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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 153

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

29. Dezember 2015

Volksbühne

Acht Minuten vor Vorstellungsbeginn öffnet das - o lala! - cool gestylte Personal die Saaltüren (weißes Hemd, schwarzer Schlips, schwarzer Anzug plus erlesene jugendliche Volksbühnen-Höflichkeit). Da sollte man pünktlich zur Stelle sein, um einen der dreißig halbwegs bequemen Schalenstühle zu ergattern. Ansonsten darf man sich unter die 800 Leute mischen und auf dem nackten harten Plastik-Asphalt lagern, mit dem Volksbühnen-Miterfinder, Bühnenbildner und geheimer Motor des Betriebs Bert Neumann noch vor seinem frühen Tod im Sommer den Amphitheater-Saal ausgegossen hat, bevor Herr Castorf seinen unfreiwilligen Abgang haben und Mr. Dercon dieses singulären Theater, wie Pollesch sagt, schnurstracks zum „Cluster“ umwidmen wird.

 

Keinen Service also fürs Sitzfleisch. Allerhand Service aber von René Pollesch fürs Köpfchen. Mit seinem anregend pessimistischen Diskurs-Stück „Service / No Service“. Diesmal geht es nicht wie sonst so oft bei diesem eloquenten Autor um die hysterisch grundierte Selbstoptimierung des einzelnen für den Gewinn von Geld und Liebe oder um das antrainierte Maß an (oder die durchgeknallte Lust auf) Gefühlstechnik bei Schauspielern, um beim Publikum diverse Gefühlsausbrüche herzustellen. Solcherlei exzessiv durchexerzierte Gedankenspielchen über künstlerisch-menschliche Ver- und Entfremdungsprozesse sind mittlerweile bis zum Überdruss ausgereizt.

 

Diesmal also geht es mit immerhin biblischem Seitenblick um die Schöpfungsgeschichte, um den Weltgeist und noch dazu um die Kunst und den Künstler. Um nichts weniger als das philosophisch Große und Ganze – und die Verzweiflung daran. Wir begreifen unter allerhand komisch-witzigem Getriebe sowie allerhand albernem Trallala unter tapfer weggesteckten Tränen der Resignation: Den Viel- und Starschreiber Pollesch hat mit seinen 53 Jahren jenseits der Hälfte seines Lebens – die eisig kalte Ernüchterung, der elende Kunst- und Lebensüberdruss gepackt. Also die unvermeidlich letzte oder meinetwegen auch erste Frage: Wat soll det Janze? - Die Antwort fällt freilich aus. No Service!

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Da hat denn der liebe Gott Himmel und Erde, Tag und Nacht und all das Gegensätzliche, Dialektische, all die Zweiheit geschaffen. Was aber ist das Dazwischen, das Überallem oder Unterallem, fragt Kathrin Angerer als lieber Engel mit göttlichen Kulleraugen und irdisch verrotzter Stimme. Es ist der umtriebige, keinem dienenden, keinem gehörende Weltgeist; hier gemeint als Umschreibung für Kunst: Also das ewig kreisende, atemberaubend bohrende und fragende, das ewig ambivalente, doch leider auf nichts wirklich eine schlüssige Antwort habende Theater. No Service!

 

Schon schiebt Maximilian Brauer im grellgelben Supermann-Dress einen Thespiskarren erst zwischen das Publikum, dann auf den leeren Vorplatz, der die Bühne sein soll. Sein bescheidener Service: Eine Mini-Theatergeschichte im Schnelldurchlauf: Im Hintergrund ein knackig-kultischer Männerchor (die Antike in engen weißen Jeans), aus dem sich zum Dialog mit den Göttern das Individuum Angerer hervorschiebt, das mittlerweile nach Kant, Hegel, Marx den uralten Kontakt mit eben diesem ganz Oben verloren hat. Von allen guten Göttern verlassen trudelt es, das arme Individuum, vereinsamt durchs All wie Berlin. Wo also bleiben Trost, Sinn, das Schöne, die Liebe? Immer bloß: No Service! Und der Weltgeist, die Kunst, das Theater? No Service!

 

Aufbau, Zerstörung, Wiederaufbau – da steckte doch Hoffnung, da steckte Zukunft oder/und herrliche Utopie drin! Das freilich war zu Zeiten, als wir noch verkoppelt waren mit Oben, mit Gott, mit dem Weltgeist. Da nämlich durfte man noch glauben, die einzelne, die ureigene Stimme werde gehört und könne den Weltenlauf beeinflussen. Doch Weltveränderung durch Theorie und Kunst, das ist längst vorbei. Angel Angerers Ohnmacht; ihr und Polleschs und unser aller Pessimismus. Tja...

