (oder missbraucht).

 

Im Wiener Burgtheater machte sich unlängst Regisseurin Barbara Frey auf den Aberwitz-Trip in die Rue de Lourcine, jetzt im DT tat es Karin Henkel. In Wien ging’s plüschig-puppenlustig zu mit ein paar Ausrufungszeichen übergeordneten Entsetzens. In Berlin war man angestrengt artifiziell, also mit hohem technischem und auch spielerischem Aufwand bemüht, ein dem flutschenden Klipp-Klapp innovativ trotzendes, mithin betont bedächtig kreisendes Karussell des Surrealen vorzuführen. Damit selbst der Schläfrigste kapiere: Hier ist nichts wie es scheint. Hier ist alles fatale Einbildung und böser Witz, der sich nur allzu oft in Alberei entäußert, was wiederum die Regie für grotesk komisch hält.

 

Darüber hinaus lastet auf all dem blöden Getue und sich wiederholendem Gemache, das Absurdität annoncieren soll, Henkels äußerst hochmögender Regie-Anspruch, tief schürfende Meta-Ebenen aufzureißen. Ist aber trotz perfekt spielerischer Dressur (Michael Goldberg, Felix Goeser, Anita Vulescia, Christoph Franken, Wiebke Mollenhauer, Camill Jarmal) bloß langweilig. Deutlich langweiliger als weiland in Wien.

 

Um die Kirche im Dorf zu lassen: Die durchaus köstlichen Labiche-Petitessen voller durchtriebener oder bloß depperter Zombies entfalten ihren womöglich tieferen oder höheren Sinn im flotten Tempo quasi von selbst, nicht aber im angespannten Zelebrieren. 85 Minuten für die „Affäre“ sind 42,5 Minuten zu viel. Warum eigentlich nicht einen flotten Dreier aus den 145 Werkchen des pfiffigen Franzosen basteln? Das wäre das echt große Hallo geworden! Das hat man bislang noch nicht erlebt.

 

Nebenbei bemerkt (und aufgemerkt ihr Damen Frey und Henkel): Neulich brachte in Basel Martin Laberenz, der unlängst am DT Molières „Geizigen“ so originell wie virtuos zum Riesenspaß aufmischte, Labiches Bürgerschreck-Chose „Das Sparschwein“ (Übersetzung: Botho Strauß) in einer kreischend grellen Inszenierung heraus. In sage und schreibe zweihundert Minuten. Was ihm jedoch in seinem Basler Kammerspiel in dieser so unglaublich ellenlangen Zeit an aberwitzigster Theaterei einfiel, das verschlägt einem freilich das Meckern über Plattheit, Blödelei, Brüllerei. Zweihundert Minuten rasend artistisch und bis zum Über-Überlaufen vollzufüllen mit schäumender Spiel-Wut und moussierendem Spiel-Wahnsinn und alles ohne zu langweilen, das muss dem (genial) durch geknallten Show-Master erst mal jemand nachmachen. - Großer Jux nebst Tollerei. Und Meta-Ebenen kapiert das Publikum von selbst.

(Die Berliner „Affäre“ im DT wieder am 24. Februar und am 4. März)

Volksbühne

Eigentlich ist es ganz gnädig von Frank Castorf: Er macht schon nach fünf Stunden Punkt Mitternacht Schluss mit „Judith“, dabei hätte er uns durchaus ein paar Stündchen länger quälen können. Schließlich geht es ihm nicht nur ums Abarbeiten der 1840 von Friedrich Hebbel verfertigten Tragödie, in der die im hebräischen Bethulien lebende jungfräulich-aggressive Witwe Judith (ihr Gemahl war impotent) den babylonisch-heidnischen Ursupator Holofernes köpft, damit der assyrische Belagerer Bethuliens dessen Bewohner nicht massakrieren kann.

 

Hebbels alttestamentarischer Stoff im Kern handelnd von einem grauenvollen Geschlechterkampf und darüber hinaus von einem Zusammenprall zweier gegensätzlicher Kulturen (das Babylonisch-Heidnische vs. das Jüdisch-Monotheistische) – der ist für Castorf bloß Material unter anderen Materialien, mit denen er sein geliebtes Monumentaltheater vollstopft bis zur völligen Erschöpfung des Publikums und der Schauspieler. Vorbereitendes Ausruhen ist also angesagt für jedermann. Denn immerhin: Hebbels „Material“, das in dessen „Judith“ steckt, liefert für Castorf eine fulminante Stichwortsammlung für seine eher philosophische als theatralische Materialschlacht. Die dreht sich in ihrem Kern um die unmenschliche Seite des Menschseins, nämlich das ewige Morden nicht nur aus niederen, sondern vor allem aus wie auch immer formulierten höheren Beweggründen.

