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Kulturvolk Magazin

Kulturvolk Blog Nr. 104

Kulturvolk Blog | Reinhard Wengierek

von Reinhard Wengierek

10. November 2014

Volksbühne


Beginn Samstag 19.00 Uhr, Ende Sonntag Schlag 01.00 Uhr. Sechs Stunden einschließlich 20 Minuten Pause Frank Castorf. Wow!! Das dürfte sein persönlicher Rekord sein, mal abgesehen vom „Ring“ in Bayreuth. In meiner Erinnerung dauerte, lang ist's her, höchstens Einar Schleefs politisch-fantastische, durch und durch grandiose Jelinek-Adaption „Ein Sportstück“ im Wiener Burgtheater ein paar Minütchen länger.

 

Durch und durch grandios ist Castorfs Anverwandlung des Malaparte-Romans „Kaputt“ nun nicht, doch gelangweilt habe ich mich auch nicht. Das liegt schon an der Brisanz der verhandelten Themen, an der Sprachmacht des Autors, an diversen ästhetischen Finessen der Regie. Und am körperlichen Großeinsatz des ganze Textlawinen intus habenden Ensembles zu Wasser und zu Lande zwischen den Klippen, Ruinen und Massengräbern des alten Europas auf der sich drehenden Bühne immer hart an Unfällen vorbei, von denen es im Probenzeitraum prompt welche gab, weshalb die Premiere (Uraufführung) eine Woche verschoben werden musste.

 

Freilich, Sitzfleisch braucht man schon für derartige XXXL-Veranstaltungen; aber ich hatte Glück, gegen 23.00 Uhr, als sich die Reihen allmählich lichteten, gab es um mich herum allerhand Leerplätze zum wohligen Ausstrecken der Glieder mitten in der Nacht.

 

Der Deutschitaliener Kurt Erich Suckert alias Curzio Malaparte (1898-1957) war eine im Geistigen, Politischen, Künstlerischen und Sexuellen äußerst schillernde Figur – als Futurist, Romantiker, Expressionist, Mussolini-Anhänger, Kommunist, Maoist, Diplomat, schwuler Dandy, freiwilliger Kriegsteilnehmer WKI, Kriegsberichterstatter WKII. Und Malaparte, ein hoch Gebildeter, war Starautor, sein 1944 erschienener Roman „Kaputt“, basierend auf seinen literarischen Reportagen sowohl von der Kriegsfront als auch dahinter (in den Zirkeln der faschistischen Machteliten), wurde ein Weltbestseller (wie später sein Roman "Die Haut"). Das sonderlich Faszinierende an diesem exotischen Exzentriker sind die weit ausholenden Assoziationen und philosophischen Exkurse ins Existenzielle, Menschheitliche, Zivilisationskritische. "Kaputt" kreist um Religiosität (das Christentum, der Opfertod Jesu), um Barbarei, Überlebensgier und -not, um Angst und Trieb, um Macht, Ohnmacht, Mitleid, um Unschuld und Verderbnis. Es geht um die auf Gewalt bauenden gesellschaftlichen Systeme, um Visionen des kollektiven Zusammenlebens, ums Großartige wie Entsetzliche des Deutschen, ums Konstruktive wie Destruktive von Ideologien aller (sonderlich faschistoider) Arten sowie um die verheerenden Abstürze in die abendländischen Orgien der Massenmorde und Vernichtungskriege. Ein so brisantes wie riesiges Spektrum; äußerst akut bis heutzutage. Dafür sind sechs Stunden Theater, möchte man meinen, durchaus angemessen. Und so heißt es denn auch im korrekten Titelverweis: „Kaputt – Tour de force européenne nach Malaparte von Frank Castorf“.

