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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 137

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

7. September 2015

Deutsches Theater


In erhabener Langsamkeit hebt sich – ansonsten selten zu bestaunen der dunkelrote, geheimnisumwölkte Samtvorhang. Das Halbrund der Bühne im fahlen Dämmer. In der Mitte ein riesiger, aus rohen Brettern zusammengenagelter Kubus. Davor ein Mann und eine Frau, fast nackt, sich aneinander reibend, die Leiber dick verschmiert mit Lehm. Ein einsames Paar wie Adam und Eva, entrückt einander hingegeben, dann zunehmend heftiger gestört von einem Haufen, der immer aggressiver wird, nervöser, hektischer. Alles Lehmlinge wie die beiden selbst, mit glasigen Augen und gespenstig roten Mündern. Schließlich fängt die Horde an zu toben, hetzt wie wild und verzweifelt im Kreis um den hölzernen Verschlag, schleppt Aktentaschen mit sich und auch Einkaufstüten von heutzutage, mimt gestikulierend Aufruhr oder Zusammenbruch. Letztlich fällt der Trupp chaotischer Erdlinge in kollektiven Dauerzwist. Dann stöhnt es qualvoll „O Gott!“. Einer bekommt den Hut mit anverlehmten Schläfenlocken auf den Kopf, und „Nathan der Weise“ beginnt, das edel aufklärerische Traumstück vom großen Frieden unter Christen, Juden, Moslems des protestantischen Theologen Lessing aus Sachsen. Als Ouvertüre diesmal eine aus menschheitlich-mythischem Urschlamm quellende zivilgeschichtliche Pantomime freilich fatalistischer Grundierung: Menschenvernunft seit jeher und wohl in alle Ewigkeit verklebt vom Ekel-Steinzeit-Lehm.

 

Das Programmhaft liefert das Stichwort dazu aus dem Buch Genesis: „Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden.“ Dieses Bibelzitat nimmt Regisseur Andreas Kriegenburg kühn zum Konzept für seine Inszenierung von Lessings so eindringlicher Fantasie, dass Toleranz, also Vernunft, ideologische (religiöse) Gräben zu überwinden imstande sei.

 

Diese offensichtlich extreme Regie-Idee befreit das Stück von seiner lokalen und zeitlichen Einbindung ins Jerusalem der Kreuzritterzeit des 12. Jahrhunderts und bewahrt es, und das besonders, vor jeglicher (naheliegender) tagespolitischer Vereinnahmung („das Stück der Stunde“). Lessings immergrüne Utopie von der Menschheits-Versöhnung (er sah sie ja selbst skeptisch) vermag hier in ihrer ganzen poetischen Herrlichkeit besonders wundersam und hell zu strahlen. Weil sie durch Kriegenburgs mutig originäre Lesart von einer dunklen, lehmig verpuppten Urhorde – mit Kubricks Weltraum-Odyssee im Hinterkopf – in einer ertüftelten Fantasy-Steinzeit plebejisch-komödiantisch vorgeführt wird.

 

Gotthold Ephraim Lessings „Dramatisches Gedicht“ von 1779, ein hinsichtlich Sprache und dramaturgischem Konstrukt raffiniert artifizielles Kunstwerk, mithin eine reine Abstraktion, wird also eingebettet in die ebenso raffinierte Abstraktion einer imaginären, biblisch hergeleiteten Archaik. Das mag verkopft klingen, wird aber von der Regie sowie den sprechtechnisch wie gestisch großartigen sechs Schauspielern lässig locker bis hin zu Klamauk und Klamotte lustvoll durchexerziert (Elias Arens, Nina Gummich, Bernd Moss, Julia Nachtmann, Jörg Pose, Natali Seelig). Dabei kommt weder der Ernst im Glaubens-Clinch zu kurz noch die Komik der vertrackt amourösen und familiären Angelegenheiten. Lessings Hohelied als saftiges Volkstheater. Eine vielleicht verrückte, aber tollkühne Idee...

 

Eine theatralische Seltenheit, wie hier diese an Comics und Knetfiguren aus Animationsfilmen erinnernden Lessing-Figuren der Menschheit Dauer-Elend im ewig haftenden Steinzeit-Urschlamm, wie sie ihr frivoles Suhlen darin und ihre rührende, zuweilen streng pathetisch formulierte Sehnsucht nach Reinheit und Schönheit hinreißend aufzeigen – ohne Lessing je mit Lehm zu verkleistern. Denn immerhin gilt: noch immer ist Steinzeit - "der Jude wird verbrannt", und nicht nur der. Und dazwischen in erschütternder Klarheit: die Ringparabel (Jörg Pose!) als unvergesslicher Gänsehautmoment.