 

Regisseur René Pollesch garniert sein gewitztes philosophisch-ästhetisches Jonglieren mit letzten Fragen des Daseins und der Kunst mit unentwegt grummelnder, gelegentlich arg dramatisch aufrockender Wohlfühlmusik sowie mit neckischen Späßchen, die das reichlich Verkopfte gehörig auflockern sollen (Mini-Service). Zuweilen blubbert aber doch die Rederei über Entfremdungen des abendländischen Ichs von der Welt nur so für sich hin und zerbröselt. Passiert halt, wenn es immerzu und unbedingt „um alles“ gehen muss. Um den großen Service, den die Götter und auch die Künste uns nun längst nicht mehr bieten.

 

Fazit: Der Fortschritt besteht darin, endlich in der Lage zu sein, zu behaupten: Es gibt keinen Fortschritt. "Es gibt keine Hoffnung, sag' ich mal optimistisch", konstatiert mürrisch die Angerer... Bliebe höchstens noch das dicke Ding Liebe. Es sei aber verdammt schwer, jemanden zu finden, der nicht nervt, weiß Kathrin, unser erfahrenes flatterhaftes Engelchen ohne Flügel im schneeweißen, sexy hautengen Ganzkörperdress. Wer aber sollte und wollte bei ihrem fantastischen Anblick wohl den Lebensmut verlieren? Trotz des schmerzend harten Asphalts, unter dem, hahaha!, just eine Adonis-Statue gefunden wurde, das ersehnte Sinnbild des ewig Schönen, wie Angerer behauptet. Was für eine sinnstiftende Schimäre. Was für ein verrückter alter Pollesch-Traum im neuen Pollesch-Nihilismus. Ein echter Pollesch-Witz. – Ich fasse zusammen: Eine sarkastische 100-Minuten-Veranstaltung für Jedermann; ob im Schalenstuhl oder auf unbequemem Straßen-Asphalt, von dem wir ja alle kommen und zu dem wir alle einst wieder werden. Eine provokant apokalyptische Spaß-Show zum neuen Jahr. Oder ein ernster Silvester-Scherz.

Lesetipp für ein paar stille Stunden zwischen den Jahren -

Zwischen allen Stühlen: Brecht in der DDR

Bertolt Brecht ist einer der wohl berühmtesten West-Reimigranten, die sich bewusst für das so genannte „andere“ Deutschland entschieden, dort ausharrten und nicht, wie viele andere Berühmtheiten des Geistes und der Kunst, in den Westen trieben. Freilich, den West-Pass gab B.B. nie auf, aber eben auch nicht seine unermüdliche Mahnung (teils offen, meist aber intern), mehr Sozialismus zuzulassen und auf „die Weisheit des Volkes“ zu hören. Brecht war ein unermüdlicher Pragmatiker und, wenn es sein musste, ein durchtriebenes Schlitzohr (oder anders: ein Opportunist). Er war weder Staatsdiener noch Dissident, sondern hockte vielmehr zwischen allen Stühlen. Sehr früh schon, im Dezember 1945, beschrieb er seine unbequeme Lage so: „Die Mühen der Gebirge liegen hinter uns. / Vor uns liegen die Mühen der Ebenen.“ – Es könnte genauso gut heißen: Die Mühlen der Ebenen. Wäre er nicht so früh schon, am 14. August 1956, an seinem Herzleiden verstorben, womöglich hätten ihn diese Mühlen alsbald doch noch grausam zermahlen. Oder: Er wäre doch noch abgehauen.

 

Der großartige Brecht-Forscher und Brecht-Biograph Werner Hecht (just vor zehn Tagen feierte er seinen 89. Geburtstag), hat neulich im Aufbau-Verlag ein hoch spannendes, mit unveröffentlichten Dokumenten gespicktes Buch vorgelegt: „Die Mühen der Ebenen. Brecht und die DDR“. Auf 367 Seiten (29,90 Euro) werden noch einmal akribisch und doch übersichtlich zusammengefasst die elenden Mühen des Dichters, Denkers und Dramatikers ausgebreitet. Die schweren Kämpfe um das eigene (epische) Avantgarde-Theater, die ideologischen Schlachten gegen den politischen Apparat einschließlich seiner Zensur. Das ganze Dilemma also mit dem real existierenden Sozialismus. Er begriff sehr wohl, wie ihn die dogmatische Parteibürokratie sah, nämlich als „beleidigten Meckerer eines sich überschätzenden, stellungsuchenden Künstlers“. Trotzdem aber kamen die „Bereitstellung“ erst eines eigenen Ensembles und obendrein noch eines eigenen Theaters am Schiffbauerdamm (BE). Und dazu 1.125.000 Mark für laufende Ausgaben, 340.000 Mark für Extra-Ausgaben und 10.000 Dollar für Gastkünstler aus dem Westen. Immerhin: ein eigenes Haus! Weltweit ein spektakuläres Privileg. Damit einhergehend änderte die SED-Kulturbürokratie den Kurs: Keine offene Konfrontation mehr, die epochalen Auslandserfolge des BE wurden gelobt und als Erfolge der DDR-Kulturpolitik ausgegeben. Doch Zensur und Bevormundung tobten weiter hinter den Kulissen. Sonderlich nach Brechts Tod, als „die Partei“, als „der Staat“ das gigantische Brecht-Archiv an sich zu reißen suchte, schon, um die Publikation zu steuern, also Unliebsames zu tilgen und den Suhrkamp-Verlag auszubooten, der seit 1946 die Rechte „für Deutschland“ hält (Aufbau und Henschel hatten Lizenzverträge für die DDR).