 

Dieser Ritt durchs alte Europa gleicht allerdings über weite Strecken einer Séance, die, das liegt in der Natur der Sache, nur bedingt fasslich bleibt. Allerdings mit dem Diskurs ums Christenkreuz, den Erzählungen von Pogromen, mit den Berichten übers Warschauer Ghetto, da gelingen Castorf tief unter die Haut gehende Momente. Und Szenen wie aus den Hauptquartieren der NS-Macht steigern sich in irre Komik. Super gekonnt! Dann wieder fällt die fein mit Witz und Selbstironie getönte Inszenierung aus solchen konzentriert atemberaubenden Aufgipfelungen in Niederungen voller Gewusel und Gelaber oder bloß schlicht vorgetragener Romanpassagen. Wäre da nicht der (sagen wir: 90-prozentige) Einsatz von Videotechnik mit seinen stets faszinierenden Bildqualitäten (gestützt von einem perfekten, stilsicher gemixten Soundtrack), die Inszenierung wäre streckenweise arg platt gewesen oder gar abgestürzt ins gänzlich Banale. Man könnte ordinär praktisch gedacht raten, eine Strichfassung zu machen. In vier Stunden wäre wohl auch alles Wesentliche gesagt und gespielt.

 

Und so gilt auch diesmal wieder: Eine Castorf-Produktion für Kenner und Liebhaber der Materie, eine Show für Freaks, ein mit Unvergesslichkeiten durchsetztes Erlebnis für Leute mit Lust und Gefühl und Muße, sich einzulassen auf diese Tour de force aus packender Intensitiät, tollsten Finessen und gelassen länglich vor sich hin trudelndem oder hysterisch aufgeschäumtem Leerlauf, der womöglich aber auch apart privatistische Spielerei des Regisseurs sein könnte, bei der wir unverschämterweise außen vor gelassen werden. Da bleibt der sympathisch rotzlöffelfreche oder eben nervend arrogante Castorf ganz cool.

 

Überhaupt nicht cool jedoch ist der altersweise, aber wohl auch immer schwerer zu tröstende (oder längst untröstliche?) Künstler bei seinen immer wieder und wieder mit geradezu kindlichem Entsetzen in die Welt geschrieenen Schmerzen über der Menschen ewig ungeheuerliches Elend, über ihr wohl unheilbar Barbarisches samt der in ihnen dräuenden Wucht zum vernichtenden Um-sich-Schlagen. Und dazu die vergebliche Frage nach dem Mitleid. Das rührte mich doch ziemlich. Das hatte schon was von Vermächtnis. Das war groß. (wieder am 22. November)

Gratulation!

Am Samstag wurden in der Hamburgischen Staatsoper die Gewinner des diesjährigen „Faust“-Theaterpreises gekürt. Wir gratulieren der Berlinerin Dagmar Manzel, dem Choreographen Christoph Winkler vom Ballhaus Ost und dem Volksbühnen-Bühnenbildner Aleksandar Denic. Und hier die komplette Liste:

 

Regie Schauspiel

 

Preisträger: Johan Simons, „Dantons Tod“, Münchner Kammerspiele

 

Darstellerin / Darsteller Schauspiel

 

Preisträgerin: Dagmar Manzel, Sie in „Gift“, Deutsches Theater Berlin

 

Regie Musiktheater

 

Preisträgerin: Sandra Leupold, „Don Carlo“, Theater Lübeck

 

Sängerdarstellerin / Sängerdarsteller Musiktheater

 

Preisträgerin: Evelyn Herlitzius, Elektra in „Elektra“, Sächsische Staatsoper Dresden

 

Choreografie

 

Preisträger: Christoph Winkler, „Das wahre Gesicht Dance is not enough“, Ballhaus Ost Berlin

 

Darstellerin / Darsteller Tanz

 

Preisträgerin: Bruna Andrade in „Der Fall M.“ und „Spiegelgleichnis“ im Rahmen des Ballettabends „Mythos“, Staatsballett Karlsruhe

 

Regie Kinder- und Jugendtheater

 

Preisträgerin: Andrea Gronemeyer, „Tanz Trommel“, Schnawwl / Kevin O’Day Ballett Nationaltheater Mannheim

 

Bühne /Kostüm

 

Preisträger: Aleksandar Denic, Wagner „Der Ringe des Nibelungen“; Bayreuther Festspiele

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