 

Da haben wir das so inständig gewünschte Theater, das im gern geschmähten Guckkasten mit seinen auf provozierende Weise zur Schau gestellten Mitteln dem Autor keck und demütig zugleich dient. Mit allein sechs Spielern, die wechselseitig in alle „Nathan“-Rollentypen schlüpfen.

 

Da haben wir starkes Schauspielertheater, artifiziell verfremdet und dennoch das Publikum packend am Hirn und am Herzen (zur zweiten Vorstellung: standing ovationes). Mit einer so tollen wie simplen Bretterbude auf der Bühne, die aufklappbar Räume (Hütte, Palast, Welt) imaginiert und Szenen gliedert (sensationell: Bühnenbildner Harald Thor, die unterm braunen Schmand geschickt skizzierten Kostüme kommen von Andrea Schaad).

 

So ballert es also ungeniert los, das Theater, das unglaublich erstaunt, mit befremdlichster Fantasie überrumpelt und dabei ohne Zeigefingerei Gegenwärtigkeit souffliert. Das selbst im kabarettistischen Kalauer noch philosophiert. Und alles leichthin in lapidarer Unverkrampftheit Stummfilm-Grotesken oder Chaplinaden grüßen heftig.

 

Am Ende können wir lachen über das grauenvoll-irrwitzige Matsch-Match, trotzallem. - „Allseitige Umarmung“, so Lessings finale Regieanweisung, nachdem aller Zwist sich in göttlich-irdisch-familiäres Wohlgefallen auflöste. Kicherndes Befremden unter den marionettenhaften Schlammlingen. Ein großer Witz das alles, eine verrückte Komödie. Mit klirrender Musik wie aus der Spieldose. Und eine Tragödie, was sonst.

Schlosspark Theater

Der große Meister, frisch und froh, wie der Mops im Paletot, empfängt sein Publikum blendend gelaunt und braungebrannt vom Frankreich-Urlaub auf eigener Atlantik-Insel an der Pforte mit Gruß und Gläschen – Gratulation zum 80., Herr Theaterdirektor Dieter Hallervorden!

 

Ja, stolz kann er sein: Er hat die einst arg herunter gekommene Steglitzer Hütte mutig an sich gerissen und mit allerhand Knete aus der Privatschatulle (nebst erquicklicher städtischer Beihilfe) ordentlich aufgerüstet und denkmalpflegerisch korrekt aufgehübscht und mit einem höchst beachtlichen Programm-Mix gefüllt, der beileibe nicht nur unter „Boulevard“ firmiert. Ein übrigens fataler Begriff. Schließlich gibt es nur ganz gutes bis ganz schlechtes Theater – andere Begrifflichkeiten sind, ums mit Fontane zu sagen, Mumpitz. Und meist ist es gutes, zuweilen sogar sehr gutes Theater, das Dieter Hallervorden in seinem Haus machen lässt. Und dabei gelegentlich auf der Bühne mittut. Wobei immer wieder zu beobachten war: Dieser Künstler ist längst nicht nur TV-Ulknudel im Star-Status, er hat vielmehr äußerst überzeugend das komplette Zeug zum Charakterspieler. Mit enormer Bühnenpräsenz, für die er sich freilich erst und ziemlich spät ein eigenes Theater herrichten musste. Eine gute Tat für ihn selbst und für Berlin.

 

Zurück zum kühlen Weißwein an der heißen Pforte. Denn just zum runden Wiegenfeste des Intendanten gibt es eine – was sonst! – Premiere: Peter Shaffers Klassiker von 1979 „Amadeus“, der vier Jahre später, von Milos Forman verfilmt, ein Hollywood-Welthit wurde. Jetzt also der bitter-komisch kriminalistisch-philosophische Clinch zwischen dem Wiener Hofkomponisten Salieri und dem Weltklassekomponisten Mozart, dessen globaler Ruhm freilich erst post mortem ins Weltall aufstieg.