 

Die DDR wollte unterm Dach der Akademie der Künste der DDR den in Privatbesitz der Erben befindlichen Brecht-Nachlass verstaatlichen – die „störrische Witwe“ (DDR-Jargon) Helene Weigel und nach ihrem Tod die bevollmächtigte Tochter Barbara Schall-Brecht widersetzten sich tapfer jedweder „feindlichen Übernahme“ der reichen Hinterlassenschaft des Großen Rauchers. Suhrkamp im Westen pochte auf die Veröffentlichung der Gesammelten Werke, Tagebücher und Journale, die DDR mauerte. Aber Weigel und Schall hielten unbeirrbar an dem weisen Grundsatz fest, im Westen (Suhrkamp) wie im Osten (Aufbau) nur gleichlautende Texte zur Veröffentlichung frei zu geben. Ein qualvolles Tauziehen. Denn für beide Verlage galt das Verdikt der Erben: Entweder komplett ohne Streichungen und Auslassungen oder eben gar nicht!

 

Die in der DDR auf höchster politischer Ebene ausgetragenen grausigen, grotesken und auch komischen Konflikte um das Entweder-Oder lesen sich wie ein Krimi, in dem Frau Helene, die „Prinzipalin“, und Frau Barbara und letztlich „der Papa“ triumphieren. Ein Sieg in schweren Zeiten. Die Weigel damals im Gespräch mit Hecht: „Sie haben‘s im großen und ganzen gelitten. Wir waren doch nicht ganz das, was sie wollten, aber sie wollten nicht verlieren, was sie an uns hatten.“

 

Mit dem Ende der DDR kam das Ende von Zensur und im großen und ganzen das Ende der politisch-ideologischen Vereinnahmung Brechts. Doch bis zu ihrem Tod im August dieses Jahres betrieb die alte Kämpferin Barbara als vermeintliche Gralshüterin der Brecht-Dramatik Zensur im zeitgenössischen Regie-Betrieb. Anfangs drehten sich die oftmals bösen Kräche eher um Abweichungen von Brechts Inszenierungsmustern, zuletzt eher um das Auffüllen seiner Stücke mit Texten oder/und Szenen fremder Autoren. Das jüngste Beispiel dafür: Frank Castorfs „Baal“-Bearbeitung in München; nach der Premiere im Frühjahr 2015 verboten; angeblich wegen des Einschmuggelns (am Verlag vorbei) von Wortmengen, die nicht aus Papas Schreibstube stammten. Dabei sagte der schon 1955, es war kurz vor Weihnachten, auch im Theater müsse „das Prinzip der Entwicklung“ angewandt werden. Und ein Vierteljahrhundert früher schrieb er, der notorische Dialektiker ausgerechnet mit Blick auf Lenin: „Er dachte in anderen Köpfen, und auch in seinem Kopf dachten andere. Das ist das richtige Denken.“ – Die womöglich gar nicht nur unrühmliche Geschichte der Lizenzverweigerung an Regisseure sagen wir seit 70 Jahren durch die Fa. Brecht stiftet genug Material für ein dickes Buch, das nur noch zu schreiben wäre…

Wäre noch zu sagen: Allen meinen lieben Lesern ein brechtig-prächtiges „Prosit Neujahr!“ – Vielleicht mit Bier, das Brecht, der Augsburger, so überaus liebte. Aber eben nur das aus Bayern – gab es natürlich nicht in der DDR. Und weil ihm das aus Berlin überhaupt nicht schmeckte, bestellte er - sein Kompromiss - bei den Genossen des DDR-Großhandels in der Berliner Brunnenstraße 188 monatlich zwei Kästen des ansonsten im Osten so raren Radeberger Export-Biers. -- Die Sachsen nach Brecht zumindest beim Bier auf Augenhöhe mit Bayern.

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