 

Also werden da irrwitzig collagiert und somit nicht unbedingt verständnisfördernd Themen umspielt wie antike Historie, die Grenzen der Aufklärung, die Einhegung des Amoralischen, die Entgrenzung der Moral, Materialismus und Transzendenz, die Sehnsucht nach Gott („Gott ist, was der Mensch aus ihm macht“) sowie die Lust auf Hölle, das Despotisch-Totalitäre im Orient, das Liberal-Totalitäre des Okzident, die entgegen gesetzten Leitbilder beider Welten beziehungsweise die beiden verführerischen Seiten der einen schön-schlimm schillernden Medaille. Anspruchsvollste Volkshochschule. - Es gibt also vor allem allerhand zu hören: Antonin Artauds Text „Heliogabal oder Der Anarchist auf dem Thron“, eine stramme Feier der Monomanisc-Rücksichtslosen, dazu „Der Hass“ von Jean Baudrillard und „Der Auftrag“ von Heiner Müller mit seiner hellsichtigen Beschwörung des Ansturms der Dritten Welt in die Erste, daneben Francois Ewalds abgründig radikale Feier des Bösen und natürlich die wortmächtigen Monologe von Hebbel. Das alles kommt ziemlich ununterscheidbar mal chorisch, dann wieder hysterisch heraus geschrien vom hohen Schreckens-Paar Birgit Minichmayr und Martin Wuttke, deren Sprechwerkzeuge in der dritten Vorstellung derart angegriffen waren, dass man große Mühe hatte, den ohnehin komplizierten Texten rein akustisch zu folgen. Allein die zarte Jasna Fritzi Bauer als Judiths Dienerin Mirza vermochte noch lauthals und verständlich zugleich zu brüllen. Soviel zum Hören.

 

Es gibt noch einiges zu Schauen: Wir sitzen auf einer Tribüne auf der Bühne und blicken in einen Höllenschlund: Der Zuschauersaal tiefschwarz ausgekleidet, oben Videowände für Postkartenaufnahmen vom antiken Palmyra und lustig wirkende Ausschnitte aus D.W. Griffiths archaischem Stummfilm „Judith von Bethulien“ oder für vom Chor absolvierte und backstage gefilmte Hippie-Gruppendiskussionen über Nation, Nationalismus, Hass, über freie Liebe, Dominanz und Demut, globale Kommunikation. Vor allem aber dient das Video-Screen den Großaufnahmen der imposanten Gesichter von Minichmayr / Wuttke, wenn beide vor uns versteckt im orange Baumarkt-Beduinenzelt ihre Texte von Hebbel & Kollegen ablassen. - Und: In des weiten Saales Mitte wuchtet sich eine Monumentalskulptur aus dunkelgrauen Säcken empor. Ein bedrohlich ruhendes Knäuel. Ein wabernder Berg zum gefährlichen drauf Herumklettern und drin Versinken gleichsam als unheimliche Metapher für den großen Haufen Dreck, aus dem die wüste Masse Menschheit besteht. Das hat was; ist ein starkes, ein bleibendes Bild.

 

Ansonsten bleibt im überstrapazierten Hirn das riesige Rauschen faszinierender Theorien sowie die bekannte Erkenntnis, dass es ein Elend sein kann (und ja meistens auch ist) mit unseren beiden existenziellen Triebkräften Liebe und Hass. Für diesen unser Dasein ungut beherrschenden Antagonismus fand Castorfs Dramaturg Carl Hegemann als Gleichnis den Schlachtruf, den er islamistischen Gotteskriegern abgelauscht hat: „Den Westen ficken!“.

 

Auch das hat was. Immerhin hasste Judith ihr Volk, weil es – aus Angst oder Vernunft – dem Befreiungskampf gegen die assyrischen Belagerer auswich. Dennoch rettete sie die Juden vor ihren Feinden, indem sie deren Boss abmurkste. Zugleich rettete sie sich selbst vor ihrer Gier auf den Potenz-Protz Holofernes. Ein politischer Mord, angestachelt von Privatem: von Hassliebe. Er ähnelt den Massenmorden an so genannten Gottlosen durch gegenwärtige Gotteskrieger. Ähnelt ihrem Hass, ihrer vermeintlichen Selbstverteidigung. Morgenland gegen Abendland; die Werte der einen gegen die der anderen. Wer eigentlich fickt da wen? Das ist die letzte Frage, die Frank Castorf – als verbissener Aufklärer und abgeklärter Nihilist zugleich mit seinem gigantischen Gedöns aus Old-Hebbel sowie Neudenkern von heute stellt.

(wieder am 24., 25. Februar; jeweils um 19 Uhr)

 

Gratulation

In gut einem Jahr ist aller Wahrscheinlichkeit nach Schluss mit der Castorfschen Schweißtreiberei (bleibt die Frage, ob sie uns dann doch fehlen wird). Endet doch im Sommer 2017 nach einem wahnsinnigen Vierteljahrhundert die Intendanz Frank Castorfs. Danach wird es derartige Mega-Sessions wohl kaum noch geben. Es sei denn, der große Zampano darf andernorts und ausnahmsweise noch derart aufwändige, enorm kostenintensive Zumutungen als spektakuläre Sensationen zelebrieren.

 

Zunächst aber wird ihm erst einmal, quasi als Abschiedspräsent seiner Heimatstadt, der „Große Kunstpreis Berlin“ der Akademie der Künste verliehen – als „Großkünstler vom Range eines Picasso für das Theater“, von dessen Werk eine Energie und Strahlkraft ausgehe, mit der sich jeder auseinandersetzen müsse. So heißt es in der spät, aber „aus vollem Herzen“ getanen und mit schroffem Imperativ versehenen Begründung der akademischen Jury, der die Schauspieler Constanze Becker und Ulrich Matthes sowie der Klassik-Sänger Christian Gerhaher angehören. Frankie for ever, trotzallem. Blümchen!

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