 

Ein herrlicher Abend, wenn auch gegen Ende ein ganz klein wenig länglich. War dennoch nicht langweilig! Sondern alles in allem beherzt und frisch, gewitzt und trefflich. Das garantierte Dreierlei: Ein starkes Casting (Salieri: Marko Pustisek; Mozart: Johann Fohl; Constanze Mozart: Katharina Schlothauer); ein so präziser wie fantasievoller Regisseur (meine Verehrung: Thomas Schendel) sowie ein raffiniert bewegliches, effektvoll filmisch gestütztes Bühnenbild, das die großartige Daria Kornysheva baute, die auch die pittoresken Kostüme entwarf. Und so feiern wir einen amüsanten, teils nachdenklich machenden und in gewissen, mozartisch-musikalisch untermalten Momenten, zu Herzen gehenden Abend. – Womöglich für einige der Anlass, endlich mal wieder in die Oper zu stürzen. Zu Mozarts so drastisch-irdischen Dramen mit der überirdischen, schier himmlischen Musik. Sie zählen immerhin zum Größten, ja Allergrößten, was das musizierende Theater aufzubieten hat. So gesehen ist dieser Abend – bei allem Weh und Ach um das Genie – auch ein hingebungsvoller Kniefall vor Wolfgang Amadé. Und also ganz im Sinn von Peter Shaffer, Dieter Hallervorden sowie uns allen.

Schinkelhalle Potsdam

Georg Anton Benda war Mozarts erklärter Liebling „unter den lutherischen Kapellmeistern“. Dessen „Ariadne auf Naxos“ lobte er als „fürwahr vortrefflich“. Jetzt nahm sich das in Potsdam ansässige, hoch professionelle Ensemble für mobiles Musiktheater „I Confidenti“ dieser 1775 entstandenen und in die seinerzeit modische Form des Melodrams gegossene Bendaschen Adaption des antiken Ariadne-Mythos an (die wohl populärste stammt von Strauss/Hofmannsthal): Ariadne als hingebungsvoll liebende Frau, die von ihrem Geliebten Theseus verlassen wird und mit Bacchus überraschend hineinrauscht ins neue Glück.

 

Diese trotz komischer Einschübe herzwehe „Ariadne“ ist eine ziemlich vergessene kleine musikalische Kostbarkeit, die den einigermaßen schlichten Text von Johann Christian Brandes untermalt und kommentiert und mit kompositorischer Raffinesse, die schon den Salzburger Großmeister so schwer beeindruckte, veredelt. Das macht das Confidenti-Streichquartett unter Wolfgang Hasleder hinreißend hörbar, derweil Regisseur Jürgen Hintze auf dem von Christine Jaschinsky apart minimalistisch ausgestatteten Spielpodest mit den beiden Protagonisten Alexandra Broneske und Michael Günther ein elegant preziöses Kammerspiel arrangiert. Alles genregemäß artifiziell, aber eindringlich, seltsam, schön.

(Noch einmal am 12.9. um 19 Uhr und am 13.9. um 16 Uhr im Potsdamer Quartier Schiffbauergasse in der herrlich klassizistischen Schinkelhalle.)

Shakespeare Company Berlin

Als „verwunschenster“, als „hidden“ Park gilt, so die weltläufig zweisprachige Annonce, der Natur-Park Schöneberger Südgelände, der seit langem aufgelöste und renaturierte Rangierbahnhof Tempelhof aus der Dampflok-Ära der Deutschen Reichsbahn; S-Bahn-Station Priesterweg. Alles sehr idyllisch! Hier spielt das vor Ort beheimatete Off-Theater „Shakespeare Company“ in seiner hölzernen Globe-Theatre-Arena und bei Schlechtwetter in einer geziegelten ehemaligen Reichsbahn-Werkstatt. Noch einmal gibt es am 11./12. September, Beginn 19 Uhr, je nach Wetter draußen oder drin Williams „Wintermärchen“.

 

Die Company ist bekannt (und auch schon berühmt) für innovative, freche und zum Autor passend deftige Zugriffe auf dessen Werke. Macht fast immer ganz großen Spaß. Jetzt also im beginnenden Herbst noch einmal das eher selten gespielte „Wintermärchen“, eine tief schwarze Geschichte über einen König, der in eifersüchtigem Wahn sowie gleichermaßen aus Macht-Allherrlichkeit sein seliges Familienglück brutal zerstört. Eine höchst befremdliche Story, die uns aber auch warnen will vor hormongesteuertem Irrsinn. Annonciert wird sie als „komödiantische Romanze mit Musik“. Unter der delikat zarten Regie von Christian Leonhard (zugleich der nicht übertrieben innovative Neu-Übersetzer) kommt die grauenvolle Sache leise und schüchtern poetisch auf die Bretter. Freilich, es gibt auch hier einige komisch-komödiantische Einsprengsel. Doch das gepflegt Deklamatorische behält die Oberhand. Der Vorteil: Man kann sich aufs Sprachliche mit seinen schönen Weisheiten konzentrieren. Die entsetzlichen Abgründe bleiben höchstens angespielt. Ein leiser, ein zaghafter Märchenabend.

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